9punkt - Die Debattenrundschau

Ein de facto faschistischer Staat

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2022. Die EU-Sanktionen wirken, schreibt die Ökonomin Katrin Kamin in der SZ, aber leider auch in Deutschland, wo man jetzt den Preis für den jahrzehntelangen Komfort der Abhängigkeit zahle. Der russische Autor Arkadi Babtschenko entwirft in der NZZ eine sehr düstere Perpektive auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. In der taz fordert Jan-Werner Müller Medien auf, vom "Bothsidism" in Debatten Abschied zu nehmen. FAZ und taz lesen den neuen Habermas. Die Washington Post prüft die politischen Ansichten des neuen britischen Königs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.09.2022 finden Sie hier

Europa

Während sich Außenministerin Annalena Baerbock überraschend auf  ihr zweite Kiew-Reise begeben hat (wie unter anderem Zeit online meldet) wägt Katrin Kamin vom "Kiel Institut für Weltwirtschaft" in der SZ sehr nüchtern, aber nicht pessimistisch die bisherigen Auswirkungen der EU-Sanktionen auf die russische Wirtschaft ab. Und sie benennt den politischen Preis, den vor allem Länder wie Deutschland oder Österreich jetzt für ihre schuldige Nähe zum autokratischen Regime in Moskau bezahlen: "Die Sanktionen wirken also, und gleichzeitig zahlen die EU und insbesondere Deutschland jetzt teuer für etwas, dessen Preis in der Vergangenheit fälschlicherweise beinahe mit Null angesetzt wurde: die Absicherung der Prosperität und der demokratischen Werteordnung. Die Kosten einer wirtschaftlichen Abhängigkeit vorweg einzuplanen, ist im Fall Russlands versäumt worden."

Der russische Autor Arkadi Babtschenko lebt heute im Westen im Exil, wo genau weiß man nicht, weil ein Killer-Kommando auf ihn angesetzt sei. Im Gespräch mit Paul Jandl in der NZZ entwirft der Tschetschenien-Veteran, der die russische Armee von innen kennt, ein düsteres Szenario. Er ist überzeugt, dass der Krieg noch sehr lange dauern wird: "Das Problem ist nicht nur Putin, sondern auch das, was nachher kommt. Das Einzige, was gegen Russlands Expansionspläne hilft, ist eine totale Isolierung. Vielleicht bringt es ja etwas, wenn das Land gezwungen ist, sich in sich selbst zurückzuziehen. Vielleicht aber funktioniert es auch nicht, denn Russland ist enorm reich an Rohstoffen." Und er sagt: "Europa muss endlich verstehen, dass sich an seiner Ostgrenze ein faschistischer Staat gebildet hat. Nicht ein Faschismus-ähnlicher, sondern ein de facto faschistischer Staat."

Julia Davis, Kolumnist bei The Daily Beast und Initiatorin eines "Russian Media Monitors" hat auf Twitter eine Reihe von Videos zusammengestellt, in denen sich die bekanntesten Putin-Propagandisten aus dem Fernsehen eher kleinmütig zur aktuellen Lage im Krieg äußern:


In der aktuellen Verzückung über die britische Monarchie gibt es wenige politische Reflexionen. 'William Booth und Karla Adam werfen in der Washington Post einen leicht skeptischen Blick auf König Charles, der, anders als die die Queen, seine politischen Ansichten nie verhohlen hat: Er ist Ökologe, zutiefst konservativ, Feind der Moderne, nicht nur in der Architektur, Bewunderer Rudolf Steiners und der alternativen Medizin, und, wie Nick Cohen schon vor einigen Monaten bemerkte (unser Resümee), Freund arabischer Autokraten. In der BBC-Dokumentation "Prince, Son And Heir: Charles At 70" von 2018, erinnern die beiden Post-Autoren, wird der künftige König mit dem Vorwurf konfrontiert, er mische sich in öffentliche Angelegenheiten ein. "Er antwortet: 'Tatsächlich? Was Sie nicht sagen,' und erklärt: 'Ich frage mich immer, was Einmischung sein soll, ich meine, ich dachte immer, es sei motivierend. Aber ich habe mich immer gefragt, ob es Einmischung ist, wenn man sich um die Innenstädte kümmert, wie ich es vor vierzig Jahren getan habe, und was dort passiert oder nicht passiert, die Bedingungen, unter denen die Menschen leben.' Und setzt hinzu: 'Wenn das eine Einmischung ist, bin ich sehr stolz darauf.'" Der Anthroposophie-Kritiker Oliver Rautenberg setzt sich in diesem Twitter-Thread intensiver mit Charles' Aussagen zu alternativer Medizin und Rudolf Steiner auseinander. Auch einen WDR-Podcast gab es zu diesem Thema. Fiona Harvey versichert im Guardian, dass Charles seine "grünen" Positionen als König nicht mehr verfechten werde.

