9punkt - Die Debattenrundschau

Geltungskonflikte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2020. Viel historische Reflexion heute: Felix Philipp Ingold sucht in der SZ nach den Wurzeln der heutigen russischen Politik im Panslawismus. In der FAZ fragt Andreas Kilb nach Thüringen: Wo liegt heute die eigentliche Parallele zur Weimarer Zeit? Außerdem: In Horizont fragt Ulrike Simon, was die Nachrichtenagentur Tass eigentlich in der Berliner Zeitung macht?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.02.2020 finden Sie hier

Europa

Schon im 19. Jahrhundert stritten "Westler und Slawophile" darüber, ob Russland einen "nationalen Sonderweg" zu erfüllen habe oder die Annäherung an Europa suchen solle, erinnert der Kulturhistoriker Felix Philipp Ingold in der SZ und verweist unter anderem auf ein Zitat des Philosophen Konstantin Leontjew: "'Russland muss sich vollständig von europäischen Gleisen lösen, einen völlig neuen Weg einschlagen und sich dadurch an die Spitze des intellektuellen und gesellschaftlichen Lebens der Menschheit stellen.' Das ist ein heute von kremlnahen Politologen und Ideologen gern zitiertes Diktum, so wie generell das europakritische russische Denken des 19. Jahrhunderts - gerade auch dort, wo es imperialistische Züge annimmt - für die aktuelle Diplomatie Moskaus wegweisend geworden ist: Das Fortschritts- und Zukunftsdenken wird in konsequentem, freilich diskretem Rückgriff auf slawophile oder panslawische Konzepte praktiziert."

"Deutschland braucht einen neuen Patriotismus", der sich von der AfD abgrenzt, fordert Luuk Molthof, Senior Research Fellow bei d/part, einem gemeinnützigen Think Tank, im Tagesspiegel. Laut einer aktuellen Studie, die Molthof mit seinen Kollegen und gemeinsam mit dem Open Society European Policy Institute umsetzte, identifizieren sich 74 Prozent der Deutschen stark mit ihrer Identität und verbinden damit auch einen "latenten Stolz": "Nur 12 Prozent der Befragten gaben an, kein Gefühl des Stolzes im Zusammenhang mit ihrer Nationalität zu besitzen, während die überwiegende Mehrheit der Befragten auf mindestens einen Aspekt ihrer deutschen Identität stolz war. Besonders großen Stolz verspüren viele Deutsche in Bezug auf das Grundgesetz, den Wohlfahrtsstaat und das kulturelle Erbe."

Man kann bei der Linkspartei keine, bei der AfD viele Parallelen zur Weimarer Zeit entdecken, schreibt Andreas Kilb in der FAZ, der den eigentlichen Bezugspunkt zu Weimar aber ganz woanders sieht: bei Christian Lindners Weigerung mitzuregieren von 2017, die mit der bundesrepublikanischen Verantwortungsethik gebrochen habe: "Mit seinem Diktum vom 19. November hat Lindner diese Tradition aufgekündigt und sich auf einen Weimarer Standpunkt gestellt. Denn nicht die Machtgier der Parteien führte zum Niedergang der Weimarer Republik, sondern ihre Weigerung, an der Macht teilzuhaben. Die meisten Koalitionen nach 1920 waren Minderheitsregierungen, nur wenige hielten länger als ein paar Monate. Die demokratische Mitte stärkte die Ränder, indem sie sich weigerte, den Wählerauftrag zu erfüllen."
 
