Heute in den Feuilletons
Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Juli 2005
30.07.2005. In der Welt geißelt Hans Ulrich Gumbrecht das geschichtsversessene Biedermeier, das über all die Gedenk- und Jahrestage das heutige Leben vergisst. Die FAZ mahnt: Wer Blüten in Bayreuth pflücken möchte, muss an den Musikschulen säen. Die NZZ berichtet von einem literarischen Mauerfall am Vulkansee des Baekdu-Berges in Nordkorea. Die SZ wünscht sich einen selbstbewussteren Konservatismus in Deutschland. In der Berliner Zeitung erinnert sich Egon Bahr an die quälenden Zeiten der Großen Koalition. Die taz porträtiert den Künstler Douglas Gordon.
29.07.2005. In der SZ erklärt Anselm Kiefer, warum er im Moment noch Maler ist. In der FAZ klagt G. Ulrich Großmann vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg über den Niedergang der deutschen Kulturpolitik und ihrer Etats. Die taz porträtiert den Plattensammler und Archivar Frank Maier. In der Welt erklärt Haim Watzman, warum die Polizisten, die Jean Charles Menezes erschossen, richtig handelten. Die NZZ stellt die Palestinian Rappers vor.
28.07.2005. Die Zeit schlägt den Angriff der Killerscheiben zurück. Die taz liefert allererste Einblicke in Ingo Schulzes stark erwarteten und sehr dicken Roman "Starke Leben". In der FR bittet der Historiker Aribert Reimann, die spezifisch ästhetischen Traditionen des Kunzelmannschen Terrorismus bei der Beurteilung des Bombenanschlags auf die Jüdische Gemeinde Berlins am 9. November 1969 in Rechnung stellen zu wollen. Im Tagesspiegel fragt Moritz Rinke: "Wo ist denn da der Konservatismus geblieben?" Die Welt schildert die Urangst der polnischen Rechten vor euroenthusiastischen Schwulen.
27.07.2005. Oh je oh je! Christoph Marthalers Bayreuther "Tristan"-Inszenierung kommt gar nicht gut weg. Die Sänger gurgeln, das Orchester brüllt (so FAZ und SZ) Und Jerry Lewis tritt als Sparkassendirektor auf (so die FR). Glücklich ist aber zumindest die FAZ über Barbara Freys "Wiener Wald"-Inszenierung, die das Drama genialerweise beim Wort nimmt. Robert Menasse geißelte im Standard die Barbarei der Hochkultur in Salzburg.
26.07.2005. In der SZ fürchtet der Schriftsteller Alaa al-Aswani, dass die ägyptische Regierung durch ihre Repressionsmaßnahmen den Terror eher noch fördert. Im Figaro schreibt Gilles Kepel über die Rolle des Internets bei den Islamisten. Die NZZ berichtet über die Erfolge eines italienischen Films über Karol Woytila in Polen. In der taz formuliert Michael Rutschky ein Naturgesetz: Nur eine Linke, die sich verrät, ist fähig zu Politik. Die Welt rät: Keine Angst vor einer großen Koalition.
25.07.2005. Eines erfahren wir schon über Christoph Marthalers "Tristan"-Inszenierung, die heute die Bayreuther Festspiele eröffnet: An der Wand wird's 'ne Menge Lichtschalter geben, verrät die Bühnenbildnerin Anna Viebrock in der SZ. In der FAZ verrät Angela Merkel, was sie am "Tristan" so umtreibt: das Durchscheinen des bitteren Endes. In der taz wird die Diskussion über die Frage des Antisemitismus der 68er fortgesetzt. In der FR erklärt der Philosoph Lutz Wingert die wahren Gründe für das französische und niederländische "Nein".
23.07.2005. Die NZZ polemisiert am Beispiel von A. L. Kennedy gegen die linke Sucht, schuld zu sein. In der taz erklärt Ian Buruma, warum der europäische Wohlfahrtsstaat die Integration von Migranten erschwert. Die FR widmet sich der Vollwertkostrepublik Deutschland. In der SZ nimmt Andrzej Stasiuk dem polnischen Klempner jeglichen Nimbus. Die FAZ erkennt in den Attentaten auf London eine Radikalisierung des Attentätertums. In der Welt schreibt Michael Maar eine tagesprophetische Rezension über Harry Potter 7, und Niall Ferguson denkt über die Londoner Attentate nach.
