Heute in den Feuilletons

Es geht nicht auf nett

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2007. In der Welt will sich Veit Heinichen erst richtig über den erweiterten Schengen-Raum freuen, wenn auch Kroatien dazugehört. Die NZZ zieht die besorgniserregende CO2-Bilanz leerstehender Kirchen. Die taz hat den Untergrundfilmer Klaus Lemke nach neuen Einsichten zum Geschlechterverhältnis gefragt. Außerdem bringt die taz ein Tagesthema zum Verkauf der SZ. Die FAZ besucht den "Delaware Saengerbund", der in den USA original deutsche Weihnacht feiert. Die SZ ist ergriffen von dem Tenor Neil Shicoff als Eleazar in der Zürcher Aufführung von Jacques Fromental Halevys Oper "La Juive". Und außerdem: Frohe Weihnachten!

NZZ, 24.12.2007

"Die größeren Schweizer Städte sind voll von nahezu leeren Kirchen", konstatiert Urs Hafner: "Es ist bemerkenswert: In der Ära des entfesselten Kapitalismus, der zu Immobilienspekulation und Bodenknappheit führt, repräsentieren oft an bester Lage stehende, doch 'unternutzte', keine Rendite abwerfende und im Unterhalt kostspielige Gebäude eine kirchlich verfasste Religion, der immer weniger Leute anhängen. Die schätzungsweise über 5.000 Gotteshäuser der Schweiz verschlingen jährlich 40 bis 50 Millionen Franken an Heizkosten; die Beheizung eines großen Kirchenraumes kostet pro Jahr bis zu 50.000 Franken."

Weiteres: Als etwas wirklich Neues hat Peter Hagmann Fromental Halevys Grand Opera "La Juive" im Zürcher Opernhaus erlebt, nämlich als "ein musikalisch wie szenisch aufs Sorgfältigste ausgestaltetes, ja geradezu ausgekostetes Drama zwischen Menschen". Joachim Güntner berichtet, dass der Suhrkamp Verlag Florian Havemanns Buch "Havemann" zurückziehen musste und es demnächst mit zwei Kapiteln - und angeblich einer Liebesgeschichte - weniger erscheinen lässt. Gerda Zeltner schreibt zum Tod des französischen Surrealisten Julien Gracq. Aldo Keel würdigt den ebenfalls verstorbenen dänischen Schriftsteller Peer Hultberg.

Besprochen werden Maurice Bejarts letztes in Lausanne aufgeführtes Tanzstück "Le Tour du monde en 80 minutes" und Nicolas Stemanns Inszenierung von Dostojewskis "Brüder Karamasows" in Wien (die Paul Jandl als "Russen-Soap" empfand).

Welt, 24.12.2007

Der Schriftsteller Veit Heinichen, Erfinder des Triester Kommissars Proteo Laurenti, freut sich über die Erweiterung des Schengen-Raums ganz in der Nähe seiner Stadt, mahnt aber auch: "Für Triest und die Region Friaul-Julisch Venetien, für Slowenien ist die Erweiterung der Reisefreiheit eine Erleichterung. Der Optimismus der Bevölkerung, der auch von den Europapolitikern beschworen wird, entspricht aber erst dann den neu geschaffenen Tatsachen, wenn die nächste Erweiterung mit dem Beitritt Kroatiens geschaffen ist."

Im Feuilletonaufmacher behauptet der Theologe Jens Schröter pünktlich zu Weihnachten, dass Jesu Geschichte die Hoffnungen der Menschen berge. Elmar Krekeler rät aber in der Leitglosse, diese gute Nachricht nicht unter Einsatz mittelmäßiger Alte-Musik-Ensembles zu zelebrieren. Sven Felix Kellerhoff empfiehlt eine Dokuserie über Napoleon und die Deutschen, die zu Weihnachten im Ersten läuft. Hendrik Werner meditiert über immer kollektivere Kochsendungen im Fernsehen. Und Manfred Flügge schreibt zum Tod des Schriftstellers Julien Gracq.

Besprochen werden eine Dramatisierung der "Brüder Karamasow" in der Regie Nicolas Stemanns am Wiener Akademitheater, Juli Zehs Stück "Schilf" am Münchner Volkstheater, die Ausstellung "Otto Dix und die Kunst des Porträts" in Stuttgart und Filme, darunter Nicolette Krebitz' "Das Herz ist ein dunkler Wald" (mehr hier) mit Nina Hoss.

