9punkt - Die Debattenrundschau

Bestimmt, ichbezogen und narzisstisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2022. Der Krieg gegen die Ukraine wird so schmutzig wie in Tschetschenien und Syrien, aber jetzt kann Wladimir Putin keine Stellvertreter vorschieben,  schreibt der Guardian. Masha Gessen fragt im New Yorker, ob das ominöse "Z", das jetzt nicht nur russische Panzer, sondern auch Hauswände ziert, das neue Hakenkreuz wird. FAZ und SZ berichten vom Exodus der JournalistInnen und Intellektuellen aus Russland. Und zum heutigen Frauentag erklärt die NZZ, warum Männer im Machtrausch so selten Gegenwehr erfahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2022 finden Sie hier

Europa

Am Tag dreizehn des Krieges gegen die Ukraine verstärken die russischen Truppen ihre Angriff, die humanitäre Not wird größer. Über Schutzkorridore dürfen ukrainische Zivilisten nur nach Russland oder Belarus flüchten.

Wladimir Putin türmt Verbrechen über Verbrechen, Fehler über Fehler in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine, schreibt der Guardian: "Putin irrte in der Annahme, die USA, die EU und die pazifischen Alliierten des Westen wären zu zerstritten für kollektives Handeln. Nicht nur haben sich diese Nationen zusammengerauft, sie liefern auch Waffen an die Ukraine in einem Umfang, der klar macht, sie wollen Moskau besiegt sehen. Putin mag auf auf eine schnelle militärische Operation aus gewesen sein, gekrönt von einer Enthauptung der ukrainischen Regierung in Windeseile. Vor Augen steht ihm ein zermürbender Besatzungskrieg im größten Flächenland Europas. Anders als in Tschetschenien und Syrien, wo Putin sich auf Stellvetreter vor Ort verlassen konnte, um seine schmutzigen Kriege zu führen, werden die Kriegsverbrechen in der Ukraine direkt Russlands Ansehen in der Welt herabsetzen."

In der SZ lässt sich Andrian Kreye vom Politikwissenschaftler Roger Petersen vom MIT erklären, wie die Angst im Krieg zur Waffe wird, nämlich in zwei Phasen: "Zuerst kommt die Furcht, dann das Grauen. Die Furcht setzt ein, wenn der Krieg noch als eine Vorahnung von Tod, Gewalt und Zerstörung naht. Das Grauen machte sich in der Geschichte breit, wenn der Feind vor den Mauern der Stadt stand. Wenn aus der Vorahnung die Gewissheit von den Grausamkeiten und dem Töten wurde. Alle Feldherren haben sich diese Waffe zunutze gemacht. Doch was Petersen auch erforschte, ist die Verteidigung gegen die Waffe Angst. Fünf Strategien hat er da identifiziert. Vereinfacht gesagt, sind das die Wut, die Schande, die Verachtung, die Vernunft und die Hoffnung."

Auch Masha Gessen kann sich im New Yorker nicht genau erklären, was das ominöse "Z" bedeuten soll, das innerhalb weniger Tage zum Symbol für die Unterstützung der russischen Invasion wurde. Es wurde offenbar spontan von den Militärfahrzeugen übernommen, aber ein Z gehört nicht zum kyrillischen Alphabet. Nacht für Nacht tauchen an Moskauer Mauern mehr Zs auf, oft an den Hauswänden prominenter Regimegegner. Für Gessen ist es ein Zeichen, das dem Hakenkreuz ziemlich nahe kommt: "Es dauerte nur eine Woche, bis das 'Z' zum Symbol des neuen russischen Totalitarismus wurde. Aber totalitäre Symbole werden in der Regel an der Spitze geschaffen. Die rote Fahne und das Hakenkreuz - die beiden wichtigsten visuellen Symbole des Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts - sind das Ergebnis jahrelanger ideologischer, ästhetischer und sogar spiritueller Bewegungsgestaltung. Das 'Z' ist ein anderes Tier, ein vorgefertigtes Symbol, das von einer Gesellschaft aufgegriffen wurde, die sich bereits als totalitär konstituiert hat. Von nun an wird es jedoch wahrscheinlich so funktionieren wie jedes totalitäre Symbol der Vergangenheit: als visueller Schlachtruf und als Symbol der Zugehörigkeit. Schon bald könnte sein Fehlen als Zeichen der Illoyalität interpretiert werden."

Die FAZ bringt die Rede, die der ukrainische Schriftsteller Jurko Prochasko am Sonntag auf der Kundgebung in Berlin gehalten hat und in der er Putins Programm als Großraschismus bezeichnete, eine Kombination aus Großrussentum und Faschismus: "Der Putinismus, der sich in diesen Tagen zur totalitären Diktatur entwickelt, gibt sich gern erratisch und vieldeutig, ist aber im Kern leicht auszumachen: chauvinistischer Imperialismus, völkischer Mystizismus, messianischer Größenwahn, eschatologischer Revanchismus, apokalyptischer und militaristischer menschen- und lebensverachtender Macht- und Führerkult, tiefste Verachtung für Recht und Freiheit und Selbstbestimmung."

Der Schriftsteller Artur Becker blickt in der NZZ auf die große Hilfsbereitschaft, die Polen gegenüber den Ukrainern zeigen, mit denen sie historisch eng verbunden sind, wenn auch phasenweise sehr konflikthaft.