Mit großer Bewunderung erzählt Nils Minkmar in der SZ, wie Emmanuel Carrère in seinem Buch "V13" den Prozess zu den Bataclan-Attentaten 2015 literarisch zu fassen versteht (das Buch ist auf deutsch noch nicht erschienen). "Carrère freundet sich auch mit einigen Dauergästen des Verfahrens an. Da ist Nadia, die aus Ägypten stammt, und deren Tochter auf einer der Terrassen erschossen wurde, und die danach mit ihrem Mann einen Verein für Hinterbliebene gründete. Was lässt die einen weitermachen, die anderen aber verzweifeln? Warum zerbricht das Leben einer Frau, die nur von einem winzigen Splitter gestreift wurde, während andere, die Gliedmaßen verloren haben, ihr Glück kaum fassen können?"
Archiv: Europa

Medien

Die Skandale in den öffentlich-rechtlichen Sendern reißen nicht ab. Nun ist die Chefin des NDR-Landesfunkhauses Hamburg, Sabine Rossbach, der vorgeworfen wird, ihre Familie begünstigt zu haben (was sie bestreitet), vorerst zurückgetreten. In der SZ stellt Claudia Tieschky einige Fragen an Wolfgang Schulz, den Direktor des Leibniz-Instituts für Medienforschung, die auf die Machbarkeit von Reformvorschlägen zielen. Nebenbei kommt raus, wo überall Reformbedarf besteht, etwa in der Zusammenarbeit zwischen Sendern und Aufsichtsgremien: "Man darf nicht vergessen, dass Distanz zwischen Sender und Aufsicht für eine echte Kontrolle zwingend ist. Die in einigen Häusern wohl noch gängige Praxis, dass die Rechtsabteilung, die dem Intendanten beziehungsweise der Intendantin untersteht, Vorlagen für die Sitzungen des Rundfunkrats erstellt, ist zumindest bei kontroversen Themen durchaus problematisch."

Der ehemalige Politiker der Linkspartei Fabio de Masi übt in der Berliner Zeitung Kritik an der Verquickung von Politik und öffentlich-rechtlichen Sendern, die nicht selten mit dem Phänomen der "strategischen Paare" zu tun hat. Aber das Phänomen gibt es natürlich auch in den privaten Medien, an denen de Masi ebenfalls kein gutes Haar lässt: "Denn bei aller berechtigten Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten: Glaubt denn wirklich jemand, die Bild-Zeitung sei zu einem anderen Zweck gegründet worden, als die Arbeiterschaft zugunsten der Konservativen und der reichsten und mächtigsten Dynastien des Landes zu beeinflussen? Und hat diese Zeitung in Hamburg nicht über weite Strecken dem Cum-Ex-Bankier Christian Olearius von der Warburg Bank mediale Schützenhilfe geleistet?"
Archiv: Medien

Ideen

Zwischen einem Angreifer, der sein Opfer vernichten will, und dem Opfer kann es keinen Kompromiss geben. Dennoch tun die Putinisten und Emma-Briefschreiber in der deutschen Öffentlichkeit so, als würde ihre Meinung unterdrückt. Der Politologe Jan-Werner Müller warnt im Gespräch mit Jan Pfaff und Luise Strothmann von der taz vor allem die Medien davor, in solchen Debatten im Namen des "Bothsidism" eine scheinbare Symmetrie der Positionen herzustellen: "Es gibt gute Überlegungen dazu, wie man Verzerrungen unter dem Deckmantel der Objektivität vermeidet. Man soll marginale Positionen zu Wort kommen lassen - aber fügt eben hinzu, wie marginal sie sind, und was sie zum Teil implizieren. Beispiel: Republikaner, die vor Wahlbetrug warnen, sind nicht marginal, aber man erklärt als Berichterstatter auch immer, dass die Gefahr von Wahlbetrug in den USA objektiv sehr gering ist. Und Leute, die ganz eindeutig lügen, lässt man gar nicht zu Wort kommen."

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube liest Jürgen Habermas' Essay "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik", in dem sich der greise Soziologe  mit dem Internet auseinandersetzt und zu den üblichen Ergebnissen kommt: Das Internet fragmentiere die Öffentlichkeit, die Zeitungen waren das wahre Ding. Kaube ist skeptisch: "Für das Verständnis der Massenmedien ist dieser Phantomschmerz nicht ergiebig. Er führt Habermas in anderen Beiträgen auch ganz folgerichtig zu Forderungen wie der nach einer staatlichen Subvention von Zeitungen und eventuell sogar, da wir eine europäische Demokratie haben, ihrer Übersetzung in fremde Sprachen. Denn nur so könnte es zu einer entsprechend europäischen Öffentlichkeit kommen. Allerdings ist der Zeitpunkt gerade ungünstig, sich von einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung der gesamten Öffentlichkeit größere Aufklärungsgewinne zu versprechen." Stefan Reinecke ist in der taz etwas freundlicher: "Die Rückkehr zur Welt der Zeitungen und TV-Redaktionen ist Illusion. Wie die digitale Öffentlichkeit konstruiert werden muss, erfährt man hier nicht. Es wäre etwas viel verlangt." Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
Archiv: Ideen

Geschichte

Als er auf  seine Rolle beim Olympia-Attentat 1972  angesprochen wurde, warf Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas, fünfzig Holocaust an den Palästinensern begangen zu haben (unsere Resümees). Von dem Massaker distanzierte er sich nicht. Auch in den Schulbüchern seiner Verwaltung, die von der EU mitfinanziert werden, wird das Massaker nach wie vor positiv dargestellt, berichtet  Björn Stritzel in der Bild: "So heißt es in einem Schulbuch für den Geschichtsunterricht der 11. Klasse, 'der palästinensische Widerstand' habe 'auf viele Methoden zurückgegriffen'. Die Fedayeen (in diesem Kontext: palästinensische Kämpfer) würden sich bei ihren 'Konfrontationen mit den Zionisten' meist auf 'Guerrilla-Krieg verlegen', heißt es in dem Schulbuch weiter. 'Sie versuchten auch, zionistische Interessen im Ausland anzugreifen, so wie bei der Operation in München 1972.'"
Archiv: Geschichte