22.07.2005. In der Berliner Zeitung erklärt Michael Walzer, warum er nicht glaubt, dass der islamische Terrorismus eine Reaktion auf den Irak-Krieg sei. In der FR schreibt Micha Brumlik über die unheimliche Allianz von antisemitischen Achtundsechzigern und dem Verfassungsschutz im Jahre 1969. Die FAZ hat deutsche Schulbücher gelesen - der Völkermord an den Armeniern kommt praktisch nirgends vor. Die SZ hat kein Mitleid mit den Franzosen, die gezwungen werden, amerikanisches Joghurt zu essen. In der NZZ lernen wir Englisch mit Samuel Johnson: "Giglet, Fopdoodle, Dandiprat, Jobbernowl".
21.07.2005. Bausch dein Kopftuch! Die Zeit stellt den neuen, den coolen Islamismus vor. Die NZZ schildert einen Konflikt im polnischen Bilgoraj: Soll man ein Denkmal für Isaac Bashevis Singer setzen? In der FR fragt Martin Mosebach: Kann man heute denn noch konservativ sein? In der taz antwortet Alexander Gauland mit ja. Die SZ sehnt sich angesichts von Verunglimpfungen wie "Dr. Schwesterwelle" nach politisch korrekt bedruckten Batikbeuteln zurück. In der FAZ beschwert sich Hans Magnus Enzensberger über die nachlassende Qualität amerikanischer Siege.
20.07.2005. In der Berliner Zeitung plädiert CDU-Politikerin Monika Grütters für ein Bundeskulturministerium. Die NZZ sorgt sich um den iranischen Journalisten Akbar Ganji. Die FR ärgert sich über schablonenhafte Kapitalismuskritik in Deutschland. In der taz erklärt die Schriftstellerin Ariane Grundies Harry Potter, wer zu den deutschen Fräuleinwundern zählt und wer nicht. In der SZ hofft der Politologe Franz Walter auf eine Große Koalition. Die FAZ kann weder dem britischen noch dem türkischen Multikulturalismus etwas abgewinnen.
19.07.2005. In der NZZ beschuldigt Ludwig Ammann die niederländische Politikerin Ayaan Hirsi Ali der "gezielten Lüge" über den Islam. In der FR meint Gerd Koenen, dass der geplante Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus im Jahr 1969 nicht einfach Ausdruck eines linken Antisemistismus war. Die FAZ lotet die moralischen Abgründe aus, die Horst Köhler nun durchschreiten muss. Die SZ erklärt, warum moderne Regisseure nichts mit Schiller anfangen können, ihn aber dennoch inszenieren. Der Tagesspiegel fragt: Wie soll die Welt ohne "Kodachrome 40" auskommen?
18.07.2005. Harry Potter 6 ist raus. Die deutschen Feuiletons haben in Windeseile gelesen und kommen zu zwiespältigen Eindrücken: Ist HP 6 nur ein Prolog zum finalen HP 7? Schafft es J.K. Rowling, die Fäden zusammenzuhalten? Die taz fragt anlässlich von Wolfgang Kraushaars Buch über den Bombenanschlag auf die jüdische Gemeinde in Berlin im Jahr 1969: Wie antisemtisch war die deutsche Linke?
16.07.2005. "Die deutschen Achtundsechziger waren ihren Eltern auf elende Weise ähnlich", stellt Götz Aly in der Welt zu Wolfgang Kraushaars Enthüllungen zum geplanten Bombenanschlag im Jüdischen Gemeindehaus 1969 fest. Außerdem verrät Jonathan Franzen, warum die Helden seines neuen Romans so deutsch sind. Die NZZ entdeckt in der Kunst frühe Hinweise auf 1968. In der FAZ stellt der Paläobiologe Simon Conway Morris klar: Kreationisten sind kümmerliche Technokraten. Die FR nimmt Abschied von ihrem nun veräußerten Verlagshaus in Frankfurt, während die taz mit dem Taurus-Express luxuriös von Istanbul nach Bagdad reist. Der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio erinnert die SZ mit seiner apologetischen Haltung zu den Deutschen im Nationalsozialismus an Steffen Heitmann.