FR, 24.12.2007

Jürgen Ritte würdigt den französischen Schriftsteller Julien Gracq, der im Alter von 97 Jahren gestorben ist, als Autor, der von seinen Lesern zunächst einmal etwas Mühe verlangte. "Eine Anstrengung freilich, die längst verloren geglaubte Genüsse im Umgang mit Büchern bereitete: wie in vergangenen Zeiten legte man mit einem vorzugsweise schönen Messer nacheinander die Seiten frei und hatte gleichzeitig die Garantie, als erster Leser in neues Terrain vorzudringen."

Weiteres: Abgedruckt ist eine vor fünfzig Jahren erstmals erschienene Weihnachtsgeschichte von Jack Kerouac. Jürgen Verdofsky schreibt zum Tod des dänischen Erzählers und Analytikers Peer Hultberg. In einer Times mager veranlasst die Nähe des Mars Hans-Jürgen Linke zu Weihnachtspessimismus.

TAZ, 24.12.2007

Über die Feiertage gibt es acht lange Interviews als Lesestoff. Für die Unterhaltung sorgt Klaus Lemke. Peter Unfried erfährt alles über Baader. Und Mädchen. "Also, ich mache Filme. Insbesondere Mädchenfilme. Weil ich das wirklich sichere Gefühl habe, dass gerade die Mädchen aus dieser rigiden weiblichen Selbstinszenierung ausbrechen wollen. Die Mädchen sind ja selber schuld, dass sie in die Falle reinlaufen, aber sie haben ein Gespür dafür, dass das unbefriedigend ist. Und um aus dieser Falle rauszukommen, bedarf es keines Frauenverstehers, sondern eines Bösen ... Das ist die Botschaft meiner Filme, und das ist auch das, was ich zu sagen habe. Es gibt nur einen Weg, wirklich am Leben teilzunehmen für ein Mädchen. Sie müssen im Bett Freiwild für ihren Partner sein und im Leben das Fegefeuer. Nicht umgekehrt. Das ist das Verwirrende. Es geht nicht auf nett."

Eher lehrreich ist Jan Feddersens Gespräch mit dem Kasseler Soziologen Heinz Bude, der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und einen offenen Umgang mit Migranten anmahnt. Weitere Interviews gibt es mit Gewaltopfer Noel Martin, Grünen-Politikerin Antje Hermenau, Lehrerin Helena Päßler, Umweltaktivist Peter Ainsworth, Deserteur Agustin Aguayo und Kartoffelbauer Karsten Ellenberg. Außerdem gibt es einen dreiteiligen Rückblick auf das Medienjahr, von A-H, I-Q und R-Z. Der chinesische Schriftsteller Xu Xing wünscht sich was. Und Menschen von Hermann Scheer bis Dieter Thomas Heck beantworten gewichtige Fragen zu 2008.

Auf den Tagesthemenseiten wird der Verkauf der SZ an die Südwestdeutsche Medienholding beleuchtet. Klaus Raab spricht von einem überrashenden Zeitpunkt für die Entscheidung, "stg" berichtet von Fusionsängsten der anderen Zeitungen des neuen Besitzers. Auf der Meinungsseite betrauert Steffen Grimberg den Verlust an Pressevielfalt.

Schließlich Tom.