Gestern schrieb der Sicherheitsexperte Tobias Bunde über den erstarkenden "Gegen-Westen" (Unser Resümee), heute bringt Clemens Wergin in der Welt den Begriff "Westlessness" von der Münchner Sicherheitskonferenz mit, auf der über den sinkenden Einfluss des Westens angesichts der Regime in China und Russland gesprochen wurde. Wergin warnt mit Blick auf Nord Stream 2 vor einer noch "größeren Energieabhängigkeit" von Moskau und vor einer Beteiligung Chinas am deutschen Ausbau des 5G-Netzes: "Im Kalten Krieg wäre es uns nie eingefallen, zentrale Komponenten unseres Telefonnetzes in sowjetische Hand zu geben. Deshalb ist es eben eine strategische Frage, ob wir China den Ausschalter für unser mobiles Internet aushändigen sollten. Das chinesische Mobbing gegenüber europäischen Staaten sollte uns vor Augen führen, wie sehr wir jetzt schon abhängig sind von einem Land, das dem Westen feindselig gesinnt ist und das gerade dabei ist, die perfekte Überwachungsdiktatur aufzubauen. Es wäre eigentlich die Aufgabe der europäischen Führungsmacht Deutschland, den Widerstand auf dem Kontinent zu organisieren."
 
Der ehemalige CDU-Fraktionschef Karl-Eckhard Hahn forderte bereits im European eine partielle Öffnung in Richtung AfD, erinnert Thomas Wagner in der Welt und geht den Gerüchten nach, die Thüringer Wahl sei ein von "langer Hand vorbereitetes Manöver" von AfD und CDU-Politikern gewesen. Hahn war immerhin seit 1982 Funktionär der als "neurechte Kaderschmiede geltenden Deutschen Gildenschaft", schreibt Wagner weiter: "Diese Studentenverbindung ist neben einer Reihe von Burschenschaften und Bildungseinrichtungen wie dem Studienzentrum Weikersheim eine von vielen Institutionen, in denen sich Rechtskonservative verschiedenster Schattierungen und Parteiaffinitäten in der Bundesrepublik miteinander austauschen und Netzwerke bilden konnten."
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Politik

Der in Washington arbeitende Historiker Sören Urbansky erzählt in der FAZ die Geschichte der Vorurteile gegen die "gelbe Gefahr", die im Zeichen des Coronavirus wieder aufleben. In Amerika ist sie an die Geschichte der chinesischen Einwanderung geknüpft: "Durch die Segregation von anderen Stadtbewohnern, enge räumliche Konzentration und prekäre Wohnverhältnisse der Chinesen galten ihre ethnischen Gettos schnell als Bedrohung für moralische und physische Unversehrtheit der europäischen Mehrheitsbevölkerung. Sie galten als Brutstätte von Pest und Cholera. Dreck und Gestank wurden den eigentümlichen rassischen Besonderheiten der Chinesen zugeschrieben und fein säuberlich vom sozialen und politischen Kontext der Einwanderung getrennt. Wer heute auf die Verlautbarungen der sozialen Medien schaut, dem graut es vor dem wiederauferstandenen Gespenst des Vorurteils und der Verleumdung." In einem zweiten Artikel fragt Mark Siemons, warum sich angesichts der chinesischen Katastrophe anders als etwa bei dem Erdbeben von 2008 international nicht die geringste Spendenbereitschaft regt.


Weiteres: In der NZZ schildert Marc Neumann, wie die Republikaner in den USA den alten "Krieg" gegen die Pornografie für den Wahlkampf mobilisieren: "Pikant an der neuerlichen Kampfansage an die Adresse von Porno ist, dass sich umstrittene Argumente einer radikal-feministischen Gegnerin von Pornografie und Prostitution wie Dworkin (etwa: Geschlechtsverkehr ist grundsätzlich Ausdruck männlicher Frauenverachtung) denen von religiös-konservativen Moralisten annähern - les extrêmes se touchent."
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Ideen

