9punkt - Die Debattenrundschau

Unerklärliches Wunschdenken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2016. Eine Woche nach der amerikanischen Wahl verzweifeln die Kommentatoren nach wie vor an einer Arbeiterklasse, die gegen ihre eigenen Interessen gestimmt hat. Allerdings ist auch die neumodische Linke am Verhalten dieser Wähler schuld, meint Nick Cohen im Guardian. Auch bei Facebook wird jetzt darüber nachgedacht, ob man eine Filterblase erzeugt hat, berichtet die New York Times - der Begriff selbst wird allerdings laut Carta in Frage gestellt. Und alle lieben jetzt "die letzte Verteidigerin des freien Westens", Angela Merkel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.11.2016 finden Sie hier

Politik

Ein paar Jahre nach den Grexit-Verhandlungen, in denen Angela Merkel noch gern mit Hitler-Bärtchen gezeichnet wurde, schlägt ihr nun allenthalben Liebe entgegen: "Die Wahl Donald Trumps mach Angela Merkel zur letzten Verteidigerin des freien Westens", schreiben Alison Smale und Steven Erlanger in der New York Times. "Merkel muss ein wieder auflebendes Russland einhegen, das sein Modell einer 'illiberalen Demokratie' durch Subventionierung demagogischer Parteien im ganzen Kontinent verbreitet und die Flamme des Populismus anfacht. Da Trump offen Wladimir Putin bewundert, wird es sogar schwierig werden die Sanktionen gegen Russland wegen Besetzung der Krim aufrechtzuerhalten."

Armut, Neid auf die ach so perfekten Obamas, Rassismus und ein unerklärliches Wunschdenken - das alles hat dazu geführt, dass so viele Menschen im Rust Belt für Trump gestimmt haben, meint der amerikanische Autor Donald Ray Pollock im Interview mit dem TagesAnzeiger. "Viele Arme in den USA sind ja dagegen, dass die Steuern für Reiche erhöht werden. Wir reden hier von Leuten, die Mühe haben, überhaupt über die Runden zu kommen. Sie sind zwischen 50 und 60, aber sie klammern sich noch immer an die Hoffnung, dass sie eines Tages reich sein werden. Und dann wollen sie sicher nicht hohe Steuern zahlen. Für mich ist das fast die Definition von Verzweiflung: Man arbeitet seit 25 Jahren im Walmart und glaubt immer noch, man könnte ein Donald Trump werden. Es ist merkwürdig, wie die Leute denken."

Im Interview mit der Berliner Zeitung macht die amerikanische Kolumnistin Marcia Pally den Anti-Autoritarismus und Anti-Zentralismus der Amerikaner für das Wahlergebnis verantwortlich, auf die man sich verlassen kann, auch wenn dabei die eigenen Interessen unterspült werden: "Er hat die einfachen Leute davon überzeugt, dass er auf ihrer Seite steht, und zugleich ein Steuerprogramm aufgelegt, dass den Konzernen Milliarden und Abermilliarden von Dollars in die Kassen spülen wird. Für die Arbeiterklasse und die Mittelschicht wird dabei nicht viel herausspringen - aber das ist deren Angehörigen offensichtlich egal."

Nick Cohen macht im Observer auch die mangelnde Empathie der neumodisch-akademischen Linken für den Erfolg der Rechtspopulisten im Arbeitermilieu verantwortlich: "Stellen Sie sich vor, wie es sich für einen Arbeiter in Bruce Springsteens Youngstown anfühlen muss, wenn die college-gebildeten Linken 'white privilege' anprangern, während er einen Scheißjob und miserables Leben hat. Oder googeln Sie, wie oft 'straight white males' in linken Medien kritisiert werden und versetzen Sie sich in einen einen Minenarbeiter, der sich in einer Sozialwohnung in Yorkshire die Lunge aus dem Leib hustet."

Auf Zeit online denkt Nils Markwardt über genau diesen Vorwurf nach, das "arrogante linksliberale Milieu" sei selbst schuld am Wahlsieg Trumps, weil es angeblich die Armen verachte: Erstens stimme es nicht, dass Trump nur aufgrund der Stimmen aus der weißen Arbeiterklasse gewonnen hat, Clinton lag bei den Geringverdienern vorn, so Markwardt. Zweitens gehe die Kritik an der Trump-Kritik dem Milliardär schlicht auf den Leim. Dass der die Interessen der Arbeiterklasse ernst nehme, sei doch Unsinn: "Das Gegenteil ist der Fall: Trump steht für einen Klassenkampf von oben. ... sein politisches Programm besteht etwa darin, dass er beabsichtigt, den Spitzensteuersatz von 40 auf 25 Prozent zu senken und das Gesundheitswesen wieder vollständig zu privatisieren. Trumps finanzpolitischer Berater ist Steven Mnuchin, der 17 Jahre bei Goldman Sachs arbeitete." 

