Heute in den Feuilletons
Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
November 2005
30.11.2005. Die NZZ macht uns mit der größten Herausforderung des Bukarester Establishments bekannt: dem Club 8. In der FAZ beschreiben junge Dramatiker die tragische Erfahrung, inszeniert zu werden. In der SZ beschreibt Thomas Ostermeier die kathartische Wirkung seines Theaters auf eine Kollegin aus der Verlagswelt. Die taz beobachtet die arabische Kunstszene in Beirut.
29.11.2005. In der SZ klagt Ulrich Beck über eine Soziologie ohne Gesellschaft und eine Gesellschaft ohne Soziologie. Die FAZ unternimmt einen melancholischen Spaziergang durch eine Arbeiterstadt ohne Arbeit namens Berlin. Die Welt findet: Wir bräuchten einen klugen Dandy wie Harry Graf Kessler, verzweifelt dann aber am heutigen Personal. In der taz entlarvt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich die Kanzlerin als Papst.
28.11.2005. In der taz untersucht Gabriele Goettle zusammen mit Barbara Duden die Verstocktheit im Bauch. In der Welt empfiehlt Georg M. Oswald statt Houellebecq und Bret Easton Ellis lieber Martin Mosebach und Bernd Cailloux. Die NZZ reist mit dem Regisseur Andrij Zholdak durch die Ukraine. Und in der SZ meint Eric Posner, dass wir den Prozess gegen Saddam Hussein möglichst bald vergessen sollten.
26.11.2005. Die NZZ bringt einen Schwerpunkt über die Türkei und Europa. Unter anderem erinnert sich Feridun Zaimoglu an eine gewisse Petra. In der Welt nennt die Kinderbuchautorin Kirsten Boie erschreckende Zahlen über das Lesevermögen von Kindern. Und Niall Ferguson empfiehlt das amerikanische Modell der Integration. In der FAZ porträtiert Werner Spies den amerikanischen Künstler Robert Longo. Die SZ findet Deutschland interessant - sofern man seine Individuen in den Blick nimmt.
25.11.2005. In der Welt erzählt Jorge Edwards, wie aus einem nützlichen Schatten ein unerbittlicher Erster Mann im Staat wird. Die FR feiert den letzten kotzenden Fiesling in der Popmusik. Die NZZ ärgert sich über die Berliner Akademie der Künste, die sich in selbstzufriedener Beschaulichkeit gefällt. Die FAZ trauert um die Paris Bar. In der SZ skizziert der schwedische Verleger Svante Weyler die politische Situation in Kongo-Brazzaville.
24.11.2005. In der Zeit schämt sich Navid Kermani für Machmud Achmadineschad. In der SZ zieht Jean Baudrillard Bilanz: Es gibt keine französischen Intellektuellen, keine französische Literatur und eigentlich auch kein Frankreich mehr. Die NZZ macht sich Sorgen um die Popmusik, der irgendwie alles Subversive abhanden kam. In der FR erklärt Camille de Toledo die französischen Jugendunruhen. Die Berliner Zeitung liebt es, wie Cecilia Bartoli die Finger knetet, wenn sie singt. In der Welt wird Bernd Neumann nicht konkret.
23.11.2005. In der Welt spricht Andrzej Przewoznik über das geplante "Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität", eine Gegengründung zum "Zentrum gegen Vertreibungen". Auch die NZZ liefert Informationen dazu. Die taz nennt Bernd Neumann den "idealen Kulturstaatsminister für Leute, die das Amt eines Kulturstaatsministers im Grunde für überflüssig halten", andere loben seinen Pragmatismus. Im Tagesspiegel spricht Isabelle Huppert über Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose". Die FAZ schaut Kanzler Merkel ins Hirn.
22.11.2005. Die Welt porträtiert den neuen Kulturbeauftragten der Bundesregierung Bernd Neumann. In der FR findet Ernst Piper, dass der Beck-Verlag Luciano Canforas Buch "Demokratie - Geschichte einer Ideologie" zurecht nicht verlegt. In der Berliner Zeitung diagnostiziert der Soziologe Andreas Willisch: Die Neonazis sind die Überflüssigen Deutschlands. In Le Monde wertet Andre Glucksmann die französischen Jugendrevolten als Zeichen einer gelungenen Integration. Zum heutigen historischen Tag der Inthronisierung Angela Merkels entwickeln viele Feuilletons zudem einen lauwarmen Humor.
