9punkt - Die Debattenrundschau

Solange es freie Wahlen gibt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2017. Diese Wahl ist ein Schock: Die AfD wird in den Bundestag einziehen und war wieder einmal stärker, als die Umfragen es anzeigten. Wie umgehen mit der Partei? Nicht vergessen, dass diese Sieger eigentlich Loser sind, meint Jan Feddersen in der taz. Aber es gibt eine Kontinuität zur Nazizeit, meint Micha Brumlik ebenfalls in der taz. Die AfD gewinnt sehr viel Macht durch Mitarbeiterzahl und Infrastruktur im Bundestag, mahnt Vice. Und es sind ziemlich üble Finsterlinge darunter, zeigt der Tagesspiegel. Und der Freitag ergeht sich in historischen Verschwörungstheorien, die zeigen, dass auch Linke ausflippen können. Zumindest einer macht sich Hoffnung: Orhan Pamuk in der FAZ, in diesem Fall aber für die Türkei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.09.2017 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Wahlen: Die AfD und die Folgen 

Wie umgehen mit der nun siegreich in den Bundestag eingezogenen AfD? Nun ja, man sollte vor allem nicht vergessen, dass die Gewinner eigentlich Verlierer sind, meint Jan Feddersen in der taz: "Die AfD wird nichts ändern können, ihr gemeinsamer Hass ist solitär und einer von Verzweifelten. Sie werden sich mit dem neuen Deutschland (Marina und Herfried Münkler) arrangieren müssen, sie sind auch lifestylig nie mehr als Verlierer gewesen - selbst dann, wenn sie aktuell ein Siebtel der Stimmen gewinnen sollten. Sechs Siebtel stehen gegen sie, weil sie das, was die AfD repräsentiert, nicht wollen."

Auch Cas Mudde findet im Guardian tröstliche Worte. 60 Prozent der AfD-Wählerinnen stimmten aus Protest für die Partei, schreibt er: "Die Beziehung zwischen der AfD und ihren Wählen ist schwach und zumeist über die Opposition zu anderen Parteien als über Unterstützung der AfD selbst definiert."

Micha Brumlik sieht in der taz allerdings sehr wohl eine deutsche Kontinuität des Rechtsextremismus: "Was damals der Antisemitismus war, ist heute die Islamophobie. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Antisemitismus hier und Islamophobie dort sind keineswegs dasselbe. Sie entstammen verschiedenen historisch-kulturellen Ausgangslagen und haben ganz unterschiedlich materielle Gewalt angenommen. Das beweist die Singularität der nationalsozialistischen Ermordung von 6 Millionen europäischer Juden. So verschieden Antisemitismus und Islamophobie jedoch sind, so sehr nehmen sie auf der Seite jener, die einer Form 'gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit' (Wilhelm Heitmeyer) anhängen, dieselbe Funktion ein: einer scheinbar rationalen Begründung von Ressentiment und schierem Hass."

Das Ergebnis der AfD wird auch Auswirkungen auf Europa haben, meint Matthew Karnitschnig in politico.eu: "Die deutsche Geduld mit dem europäischen Mangel an Solidarität an der Flüchtlingsfront ließ ohnehin schon nach. Nach den Ergebnissen dieses Sonntags können wir uns auf eine direkte Konfrontation mit Ländern wie Ungarn und Polen gefasst machen. In der Sicht vieler Christdemokraten wäre die AfD nie so weit gekommen, wenn andere europäische Länder einen fairen Anteil von Flüchtlingen aufgenommen hätten, statt Deutschland die Last tragen zu lassen. Nun ist Zahltag."

Und auf jeden Fall bedeutet der Wahltriumph einen erheblichen Machtzuwachs für die AfD, kommentiert Laura Himmelreich bei Vice: "Über 400 Mitarbeiter werden die rund 96 Abgeordneten (Stand 23:10 Uhr) einstellen können, jeder einzelne Neu-Parlamentarier darf monatlich gut 20.000 Euro für Personal ausgeben. Dazu bekommt die Fraktion mehrere Millionen im Jahr für weitere Mitarbeiter oder Öffentlichkeitsarbeit."

Wer glaubt, die rechtsextremen Sprüche der AfD seien ja nicht so gemeint und sollen die anderen Parteien nur aufschrecken, der lese Sebastian Leber, der für den Tagesspiegel die Kandidaten der AfD unter die Lupe genommen hat: Wer behauptet, Deutschland (und die Welt) werde von einer global operierenden Eliteorganisation namens "New World Order" gesteuert, oder der Holocaust "solle 'ein Mythos bleiben, ein Dogma, das jeder freien Geschichtsforschung entzogen bleibt'", wer ernsthaft die Auffassung vertritt, "die Bundesregierung hole Flüchtlinge absichtlich ins Land und setze sie als 'Migrationswaffe' ein, um eine 'Vermischung', 'Umvolkung' und letztlich den 'Volkstod' der Deutschen zu erreichen", hat die Grenze längst überschritten, selbst wenn man den Gaga-Anteil weglässt. Der erreicht seinen Gipfel übrigens in der Behauptung des Tübinger AfD-Direktkandidaten Dubravko Mandic, der erklärt hat, "seine Partei unterscheide sich von der NPD 'vornehmlich durch unser bürgerliches Unterstützerumfeld, nicht so sehr durch Inhalte'". Als wäre Bürgerlichkeit ein Faschingskostüm, dass man je nach Laune über die braune Uniform werfen könnte.