Die Forderungen an die Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu errichten, reißen nicht ab. Auf Slate findet Fred Kaplan die Rede davon etwas leichtfertig, als bräuchte es nur einen Federstrich, um russische Flieger zu stoppen: "Solche Zonen sind ausgefeilte, komplexe Unternehmungen. In den zehn Jahren zwischen den beiden Irakkriegen, als die USA und Britannien Flugverbotszonen im Süden des Landes errichtet hatten, um die Schiiten, und im Norden, um die Kurden zu schützen, flogen amerikanische Kampfflugzeuge 200.000 Einsätze und warfen mehr als 1.000 Bomben auf mehr als 240 Ziele. In einer zweitägigen Kampagne 1996 feuerten sie 44 Cruise-Missile-Raketen ab, um irakische Boden-Luft-Raketen zu zerstören. Im Kosovokrieg 1999 brauchten die USA und die Nato 78 Tage, um eine Flugverbotszone über einem Gebiet von der Größe Connecticuts zu errichten. Die Flieger schossen 743 Luft-Boden-Raketen ab, um 44 serbische Raketen-Abschussrampen zu zerstören."
Archiv: Europa

Medien

Die rigide Zensur treibt Kulturschaffende und Journalisten aus dem Land, berichtet die SZ: "Nach einer Erhebung des russischen Investigativmagazins Agents haben mehr als 150 Mitarbeiter von 17 Medienorganisationen das Land verlassen. Unter ihnen ist auch Marina Davydova, Chefredakteurin der Zeitschrift teatr und künstlerische Leiterin des Moskauer Festivals 'NET'. Sie ist mit Hilfe des litauischen Botschafters aus Moskau geflohen. Nachdem sie eine Petition gegen den Krieg gestartet hatte, sei sie in Anrufen und Mails bedroht und ihre Haustür schwarz markiert worden, 'das bedeutet, dass man jetzt alles mit mir machen kann, meine Wohnung anzünden, mich in einer dunklen Gasse umbringen'. Sie hatte Todesangst. Jetzt sitzt sie in Vilnius und weiß nicht weiter. Nicht einmal auf ihr Konto hat sie Zugriff. Ihre russischen Karten funktionieren im Ausland nicht, von einer österreichischen Bank, bei der sie auch Kundin ist, habe sie die Nachricht erhalten, dass ihr Konto gesperrt sei."

Der Exodus führt aber auch dazu, dass immer weniger unabhängige Informationen die Menschen in Russland erreichen. Eurozine bringt daher den Aufruf russischer Schriftsteller an alle Russisch sprechenden Menschen: "Bitte, benutzen Sie alle zur Verfügung stehenden Mittel der Kommunikation. Telefone. Messenger-Dienste. E-Mails. Versuchen Sie, Bekannte zu erreichen. Versuchen Sie, Unbekannte zu erreichen. Berichten Sie die Wahrheit. Wenn Putin blind und taub ist, werden die Russen vielleicht auf diejenigen hören, die ihre Sprache sprechen."

In der FAZ spricht ein anonym bleibender russischer Reporter über den Kampf gegen die russische Medienaufsicht Roskomnadsor. Er selbst steckt im armenischen Eriwan fest und wartet auf einen Weiterflug, der ihn ins georgische Tiflis bringt, offenbar das populärste Ziel vieler Russen, die das Land verlassen wollen.

Auch ihre eigenen Korrespondenten hat die FAZ jetzt aus Moskau abgezogen, da sie mit Lagerhaft rechnen müssen, wenn sie nicht die Propaganda des Kremls nachbeten. Herausgeber Berthold Kohler schreibt dazu: "Bis zum Untergang der Sowjetunion konnten auch ausländische Berichterstatter sich nicht ungehindert im Land bewegen. Sie wurden beobachtet, abgehört, einbestellt. Mitunter mussten sie auf ihr Visum warten. Doch selbst mitten im Kalten Krieg machten die Kommunisten im Kreml ausländischen Journalisten keine Vorgaben, was sie zu schreiben hätten."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Zum heutigen Weltfrauentag, der in Berlin bekanntlich auch gesetzlicher Feiertag ist, erinnert Birgit Schmid in der NZZ, daran, dass Männer im Machtrausch selten gebremst, sondern im Gegenteil meist noch bestärkt werden: "Charisma definiert sich über ein Gegenüber, und hier wird die Rolle der anderen wichtig. Es sind ebenso die anderen, die diesen Männern zu ihrem Aufstieg verhelfen. Sie werden verführt von Eigenschaften, die sie, sobald sich ihre negativen Folgen zeigen, im Namen der Gesellschaft wiederum bestrafen. Wer erhält denn die Stelle? Es ist immer noch derjenige, der furchtlos und selbstsicher auftritt, und nicht derjenige, der durchblicken lässt, dass er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt. Untersuchungen zeigen: Eine führungslose Gruppe hat die natürliche Neigung, eine Person zum Leader zu wählen, die bestimmt, ichbezogen und narzisstisch ist. Das Umfeld selber erschafft die Alpha-Menschen und erhöht sie mit seiner Bewunderung und seinen Projektionen. Es wirkt an ihrer Größe mit. Ohne die anderen wären die Männer halb so groß."

In "Die Geschmeidigen" blickt die Schriftstellerin Nora Bossong auf die Generation der zwischen 1975 und 1982 geborenen, jene "behütet" aufgewachsene Generation also, die nun erstmals beginnt, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Leise und souverän, aber auch opportunistisch sei die Generation, sagt Bossong im SZ-Gespräch mit Aurelie von Blazekovic: "Es wurde sehr auf sich geschaut und das zur politischen Haltung hochstilisiert. Dadurch wurden einige Dinge nicht so ernst genommen, wie man sie, glaube ich, hätte nehmen müssen. Das gilt für das Klima ebenso wie für Fragen der Sicherheitspolitik und auch für das Vorgehen gegen antidemokratische Entwicklungen. Da reicht es nicht, einen Aufkleber mit 'Fuck AfD' an eine Laterne zu kleben. Wir müssen gerade jetzt viel selbstbewusster die Demokratie verteidigen."
Archiv: Gesellschaft