15.07.2005. Europa muss eine Sache des Herzens und der Jugend werden, fordert Urs Schoettli in der NZZ. Freiheit oder Einheit - Europa muss sich entscheiden, fordert Ralf Dahrendorf in der SZ. In der FR lehnt Felicitas Hoppe das "Kennzeichen konservativ" ab. Die taz stellt das neue Ding aus der Karibik vor. Und in der FAZ vermutet der Biologe Manfred Laubichler politische Motive hinter dem Zeitungskommentar des Wiener Kardinals Schönborn zur Evolutionslehre.
14.07.2005. Im Zeit-Interview erklärt Ian Buruma, warum die Anschläge von London nicht als Rache für den Irakkrieg gedeutet werden sollten. Die NZZ staunt über die ungeheuer vielfältige Popmusik des indonesischen Archipels. In der SZ wünscht sich Richard Swartz den Kommunismus zurück - denn das war ein Feind, mit dem man es sich gemütlich machen konnte. Im Interview mit der Welt beschreibt Ulrich Beck die Brasilianisierung unserer Arbeitsmärkte. Die FAZ staunt über die Wahrhaftigkeit der Goyaschen Kartoffelnasen.
13.07.2005. Aus Anlass der großen Goya-Ausstellung in Berlin prägt der Tagesspiegel den feierlichen Satz: "Goya ist nicht der Prophet der Moderne, sondern der Künder des modernen Alptraums schlechthin." In der taz analysiert Heinrich-August Winkler die europäische Stimmung nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden. Die FAZ stellt Dani Karavans Denkmal für die verschwundene Synagoge der Stadt Regensburg vor. In der Welt meint Edward Luttwak: Wir sollten mit den Maßnahmen gegen den Terror nicht übertreiben. Der Kampf gegen den Terror ist ja auch gar kein Krieg meint der Soziologe Dierk Walter in der SZ.
12.07.2005. In der NZZ fordert der Soziologe Tahir Abbas eine tiefgreifende Veränderung des Islam. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Theo van Gogh beschäftigt auch die Feuilletons. In der Welt möchte der niederländische Journalist Jaffe Vink der Zivilisation ihre Feinde zurückgeben. Und die taz lässt aus einem Vergleich der britischen und der niederländischen Gesellschaft erstere als Sieger hervorgehen. In der SZ bekennt der serbische Autor Vladimir Arsenijevic seine Scham über das Massaker von Srebrenica. In der FR lässt sich Georg Klein von Isabel Allendes "Zorro" nicht beeindrucken.
11.07.2005. In der SZ fürchtet der britische Autor Lawrence Norfolk, dass nach den Attentaten eine chauvinistische Stimmung entstehen könnte. Im Tagesspiegel beschreibt der bosnische Dramatiker Almir Basovic das Morden von Srebenica als zeitgenössische Tragödie. In der taz erzählt Marcel Marceau, wie ihm die Pantomime einmal das Leben rettete. Der deutsche Filmpreis für "Alles auf Zucker" löst etwas missgelaunte Reaktionen aus. Und in der FAZ entdeckt die Fotokünstlerin Haleh Anvari einen paradoxen Hoffnungsschimmer im Ausgang der iranischen Wahlen.
09.07.2005. In der FAZ gibt A.L. Kennedy Tony Blair die Schuld an den Londoner Attentaten, und Ian McEwan schildert die Stimmung in der verletzten Stadt. Die taz bringt eine Liebeserklärung an die Filmemacherin Claire Denis. In der NZZ schreibt Laszlo Földenyi über seine Liebe zur deutschen Kultur. In der Welt erklärt Juri Andruchowytsch, warum Europa die Ukraine braucht. In der FR erklärt Hortensia Völckers die Arbeit der Bundeskulturstiftung. Die SZ besucht den funny Kafka Kim Young-ha.