Im Freitag zeigt Lutz Herden mit Aplomb, wie wenig historisches Wissen nutzen kann. Seiner Ansicht nach ist am Wahlerfolg der AfD die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft schuld: "Es rächt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland nie antifaschistisch war, wenn sie ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus zu klären suchte und selten erklären wollte, weshalb sie ab 1949 die NS-Funktionseliten von den Juristen über die Verwaltungsbürokraten bis zu den Militärs ungerührt übernommen hat. Und das in staatstragender Funktion. Ein sich damit identifizierendes deutsch-nationales Milieu war jahrzehntelang in der CDU Adenauers, Kiesingers, Barzels und Kohls zuhause. Es hat nun offenbar in der AfD ein politisches Exil gefunden, um dieser Partei zusammen mit deren Stammwählern in Ostdeutschland Platz 3 zu sichern." Als käme nicht der Großteil der AfD-Wähler aus dem antifaschistischen Osten.

Der Wittenberger Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer erkennt das in einem kurzen Interview mit der Berliner Zeitung ganz deutlich: Die Mehrheit der AfD-Wähler sind Ost-Männer, die sich seit der Wende gekränkt fühlen. "Es wurde behauptet, es werde schnell gehen mit der Einheit; doch es konnte nicht schnell gehen. Und dann gibt es eine Undankbarkeit vieler Ostdeutscher. Sie sollten sich mal vergleichen mit den 140-Mark-Rentnern in der DDR. Und dann sollten sie noch mal melden. In welches Land wollen denn diese Leute gehen?"

In der SZ wünscht Heribert Prantl den "Denkzettel"-Wählern ein böses Erwachen: "Zu viele Wähler haben eine Partei gewählt, die als Parteifarbe ein schmeichelndes Blau auf ihre Plakate druckt, die aber im Inneren immer brauner wird. Die AfD hat es nicht geschafft, den Neonazi Höcke auszuschließen. Im Gegenteil: Sein völkisches Getöne hat in dieser Partei immer mehr Echo gefunden. Viel zu viele Wähler haben sich davon nicht abschrecken lassen, weil sie 'der Merkel' und 'der Flüchtlingspolitik' eins auf den Deckel geben wollten - und weil sie wussten, dass die Stimme für die AfD eine Schockkraft hat. Heilsam wäre es, wenn AfD-Wähler geschockt werden von dem, was sie anrichten. Der parlamentarische Betrieb wird giftig werden."

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Orhan Pamuk will im Gespräch mit Hannes Hintermeier in der FAZ die Hoffnung für die Türkei nicht aufgeben - unter anderem liegt sie für ihn bei den jungen Leuten: "Erdogan hat die Altersgrenze für das aktive und passive Wahlrecht herabgesetzt und erwartete, dass ihm das viele Stimmen junger Wähler einbringen würde. Ich bin froh, dass er sich getäuscht hat. Und noch froher bin ich darüber, dass die Zustimmung für ihn beim Referendum gesunken ist. Wir dürfen eines keinesfalls vergessen: Sein Bündnis hat gerade einmal 51 Prozent der Stimmen erhalten und das andere Lager 49 Prozent. Solange es freie Wahlen gibt und deren Ergebnisse akzeptiert werden, versinke ich nicht in Pessimismus."
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Geschichte

Das derzeit so modische Tilgen problematischer historischer Figuren aus Straßennamen und Denkmälern ist nichts anderes als ein Weißwaschen der Geschichte, meint Marc Tribelhorn in der NZZ: "In der Tendenz wird die Geschichte auf diese Weise zur Wohlfühlzone: Alles, was unseren heutigen Wertvorstellungen entspricht, ist genehm. Der Rest muss verschwinden. So wird die Vergangenheit von der Gegenwart her passend gemacht. Oder wie es Lord Patton, der Vorsteher der Universität Oxford, in der Debatte um die Rhodes-Statue formulierte: 'Unsere Geschichte ist kein weißes Blatt, auf das wir unsere eigene Version von dem, was hätte passieren sollen, schreiben können - ausgehend von dem, wie wir heute denken.' Tatsächlich ist es ehrlicher und produktiver, sich mit den Traditionsbeständen auseinanderzusetzen, als sie zu tilgen und totzuschweigen, auch wenn sie uns irritieren oder provozieren."
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Stichwörter: Straßennamen

Internet

Seit Jahren predigt Evgeny Morozov, wie gefährlich die Datenabzapferei der großen Internetfirmen ist. Aber das Internet lebt immer noch und Google gibts auch immer noch. Jetzt legt Morozov in der NZZ nochmal eins drauf, indem er ganz tief in die Mottenkiste mit den Verschwörungstheorien greift: "Faktisch bohren sich die Systeme der großen Online-Dienste mithilfe ihrer Algorithmen, Filter und diverser cleverer Design-Tricks in unsere Psyche, um dort Fakten, Zusammenhänge, Aspirationen und Ängste abzusaugen, von denen wir vielleicht nicht einmal selber wissen. Aber damit wir sie preisgeben, muss unsere Aufmerksamkeit gefesselt und irgendeiner Aktivität auf der Plattform zugeführt werden: twittern, scrollen, Likes setzen. Mithin ist das Gefühl von Erschöpfung, Zerstreutheit und Müdigkeit, das viele von uns nach einer Stunde Scrollen auf dem Smartphone empfinden, keine Illusion: Während dieser Stunde müssen unser Körper und unser Geist als Bohrplattformen herhalten, während allerpersönlichste Daten tief aus unserem Unbewussten gezogen werden."
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