9punkt - Die Debattenrundschau

Ein weiterer Bedeutungsraum

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2021. Auch der Satiriker und Putin-Kritiker Dmitri Bykow scheint schon 2019 Opfer einer an Nawalny erinnernden Giftgasattacke geworden zu sein, berichtet das investigative Magazin Bellingcat. Antisemitismus ist längst Pop, und damit längst Mainstream, konstatiert die Schriftstellerin Mirna Funk in der Zeit. Ebenfalls in der Zeit erinnert der Historiker Wolfram Wette an den Überfall der Nazis auf die Sowjetunion vor achtzig Jahren. Götz Aly kritisiert in der Berliner Zeitung, dass des Überfalls nicht gedacht wird. Die NZZ kommt auf den Rassismus Rudolf Steiners zurück.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.06.2021 finden Sie hier

Europa

Auch der bekannte russische Lyriker, Satiriker und Putin-Kritiker Dmitri Bykow scheint Opfer einer an Nawalny erinnernden Giftgasattacke geworden zu sein, die er zum Glück überlebte, berichtet das investigative Magazin Bellingcat heute. Die Episode spielt schon im Jahr 2019. Die Attacke fand bei einer Lesereise Bykows in Sibirien statt: "Der Fall der mutmaßlichen Vergiftung von Dmitry Bykov weist eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Fall von Alexej Nawalny auf, einschließlich einer längeren Beschattung durch den FSB, der Anwesenheit derselben FSB-Offiziere in der Nähe des Opfers kurz vor der Vergiftung, des Auftretens der Symptome und des Zusammenbruchs ins Koma während eines Fluges und einer anfänglichen Behinderung der Verlegung des Opfers in eine höher entwickelte medizinische Einrichtung durch die Behörden."

Die Salonkolumnisten präsentieren passend dazu einen offenen Brief vieler Wissenschaftler, die die EU-Kommission und die europäischen Regierungen auffordern, dezidierter gegen Menschenrechtsverletzungen in Russland und Belarus vorzugehen.

Die politischen Organisationen des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny wurden von einem russischen Gericht als "extremistisch" eingestuft und verboten, meldet Alexander Seipp in der FR mit afp: "Bereits im April war Nawalnys Netzwerk von der Finanzaufsichtsbehörde auf eine Liste 'extremistischer' Organisationen gesetzt worden. Damit wird sie gleichgestellt mit dem Islamischen Staat (IS) oder Al-Kaida. Gemäß eines kürzlich von Präsident Wladimir Putin unterzeichneten Gesetzes dürfen sie zudem bei Wahlen nicht mehr kandidieren."

Das UN-Tribunal von Den Haag hat das Urteil gegen den Völkermörder Ratko Mladić in letzter Instanz bestätigt. Für Erich Rathfelder, der seit Jahrzehnten für die taz aus der Region berichtet, ist das ein Hoffnungszeichen - besonders für Serbien, wo der Völkermord immer noch von vielen geleugnet wird: "In einer Stadt mit der liberalen Tradition Belgrads gibt es auch kritische Geister. Über kurz oder lang werden die Intellektuellen um ihrer selbst willen der Wahrheit Gehör verschaffen müssen, wie es bisher isolierte, aber mutigen Menschenrechtlerinnen schon tun. Der Film 'Quo vadis, Aida?' der bosnischen Filmemacherin Jasmila Žbanić über den Genozid von Sebrenica darf in Serbien und in der Republika Srpska nicht gezeigt werden. Doch er kann heruntergeladen werden. Die totale Abschottung funktioniert nicht mehr."

Alex Rühle sendet in der SZ einen bitteren Reisebericht aus Ungarn, wo sich Orban als "Führer Mitteleuropas inszeniert", etwa vor dem Parlament: "Der pompöse Fahnenmast, den Orbán hier hat aufstellen lassen, hat schon was von zentralasiatischer Autokratenarchitektur, eine Art silberne Rakete, an der die ungarische Trikolore flattert. Gegenüber das Trianon-Denkmal, ein schwarzer Graben, in den man hineinlaufen kann, an den Wänden stehen die Namen aller ungarischen Orte von 1913. Die Provokation: Sie stehen da ausschließlich auf Ungarisch, das rumänische Cluj heißt also Kolozsvár, die slowakische Hauptstadt Bratislava Pozsony. Interessant ist, dass die Präsidenten der umliegenden Länder, deren Gebiete Orbán hier ja beansprucht, ihn eher verehren als fürchten."
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Geschichte

Der Historiker Wolfram Wette erinnert in der Zeit an den Überfall auf die Sowjetunion vor achtzig Jahren, der zur Überraschung Stalins die Idylle des Hitler-Stalin-Pakts jäh beendete. Ziel war "die Eroberung von 'Lebensraum im Osten', seine Ausbeutung und Germanisierung, was sich nur erreichen ließ durch die Vernichtung all jener Menschen, die es wagen sollten, sich den Deutschen entgegenzustellen. Zugleich hatte Hitler das alles überwölbende Feindbild benannt: die 'jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft' in Moskau - ein Topos, der schon lange vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten geläufig war und der weit über das Kriegsende 1945 hinaus seine giftige Wirkung entfalten sollte."