FAZ, 24.12.2007

Wie man in der amerikanischen Diaspora deutsche Weihnachten feiert, zeigt der "Delaware Saengerbund" (Website), den Katja Gelinsky besucht hat: "Der 'Delaware Saengerbund' versucht sich im amerikanischen Schmelztiegel architektonisch mit aufgemaltem Fachwerk und Hirschgeweih am Balkongiebel zu behaupten. Auch das Foyer wird geprägt durch die typischen Insignien deutscher Volkstümlichkeit: Die Wände sind geschmückt mit Sinnsprüchen in Frakturschrift, in den Regalen reihen sich Bierhumpen und Weinkrüge. Nostalgische Rustikalität bis zum stillen Örtchen: Farbenfrohe Schildchen mit dem Hinweis 'Modder - do!', 'Vadder - do!' weisen Frauen und Männern den richtigen Weg."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube stellt die Forschungen Hans Försters vor, der belegen will, dass Weihnachten keineswegs eines heidnischen Fests wegen dort im Kalender liegt, wo es liegt, sondern einfach aufgrund des Sonnenwenddatums. Tony Blair ist zum Katholizismus übergetreten - und Gina Thomas wundert es nicht, da die anglikanische Kirche, weil sie "weibliche Priester zulasse, naturwissenschaftliche Medizin unterstütze" und "Gewissensspielraum in vielen Fragen gestatte", ihrer Ansicht nach dem "Zeitgeist anheimgefallen" ist. In der Glosse fragt sich Joachim Müller-Jung, warum es zuletzt eine sechshundertprozentige Steigerung des wissenschaftlichen Aufsatzeingangs mit Datum 25. Dezember gegeben hat. Andreas Platthaus erzählt die Geschichte französischer Weihnachtscomics. Alexander Kosenina stellt Johann Daniel Falk, den Dichter des Weihnachtslieds "O du fröhliche" vor. Ein im Netz ungenannt bleibender Autor gratuliert dem Schriftsteller Jean Echenoz zum Sechzigsten. Zum Tode Julien Gracqs, eines "der wichtigsten französischen Schriftsteller des Jahrhunderts", schreibt Joseph Hanimann. Den Nachruf auf den dänischen Autor Peer Hultberg hat Heinrich Detering verfasst.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung einer Theaterversion von Einar Schleefs Roman "Gertrud" in Frankfurt, ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Alter Musik, dirigiert von William Christie, mehrere Uraufführungen bei der "Musica Viva" in München, und Bücher, darunter Alex Capus' Roman "Eine Frage der Zeit" und, auf der Sachbuchseite, der Briefwechsel zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 24.12.2007

Neil Shicoff, New Yorker Tenor und Sohn eines Rabbiners, singt die Rolle seines Lebens in Jacques Fromental Halevys Oper "La Juive", die gerade in Zürich zu sehen ist. Reinhard Brembeck erlebt dort Historisches. "Weil Shicoff diesen Eleazar nicht nur eindrucksvoll singt und prägnant spielt, sondern ihn rückhaltlos auslebt, seine Existenz in dieser Rolle verbrennt. Seit der Callas hat es nur ganz wenige Sänger in ganz wenigen Rollen gegeben, die Ähnliches gewagt haben. So sprengt Shicoffs Eleazar den bloß ästhetischen Rahmen, den das Operngeschäft in der Regel vorzugeben pflegt. Das Stück gerät in eine Realitätsnähe, die am Ende der Zürcher Aufführung dem Publikum offenbar nicht mehr ganz geheuer war. Denn Halevy und Shicoff verhandeln in Eleazar differenziert packend den Leidensweg eines jüdischen Extremisten, eines selbstmörderischen Racheengels, eines Erniedrigten und Beleidigten, der von einem christlichen Mob zu einer der schlimmsten nur denkbaren Grausamkeiten getrieben wird."

Weitere Artikel: Burkhard Müller mag Raoul Schrotts in der FAZ vom Wochenende veröffentlichten Theorie über Homer als Kilikier (mehr hier) gern glauben, die Frage nach der unerhörten literarischen Qualität der Ilias ist für ihn aber immer noch nicht beantwortet. Simone Veil, ehemaliger KZ-Häftling, Pariser Gesundheitsministerin und erste Präsidentin des Europa-Parlaments, hat ihre Autobiografie vorgelegt, wie Jeanne Rubner weiß. Johannes Willms schreibt den Nachruf auf den französischen Schriftsteller Julien Gracq. Gerd Bockwohlt verfolgt "O du fröhliche" bis zu den sizilianischen Fischern zurück.

Auf das Wachstum des deutschen YouTube-Clons myvideo weist Simon Feldmer auf der Medienseite hin.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des niederländischen Malers Geertgen tot Sint Jans in der Sammlung Oskar Reinhart in Winterthur, Nicolas Stemanns "vage" Inszenierung von Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" am Wiener Akademietheater, neue Film-DVDs wie Agustin Diaz Yanes' "Alatriste" und Bücher, darunter die von Ernst Wolfgang Becker herausgegebenen Briefe Theodor Heuss' von 1945 bis 1949 sowie Hans Försters Studie über "Die Anfänge von Weihnachten und Epiphanias" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).