08.07.2005. Alle Zeitungen sind heute voll mit Berichten und Kommentaren über die Bombenanschläge in London. Wir werden dazu gleich noch einen Link des Tages online stellen. Jetzt erstmal die Feuilletons: In der SZ bestätigt Alexander Linklater, was wir alle gestern im Fernsehen sehen konnten: Angesichts von Terror und Bomben holten die Briten das Beste aus sich heraus. Die FAZ ärgert sich maßlos über die Unfähigkeit deutscher Fernsehsender, angemessen und professionell auf Katastrophen zu reagieren. Die NZZ beobachtet deutsche Watchblogs. Die FR hat in Edinburgh das Ende der politischen Festivalkultur erlebt.
07.07.2005. In der Zeit sorgt sich Ronald Dworkin, dass die USA Mut und Würde ihrer Sicherheit opfern könnten. Die FAZ empfängt den ersten chinesischen Geländewagen auf europäischem Boden. Die SZ gibt Raymond Carver die Schuld an der Monotonie der deutschen Gegenwartsliteratur. Die FR bilanziert rot-grüne Kulturpolitik. Im Tagesspiegel verpackt Volker Schlöndorff seine Botschaft in Schokolade. Die taz lauscht dem zweiten Tonwechsel von John Cages "Organ2/ASLSP" in Halberstadt. Und Spiegel Online fürchtet einen Angriff der Briten auf Schleswig-Holstein.
06.07.2005. In der Berliner Zeitung erkundet Gerd Koenen die Komplizenschaft des Berliner Verfassungsschutzes beim Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus im Jahr 1969. In der FAZ erklärt Orhan Pamuk, warum es für ihn eine Riesenenttäuschung wäre, wenn die Türkei nicht der EU beitreten dürfte. In der FAZ erkundet Martin Mosebach die Gründe für den Erfolg von Dan Browns Roman "Sakrileg", während die NZZ die Dreharbeiten zur Verfilmung dieses Romans beobachtet. Die SZ konstatiert: "Der Honeymoon zwischen Architektur und Zeitgeist ist vorbei."
05.07.2005. In der Welt erklärt die Mezzosopranistin Susan Graham, warum sie französische Operetten liebt: sie sind so unanständig! Die Berliner Zeitung beschimpft ihre Stadt, die heute eine ihrer meistbesuchten Attraktionen abräumt. Die SZ kritisiert die europäische Linke, die unter lautstarken Beschimpfungen Tony Blairs in den Nationalismus abdriftet. Die FAZ sinniert über die großartig einsame Bundestagsrede des Werner Schulz. Die NZZ sieht sich in Rustschuk um. In der FR entwirft Ulrich Beck ein europäisches Imperium.
04.07.2005. In der SZ erinnert uns Slavoj Zizek an Takt 331 im letzten Satz von Beethovens Neunter und an alles, was daraus folgt. Die taz berichtet über Unstimmigkeiten bei der Berliner Ausstellung "Fokus Istanbul". Die FAZ zeigt sich entsetzt über einen Kotau russischer Künstler vor dem Urteil gegen den Ex-Oligarchen Chodorkowskij. In der Welt empfiehlt Tim Robbins eine adäquatere Hilfe für Afrika. Die "Live 8"-Spektakel sind allenthalben ganz gut angekommen.
02.07.2005. In der Welt bewundert Burkhard Spinnen die Raffinesse der deutschen Intellektuellen, sich nicht die Finger zu verbrennen. Die SZ spottet über die DDR-geschulte Leisetreterei der CDU. In der FR fragt sich Karl Schlögel nach einem Besuch in Kaliningrad, wie man eine ganze Stadt zum Verschwinden bringt. In der Berliner Zeitung spricht die Autorin Elif Shafak über die polarisierte Türkei. Die taz staunt über die zentralasiatische Kunst in Venedig. Die NZZ liest Leo Strauss. Und in der FAZ rechnet Gerhard Stadelmaier mit dem Regietheater des Gerhard Schröder ab.
01.07.2005. In der FAZ erklärt Monika Maron, wo rechts und links ist, wenn man sich um 180 Grad dreht. Die taz erklärt, warum die italienische Herrenmode heute solchen Wert darauf legt, italienisch zu sein. In der NZZ erzählt Richard Wagner, wie Europa auch in Osteuropa zur realen Existenzform wird. In der SZ resümiert Björk ihren neuen Film: " Die Beine fallen ab, uns wachsen fötusähnliche Schwänze."