9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Fußgänger mit Rollkoffer sowieso

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2015. Ungarn öffnete den Eisernen Vorhang. Nun zieht es eine Natodrahtgrenze - und die ist auch ein Symbol, schreibt der Tagesspiegel. Nun stellt sich heraus: Die anderthalb Millarden Euro, die angeblich aus Versehen zu viel in die Haushaltsgebühr geflossen waren, sind in Wirklichkeit der "Finanzbedarf" der öffentlich-rechtlichen Sender - alle anderen Medien sind verblüfft. Die Berliner Zeitung bringt eine neue Episode aus der Entrauchungshauptstadt Berlin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.08.2015 finden Sie hier

Europa

Ungarn hat einst den Eisernen Vorhang geöffnet und baut nun einen neuen, schreibt Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel: "Ungarns Weg von damals bis in dieses 2015: So plakativ er sein mag und so viele nationale Besonderheiten ihn prägen - er drängt sich auf als Metapher für den Zustand des ganzen Kontinents. Nur dass seine Natodrahtgrenze sichtbarer ist als andere Grenzen, staatliche wie individuelle; er funktioniert auch, einstweilig, als Symbol für die vielen bürokratischen Stoppzeichen, mit denen die Länder des desorientierten Kontinents ihre Abwehr zu straffen suchen."

Im Interview mit André Böhmer von der Leizpiger Volkszeitung spricht Peter Richter, heute Kulturkorrespondent der SZ in New York, über sein Herkunftsland Sachsen: "Der Ruf des Landes ist so fundamental im sogenannten Arsch wie er tiefer gar nicht drin sein könnte."
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Medien

Ursprünglich hieß es ja, die neue Haushaltsgebühr für die Öffentlich-Rechtlichen (auch "Zwangsgebühr" oder "Demokratieabgabe") sei aufkommensneutral, dann waren es doch anderthalb Millarden Euro mehr als man sich angeblich gedacht hatte. Das den Bürgern zu viel abgeknöpfte Geld liegt auf Sperrkonten. Nun melden es die Anstalten als Finanz-"Bedarf" an. Und die ARD will außerdem 99 Millionen Euro jährlich mehr.

Markus Brauck kommentiert bei Spiegel online: "Dass die Sender an dieses zusätzliche Geld unbedingt heranwollen, war absehbar. Dass sich die ARD nicht einmal damit zufrieden geben will, zeugt allerdings von besonderer Geldgier."

Im Interview mit Claudia Tieschky von der SZ sagt ARD-Vorsitzender Lutz Marmor: "Es wurde an vielen Stellen im Programm gespart, nicht nur bei Filmbudgets. Sparen ist ein flächendeckender Prozess, der trifft auch freie Mitarbeiter. Natürlich wird wieder mehr Geld ins Programm fließen müssen, das ist unsere Existenzgrundlage." A propos Programm: Hier sendet der Perlentaucher eine Wiederholung: Das Tagesprogramm der ARD vom 6. Januar. Mehr Hintergründe zum Thema bei Horizont (hier) und bei turi2 (hier).

Die international wesentlich renommiertere BBC muss dagegen mit Kürzungen um 10 bis 15 Prozent rechnen, schreibt Daniel Bouhs in der taz: "Ende 2016 läuft - planmäßig nach zehn Jahren - die Grundlage der BBC aus, die sogenannte Royal Charter - vergleichbar etwa mit dem deutschen Rundfunkstaatsvertrag. Die Politik diskutiert deshalb schon jetzt die Zukunft der BBC. Das Problem für den Sender: Bei den jüngsten Wahlen haben recht überraschend die Tories, die Konservativen, auf der Insel gesiegt."

Gegen den Journalisten Mohamed Fahmy von Al Dschasira wird in Ägypten ein Prozess geführt, weil der Sender die Muslimbrüder unterstützt habe. Fahmy bestreitet das vehement für seine Person, aber er kritisiert im Interview mit Michael Hanfeld von der FAZ auch scharf den Sender, der hinter seinem Rücken agiert habe: "Ich interviewte im Gefängnis auch Mitglieder der Muslimbruderschaft, die Kameras und Ausrüstung für Liveübertragungen von Al Dschasira erhalten hatten und Filmmaterial an den Sender verkauften, das auf den arabischen Kanälen ausgestrahlt wurde, ohne dass man es vorher ordentlich geprüft und die Quellen genannt hätte. Ich war schockiert, als ich das erfuhr, denn das hat nichts mit Graswurzel-Journalismus zu tun und erweckt eher den Eindruck, dass Al Dschasira sich in den Kampf stürzt, statt lediglich über ihn zu berichten." Trotz der politisch manövrierenden Staatsanwaltschaft hofft Fahmy auf ein faires Urteil. CNN Money meldet unterdessen, dass die fünfte Frau in leitender Position innerhalb weniger Monate den Sender Al Dschasira verlassen hat.

Außerdem eine kleine Personalie: Rebekah Brooks wird wieder Geschäftsführerin bei Murdoch, berichtet Politico.eu. Und in der New York Times berichten Mark Scott und Nicola Clark ausführlich über den Kampf europäischer Medien-Lobbyisten gegen Google (und zeigen ein lustiges Bild mit Mathias Döpfner und Friede Springer aus dem Offizierskasino des Springer Verlags).
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Gesellschaft

Berliner Baupolitiker sind Spezialisten für Entrauchung, das weiß man ja aus den Erzählungen über die fast schon mythischen Schönefelder Flughafen. In der Berliner Zeitung erklärt jetzt Ulrich Paul, warum die Polizei auf dem Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs ein Areal von 30 mal 5 Metern Länge abgesperrt hat. Dort sind nämlich auf ebener Erde Entrauchungsplatten installiert, die man erst jetzt bemerkt hat: ""Die Klappen bestehen aus Stahl und Stein", sagt Bahnsprecher Gisbert Gahler. Sie sind 1,22 Meter mal 2,18 Meter groß und brauchen etwa 60 Sekunden, um sich zu öffnen. Über die Hydraulik können die Klappen bis zu 35 Tonnen Gewicht heben. Selbst wenn ein Kleinbus darauf stehen sollte, hätte er also keine Chance: Er würde nach oben gehoben, ein Fußgänger mit Rollkoffer sowieso."
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Stichwörter: Baupolitik, Berlin, Fußgänger

Ideen

Hans Magnus Enzensberger ist unsere Kassandra, befindet Martin Meyer in der NZZ nach Lektüre dreier älterer Essays, die in einem neuen Band "Versuche über den Unfrieden" versammelt sind. Hinzu kam ein neuer Text, "Coda: Der vergessene Gottesstaat. Eine Parabel": "Hier wird ein politisch-ideologischer Bürgerkrieg im China des 19. Jahrhunderts in Erinnerung gebracht, der auf fatale Weise dem Islamismus unserer Zeiten gleicht, mit dem wesentlichsten Unterschied, dass damals die Bibel die Rolle des Korans zu tragen hatte. Ein paar wenige Fußnoten ergänzen die älteren Arbeiten, die Enzensberger - vermutlich nicht ohne Stolz - ohne irgendwelche Veränderungen übernommen hat. Denn was heißt hier schon: älter? Fast alles trifft weiterhin ziemlich genau oder gar noch präziser ins Herz einer Welt..."
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