Direkt nach der Wahl haben die Demokraten sofort wieder auf nett gemacht und von Barack Obama über Hillary Clinton bis zu Bernie Sanders die Hand ausgestreckt und Trump Unterstützung zugesagt. Harry Reid, scheidender Senator der Demokraten, ist nicht bereit zu vergessen, mit welchen Mitteln Trump die Wahl gewonnen hat, berichtet David Smith im Guardian: "'The election of Donald Trump has emboldened the forces of hate and bigotry in America,' the veteran Nevada senator said. 'White nationalists, Vladimir Putin and Isis are celebrating Donald Trump's victory, while innocent, law-abiding Americans are racked with fear.'"

In der FAZ macht Verena Lueken den entscheidenen Unterschied zur Wahl Barack Obamas deutlich: In seinem Fall waren viele außer sich vor Wut, wie sie auch bei einem Wahlsieg Hillary Clintons gewesen wären. "Aber niemand hätte Angst gehabt. Nicht vor ihr, nicht davor, was sie tun würde, nachdem sie vereidigt wäre. Davor, dass ihm Rechte entzogen würden. Denn es sind nicht nur die gebildeten, wohlhabenden Schichten in den Großstädten, die Toleranz predigen und jetzt verloren haben. Sondern jene Minderheiten, die Trump nicht müde wird zu beschimpfen, zu beleidigen und in den Dreck zu ziehen."

Die Demokraten hätten halt nicht Hillary Clinton aufstellen sollen, meint Louis Begley in der NZZ und skizziert dann die Folgen der Trumpwahl: "Die Dominanz der Konservativen im Obersten Gerichtshof stellt für Amerika die größte Gefahr dar. Sie wird mit einiger Sicherheit zu einer drastischen Einschränkung der Rechte führen, die Frauen im Bereich der Geburtenkontrolle zugebilligt werden. Die Voting Rights Act, die die Wahlrechte von Minderheiten garantieren soll, und die kümmerlichen Überreste der Affirmative Action dürften zur Disposition stehen. ... Die Reichen können sich auf Steuererleichterungen freuen, und aus der Dodd-Frank Act, die den Finanzmarkt auf Transparenz und Verantwortlichkeit verpflichten sollte, dürften die für die Banken unbequemsten Auflagen gestrichen werden."

Einer der Architekten des Erfolgs von Donald Trump ist der Alt-Right-Verschwörungstheoretiker Steve Bannon, der mit einem Posten im Weißen Haus belohnt wird. Sehr viel retweetet wird im Moment ein riesiges Porträt über ihn, das Joshua Green schon vor einem Jahr in bloomberg.com vorlegte: "Dieser Mann ist der gefährlichste politische Akteur in Amerika."

Der New Yorker hat die Stimmen von 16 Autoren wie Hilary Mantel, Jill Lepore, Junot Diaz oder George Packer über "Trumps Amerika" gesammelt.
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Internet

In der New York Times zitiert Mike Isaac aus privaten Chats einiger Facebook-Manager, die zeigen, dass man sich bei Facebook sehr wohl Gedanken macht, ob die Plattform  das Wahlverhalten beeinflusst: "Einige Angestellte sind besorgt über die Ausbreitung rassistischer und sogenannter alt-right-Memes in dem Netzwerk - das zeigen Interviews mit zehn aktuellen und ehemaligen Facebook-Angestellten. Andere fragen sich, ob sie zu einer 'Filterblase' zwischen Nutzern, die sich stark in einem Umfeld mit gleichen Ideen bewegen, beigetragen haben."

Ben Thies stellt in Carta den Begriff der "Filterblase" in Zweifel, der unter anderem das Verhalten der Trump-Wähler und die Blindheit der Mainstream-Medien für den Ausgang der amerikanischen Wahlen erklären soll. "Die meisten Studien zu diesem Thema sehen den Hauptgrund für einseitigen Nachrichtenkonsum nicht in der algorithmischen, sondern in der psychologischen Filterung. 'Selective exposure' lautet das Stichwort: Individuen suchen sich unterbewusst bevorzugt Informationen, die mit ihren bestehenden Ansichten übereinstimmen. Diese Art der Filterung gab es bereits vor dem Internet, und sie äußerte sich beispielsweise in der Wahl der Tageszeitung." Mehr dazu bei Christoph Kappes.
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Medien

Netzpolitik ist ein gemeinnütziges und durch seine Leser finanziertes Medium. Nun ruft das Team recht dramatisch zu neuen Spenden auf - sonst drohen Stellenstreichungen: "Der Ausbau der Redaktion ist mit den Spenden aus der Landesverrat-Affäre bezahlt. Diese Gelder werden in den kommenden Monaten verbraucht sein. Das heißt: Sollten sich die Spenden nicht monatlich um 5.000 bis 10.000 Euro erhöhen, werden wir recht bald g"zwungen sein, wieder Stellen abzubauen. Und damit unser redaktionelles Angebot drastisch zu verringern."
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Gesellschaft

In der NZZ geißelt Milosz Matuschek die Generation Y und ihren Neo-Konventionalismus, diese "Selbstverpflichtung auf kollektives Lebenszwergentum", die keinen Raum für Experimente und Individualität lasse: "Die Lebenswelt wird offenbar als schrumpfende Komfortzone wahrgenommen, die wie eine Eisscholle dahinschmilzt, und auf welcher man sich wie Pinguine in der Mitte aneinander kuscheln muss."
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Stichwörter: Matuschek, Milosz