Vor einigen Wochen diagnostizierte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ eine Legitimationskrise des modernen westlichen Staates. (Unser Resümee). So weit ist es nicht, antwortet der Rechtswissenschaftler Dieter Grimm heute ebenda, wenngleich er darauf verweist, dass der Staat durch die Übertragung öffentlicher Gewalt auf supranationale Einrichtungen an Souveränität eingebüßt habe: "Die Folge sind erstens Geltungskonflikte zwischen verschiedenen Rechtsregeln, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, sowie Zuständigkeitskonflikte zwischen nationalen und internationalen Gerichten. Mangels eindeutiger Hierarchien, selbst in der am stärksten integrierten EU, sind sie rechtlich nicht durchweg auflösbar. Nicht selten führt das zu Überfremdungsgefühlen in der Bevölkerung und gibt den Tendenzen zur Renationalisierung Nahrung, die inzwischen viele Staaten erfasst hat. Die Bereitschaft zur Befolgung und Durchsetzung von Recht aus fremden Quellen und Urteilen supranationaler Gerichte leidet darunter. Bei anhaltender Globalisierung steigt die Notwendigkeit weiterer Internationalisierung des Rechts, während sich die Bedingungen dafür verschlechtern."
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Medien

Die Berliner Zeitung des neuen Eigentümer-Ehepaars stützt sich neuerdings auch auf Ticker der Nachrichtenagentur Tass, notiert eine verwunderte Ulrike Simon in ihrer Horizont-Kolumne. "Tass ist die staatliche russische Nachrichtenagentur und damit nichts anderes als ein direkt vom Kreml gesteuertes Propaganda-Instrument", so Simon. Schon vor einiger Zeit hatte Friedrich von zahlreichen Hilfsangeboten an die neue Leitung der Zeitung, "auch aus China und Russland" gesprochen. "Insofern mag es auf manche noch originell gewirkt haben, dass die unter dem IT-Erfahrenen Holger Friedrich binnen weniger Wochen neu aufgesetzte Webseite der Berliner Zeitung außer auf Deutsch auch auf Englisch und Russisch zu lesen ist. Auf die Idee muss man aber erst einmal kommen, in Interviews von 'faktenbasiertem Journalismus' zu palavern, den sie einführen wollen und dann die Tass als ganz normale Informationsquelle zu nutzen - und das auch noch ausgerechnet beim Thema Syrien."

Ein großer Teil der Werbung auf Medienseiten im Netz ist trackingbasiert (das trifft auch auf einen Teil der Werbung im Perlentaucher zu), das heißt, er basiert auf der Auswertung von Daten über das Nutzerverhalten. Auf Medienseiten ist das datenschutzrechtlich problematisch, während Dienste wie Facebook und Google fein raus sind, weil man bei ihnen eingeloggt ist. Für Medien wäre der Verlust der Einnahmen eine mittlere Katastrophe, schreibt Matthias Eberl bei netzpolitik.org: "Für alternative Werbeformen ist dagegen nicht viel Raum. Zwar gibt es vereinzelt erfolgreiche Beispiele für Experimente mit klassischer kontextbezogener Werbung, die nicht auf den einzelnen Leser zugeschnitten ist, etwa bei der New York Times. Branchenkenner geben aber zu bedenken, dass die deutschen Verlage und ihre Lobbyverbände bereits in den letzten Jahren Schwierigkeiten hatten, den neuen digitalen Werbemarkt juristisch, technisch und operativ zu durchdringen. Den Verlagen fehlen schon lange die Macht und das Knowhow, um den Werbemarkt so zu formen, dass er sich an ihren Interessen ausrichtet. Vor allem regionale Zeitungen sind ihren Vermarktern hilflos ausgeliefert und können kaum bestimmen, wie ihre Werbeplätze genutzt werden."

Weiteres: Die ARD-Tagesthemen sollen verlängert werden, es soll mehr Platz für regionale Nachrichten geschaffen werden, resümiert Christian Meier in der Welt: "Es gehe darum, sagte Programmchef Herres, in Beiträgen konkrete Beispiele zu zeigen, wie sich das Politische im Alltag der Menschen in der Republik abspiele. Dies gelte insbesondere für Geschichten aus Ostdeutschland." Im Vorfeld hatte sich Herres allerdings gegen eine Verlängerung der Tagesthemen-Ausgaben von Montag bis Donnerstag gewehrt, weiß Kai-Hinrich Renner in der Berliner Zeitung.
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