Bereits vorgestern hatte Götz Aly in der Berliner Zeitung an den Überfall erinnert und beklagt zum wiederholten Male, dass der Bundestags des Überfalls nicht gedenkt: "Am Ende waren 27 Millionen sowjetische Männer, Frauen und Kinder von Deutschen getötet und viele zehn Millionen in tiefes Unglück gestürzt worden. Daran will der Deutsche Bundestag und wollen viele Deutsche bis heute nicht erinnern."
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Gesellschaft

Antisemitismus ist längst Pop, und damit längst Mainstream, konstatiert die Schriftstellerin Mirna Funk in der Zeit, und nach der jüngsten Gewalt in Israel verstärkte er sich noch: "Wenn das amerikanische Model Bella Hadid an ihre 43 Millionen Follower auf Instagram per Infografik raushaut, dass Israelis nichts weiter seien als white supremacist colonizers, die ethnic cleansing betreiben, 'ethnische Säuberungen', um die indigene nichtweiße Bevölkerung auszulöschen, dann beweist das neben dem aktuellen Trend, Israel blöd zu finden, vor allem eines: Der Antisemitismus passt sich immer geschmeidig dem Zeitgeist an."

In der FAZ stellt die Migrationswissenschaftlerin Julia Bernstein eine "gemeinsame Erklärung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule" vor, die sie mit erarbeitet hat und die  am Freitag von der KMK veröffentlicht wird. Zu den Ergebnissen ihrer Untersuchung gehört, "dass der Antisemitismus in der Schülerschaft von Lehrern häufig nicht erkannt oder bagatellisiert wird, jüdische Schüler mitunter als 'eigentliches Problem' wahrgenommen werden und antisemitische Einstellungen auch unter manchen Lehrern ausgeprägt sind." Und "der israelbezogene Antisemitismus wird als zeitgemäß dominierende Erscheinungsform von vielen Lehrern nicht dem Problembereich zugerechnet, sondern als 'legitime Kritik' am jüdischen Staat verstanden."

In der SZ ist Sara Maria Behbehani vor allem genervt von der lauten Debatte um den Genderstern, von dem sie allerdings auch nicht viel hält: "Sprache, die alle Menschen mit einbeziehen will, sollte die Unterschiede zwischen Menschen als irrelevant betrachten - statt sie immer wieder neu zu manifestieren. Es sollte egal sein, ob jemand Mann, Frau oder divers ist. Spricht man von Ärzt*innen, gilt vereinfacht gesagt für die Männer der Wortstamm, für diverse Menschen der Stern und für Frauen die Endung. Anstatt bei einem Wort nur den Inhalt wahrzunehmen (Menschen, die heilen), was bei Ärzten eher möglich ist, verweist der Stern auf einen weiteren Bedeutungsraum, den des Geschlechts. (...) Besser wäre es, konsequent beim generischen Maskulinum zu bleiben und es gesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit zu machen, dass alle damit gemeint sind."
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Medien

Für die Welt hat sich Christian Meier den Entwurf des Medienstaatsvertrages angesehen, den die Rundfunkkommission der Länder vorgelegt hat. Neben einer "gemeinsamen Plattformstrategie" der Sender und einem Qualitätsmanagement durch "externe unabhängige Sachverständige" wird mehr Inklusion, "nicht-spaltende Kommunikation", Sachlichkeit und Meinungsvielfalt gefordert: "Der Hinweis auf mehr Meinungsvielfalt trägt offenbar der Wahrnehmung zumindest eines Teils der Beitragszahler Rechnung, die sich genau das vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk wünschen. Die Medienpolitik darf den beitragsfinanzierten Sendern aus guten Gründen keine inhaltlichen Vorgaben machen, es gilt die Rundfunkfreiheit. Doch sie kann und muss den Rahmen setzen, innerhalb dessen Rundfunk gemacht wird. Und hier will die Kommission verhindern, dass das Programm von ARD, ZDF und Deutschlandradio zumindest bei einer Gruppe von Bürgern nur noch als Angebot für partikulare Interessen wahrgenommen wird."
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Kulturpolitik

Viele Fälle von Gewaltverhältnissen an Kulturinstitutionen sind in denn letzten Monaten bekannt geworden - von den Theatern bis zum Humboldt-Forum. Zeit zum Umdenken, findet Thomas E. Schmidt in der Zeit: "Wahrscheinlich hat es in der Vergangenheit zu wenig Achtsamkeit diesen relativ selbstständig handelnden Einrichtungen gegenüber gegeben, zu viel Respekt vor Geistesgrößen und nur einen geringen Willen zum Durchgreifen. Es ist vollkommen richtig, dass sich Betroffene heute an die Öffentlichkeit wenden. Einen demoralisierenden Einfluss auf das Publikum hat es gleichwohl."
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Ideen

Ausgerechnet jene liberalen Bildungsbürger, die lautstark das Canceln des "Rassisten" Kant fordern, hüllen sich in Schweigen, wenn es um die "rassistischen" Äußerungen von Rudolf Steiner geht, ärgert sich der Philosoph Peter Strasser in der NZZ, der den Gründer der Anthroposophie zur Entstehung der "fünf Rassen" zitiert: "Man möchte sagen, in der Mitte schwarz, gelb, weiß, und als ein Seitentrieb des Schwarzen das Kupferrote, und als ein Seitenzweig des Gelben das Braune - das sind immer die aussterbenden Teile." Strasser meint: "Wir haben es hier mit dem seltsamen Fall zu tun, dass ein Mann, der in abstrusen rassistischen Äußerungen geradezu schwelgte, vollständig exkulpiert wird. Trotz einer Fülle an rassistischen Äußerungen kein Rassist! Warum? Weil er keinen Vernichtungswillen gegenüber den niederen Rassen zeigte. Kein Wunder, ging er doch davon aus, dass sie ohnehin nicht überleben könnten, wegen zu viel oder zu wenig Sonne oder zu schwerer Knochen oder . . ."

Außerdem: Die Historikerin Mirjam Brusius will in der Debatte über A. Dirk Moses' Polemik "Der Katechismus der Deutschen" auf newfascismsyllabus.com nicht in seine Behauptung von einem deutschen Schuldkult einsteigen, aber sie stimmt ihm bei anderen Punkten zu.
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