9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Reihe furchtbarer Fehlentscheidungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2022. Nur zwei Themen heute. Mahsa Amini und der Krieg gegen die Ukraine, nach der Mobilisierung in Russland. In der taz attackiert Masih Alinejad westliche Politikerinnen, die sich im Iran mit Kopftuch zeigten, auch Claudia Roth. In der SZ beschreibt Shida Bazyar das "systemlose System" de Zwangs, das den Frauen im Iran auferlegt ist. In Foreign Affairs resümiert Lawrence Freedman Wladimir Putins komplettes Versagen. Die Mobilisierung wird am Kriegsgeschehen wenig ändern, meint Stefan Kornelius im Leitartikel der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.09.2022 finden Sie hier

Politik

"Keine der Politikerinnen weltweit hat dieses Problem bisher ernst genommen", sagt eine zornige Masih Alinejad Gespräch mit Lisa Schneider von der taz nach dem gewaltsamen Tod Mahsa Aminis wegens eines zu lockeren Kopftuchs. "Ich wusste, dass das Regime eines Tages Menschen wegen des Hidschabs töten wird... 2014 forderte ich Politikerinnen auf: Wenn ihr nach Iran reist und diesen barbarischen Gesetzen folgt und einen Hidschab tragt, bedeutet das, dass ihr unsere Unterdrücker legitimiert, noch mehr Druck auf uns auszuüben. Nach dem brutalen Tod von Mahsa gebe ich nicht nur der Islamischen Republik die Schuld, sondern auch allen Politikerinnen, die den Hidschab in Iran getragen haben. Zum Beispiel Claudia Roth von den Grünen: Als ich sie fragte, warum sie sich dem beuge, antwortete sie, es gebe so viele größere Probleme, die wir lösen müssten. Größer als Mahsas Leben?"

Ronya Othmann schreibt in ihrer FAS-Kolumne einen Brief an Amini: "Vielleicht muss man nur dieses eine Video sehen, von deiner Mutter an deinem Grab, um eine Ahnung zu bekommen, welche Kluft deine Ermordung in das Leben deiner Liebsten reißt. Welche Zerstörung Diktaturen, in diesem Fall die Islamische Republik, der Gottesstaat, Terrorstaat, Staat von Mördern und Verbrechern, im Leben Einzelner anrichten."

Die deutsche Schriftstellerin iranischer Herkunft Shida Bazyar schreibt in der SZ einen Brief an die tote Jina (so ihr kurdischer Vorname) Amini und erinnert daran, wie iranische Frauen seit Jahren um jeden Zentimeter Kopffreiheit kämpfen: "Viele Jahre wurden diese Lockerungen von der sogenannten Sittenpolizei in Wellen geduldet und in Wellen sanktioniert, es schien kein System zu geben, entweder du hast Glück oder du hast Pech. Ein systemloses System ist ein Mittel, die Unterdrückung zu perfektionieren, denn die Angst wird auf diese Art schnell die Überhand gewinnen und jeden zum Gehorsam zwingen, jegliche Sicherheit fehlt."

Säuberungen in der chinesischen KP. Xi Jinping lässt Provinzfunktionäre wegen Korruption zum Tode verurteilen, berichtet FAZ-Korrespondentin Friederike Böge: "Die Gerichtsprozesse in dieser Woche sollen wohl auch noch einmal daran erinnern, wie sehr die Partei von Korruption und Vetternwirtschaft zerfressen war, als Xi Jinping an ihre Spitze trat. Seine Antikorruptionskampagne sicherte ihm in der Bevölkerung Zustimmung und zugleich die Möglichkeit, potenzielle Rivalen aus dem Weg zu räumen und Positionen für eigene Vertraute frei zu machen. In den Politprozessen geht es niemals nur um Korruption, sondern auch um mangelnde Loyalität und Linientreue."
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Europa

Widerstand werden die Russen kaum leisten. Auch die meisten Reservisten werden sich nicht widersetzen, ist Inna Hartwich in der taz überzeugt: "Denn diese Optionen würden von den Reservist*innen samt ihren Familien viel Furchtlosigkeit abverlangen. Menschen, die jahrzehntelang politisch demobilisiert worden sind, die mit dem Glaubenssatz 'Steck deinen Kopf nicht raus' aufgewachsen sind, werden sich nicht schnell gegen einen Staat aufbäumen, der mit seinen repressiven Instrumenten bestens funktioniert. Eine Wahl zu haben und eine Wahl treffen zu können, ist ein Privileg." New-York-Tmes-Reporter Anton Troianovski berichtet allerdings über Widerstand gegen die Mobilisierung ausgerechnet in den abgelegeneren Regionen des russischen Reichs, die bisher das Kanonenfutter lieferten.


Die Mobilisierung wird am Kriegsgeschehen wenig ändern, meint Stefan Kornelius im Leitartikel der SZ, aber der politische Preis wird immer höher, "weil Putin den Krieg immer mehr mit dem Überleben der russischen Nation, dem existenziellen Charakter des Kampfes gegen das faschistische Böse verknüpfen muss". Sonja Zekri plädiert in einem etwas mäandernden ganzseitigen SZ-Feuilletonessay gegen Essenzialisierungen Russlands und für Olaf Scholz' Vorsicht. Sie ist auch dafür, russische Mobiliserungsverweigerer aufzunehmen: "Aus welchem Reservoir soll denn eines glücklichen Tages ein besseres, nachputinistisches Russland schöpfen?"

Militärhistoriker Lawrence Freedman beschreibt in Foreign Affairs, wie sich Putin komplett ins Abseits manövrierte: "Putins ständige Lügen und Ausflüchte untergruben seine Glaubwürdigkeit gegenüber internationalen Gesprächspartnern wie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Ebenso wichtig ist, dass er nie einen Weg fand, selbst greifbare Zugeständnisse zu machen, denn weniger zu akzeptieren, als er ursprünglich gefordert hatte, wäre eine Art Eingeständnis der Niederlage." Freedmans Resümee ist vernichtend: "Jene Stimmen, die sich Sorgen über Putins nächste Schritte machen, sagen immer wieder, dass er nicht verlieren kann. Doch, er kann. Eine Reihe furchtbarer Fehlentscheidungen hat dazu geführt, dass er die internationale Position Russlands und seine wirtschaftlichen Aussichten untergraben, den Ruf der Russischen Föderation als ernstzunehmende Militärmacht erschüttert und beim wichtigsten Spiel seiner Karriere versagt hat." Auch der Spiegel beschwört in seinem Titel "Putins gefährliche Schwäche", mehr hier.

Für den Historiker Serhii Plokhy, mit dem sich Jens Uthoff für die taz über sein Buch "Das Tor Europas - Die Geschichte der Ukraine" unterhält, liegen die Fehler, die der Westen gegenüber Russland und der Ukraine machte, weiter zurück als 2014: "Das Budapester Memorandum von 1994 war ein großer Fehler. Damals wurde beschlossen, Atomwaffen aus der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan zu beseitigen. Es gab gute Gründe dafür. Doch der Gedanke dahinter war, es sei besser, wenn sie unter russischer Kontrolle wären. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als Russland bereits Ansprüche auf die Krim erhob. In der Folge entstand ein riesiges Sicherheitsvakuum in Mitteleuropa - den Preis zahlen jetzt die Ukrainer. Deutschland dagegen versuchte Russland in jüngerer Zeit mithilfe von Handelsbeziehungen zu befrieden - die Idee von 'Wandel durch Handel' ist jedoch im 20. Jahrhundert mehr als einmal gescheitert."

Es wird keinen Marsch auf Rom geben, weil die rechten Populisten und Faschisten schon in Rom sind, schreibt Ambros Waibel unter Bezug auf den Autor Antonio Scurati in einem taz-Essay vor den italienischen Wahlen (so auch Michael Braun in einem zweiten Artikel). Die Linke überzeugt ihn aber auch nicht: "Es gehörte .. schon immer zu den Eigenheiten der italienischen Linken, sich weniger mit den Opfern der Mafia zu Hause als mit dem Leid etwa der Palästinenser zu beschäftigen. Spricht man mit solch klassischen Revolutionären, so geht es meist nicht unter einem ausführlichen, einleitenden Gramsci-Zitat. Bevor es irgendwie konkret werden könnte, ist man schon entnervt und geht erst mal zusammen einen Espresso trinken - was dann meist erstaunlich nett ist."

Zwanzig Jahre ist Erdogan an der Macht. Und nun ist er in eine Sackgasse geraten, weil's wirtschaftlich nicht läuft, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Nicht mal mit Religion funktioniert es noch richtig! "Eine AKP-regierte Kommune schenkte Kindern Fahrräder, wenn sie vierzig Tage lang die Moschee besuchten. Doch am Ende der vierzig Tage setzten die Kinder die Fahrräder, ohne eine Runde damit gedreht zu haben, zum Verkauf ins Internet, um ihre Familien zu unterstützen."
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