21.11.2005. Die Debatte um Luciano Canforas Buch "Die Demokratie - Geschichte einer Ideologie" wird fortgeführt. Die NZZ sieht die vom Beck-Verlag erhobenen Vorwürfe der Leugnung von Fakten bestätigt. Die FAZ liest Canforas Buch dennoch mit Gewinn und kritisiert außerdem die Verhaftung David Irvings in Österreich. Die taz interviewt Beate Klarsfeld und wundert sich über den Siegeszug der westlichen Küche in China. Jossi Wielers Inszenierung der "Bakchen" des Euripides in München und Sasha Waltz' neue Choreografie "Gezeiten" in Berlin werden eher skeptisch aufgenommen.
19.11.2005. In der Welt erklärt Salman Rushdie mit dem Philosophen Ibn Rush'd, warum der Koran nicht Allahs offenbartes Wort sein kann. In der NZZ erklärt Klaus Modick, warum es sich ein Schriftsteller nicht leisten kann, Bücher zu schreiben, die die Kritik honoriert. Die SZ nimmt vom Internet-Gipfel in Tunis die Erkenntnis mit, dass die virtuelle Welt die wirkliche ist. Die taz macht aus einer Wiese in Berlins Mitte einen interkulturellen Garten. Die FR erinnert an den Künstler Michel Majerus. Und die FAZ schlemmt in Venedig.
18.11.2005. Die taz beleuchtet die klassische Prosa Osama bin Ladens. Die Welt untersucht neueste Tendenzen der Begräbniskultur. Die NZZ (und die FAZ) kritisieren die französische Schulen als frontalpädagogische Paukanstalten. Die FAZ stellt die chauvinistischen Thriller des türkischen Autors Burak Turna vor. Im Tagesspiegel setzt Georg Klein Hoffnungen auf das zivilisatorische Potenzial des Fußballs.
17.11.2005. In der Zeit sucht Zygmunt Bauman einen Platz für die Überflüssigen, findet aber keinen, und das ist neu. Die FR wundert sich über die ungewohnte Schüchternheit französischer Intellektueller angesichts der Jugendrevolten. Alice Schwarzer sieht diese Jugendrevolten allerdings als reine Jungenrevolten. Außerdem in der FAZ: Horst Bredekamp verflucht Hartmut Mehdorn. Die SZ erkennt keinen Skandal in der Weigerung des Beck-Verlags, ein Buch des italienischen Historikers Luciano Canfora zu verlegen. In der NZZ erklärt der Rocksänger (und mutmaßliche Kate-Moss-Geliebte) Pete Doherty sowohl seine Kunst als auch seine Sucht aus frühkindlichen Traumata.
16.11.2005. Hauptthema heute ist Mike Newells Verfilmung des vierten Harry-Potter-Romans. Anspruchsvolle Unterhaltung auch für Erwachsene, findet die taz. Die NZZ ruft: Edelkitsch vom Feinsten! Die FAZ lobt Newells Mut zur Düsternis. Charmearm, stöhnt die Welt. In der FR erklärt Peter Fuchs, warum Integration kein besonders positiv besetzter Begriff ist - er riecht nach Arbeit. In der Welt erzählt der ukrainische Regisseur Andrij Zholdak, wie er aus Charkiw vertrieben wurde.
15.11.2005. Die FAZ hörte sieben Klaviere in einem neuen Werk von Mathias Spahlinger intelligente Musik machen, die trotzdem tonal war. In der SZ macht sich Ulrich Beck Gedanken über die revoltierenden Jugendlichen. In der Welt wendet sich Hans-Christoph Buch gegen die sozialromantische Verklärung von Gesetzesbrechern, und Irina Antonowa vom Moskauer Puschkin Museum erklärt ihre Pläne mit der Beutekunst: behalten. Die Berliner Zeitung lässt Kastraten Hoden.
14.11.2005. Überall flauen die Jugendunruhen ab, nur nicht in unseren Feuilletonredaktionen. In der FR meint der Romanautor und Essayist Sami Tchak, dass Araber und Schwarze niemals eine Chance in Frankreich erhalten werden. Die FAZ entdeckt dagegen in Evry, südwestlich von Paris, Zeichen der Hoffnung. In der NZZ beklagt Michel Wieviorka die Opfermentalität. Die SZ nimmt die Belgrader Kunstszene in Augenschein. In der FAZ schreibt Hans-Christoph Buch über Haiti vor den Wahlen - ein Horrorkabinett. Und alle machen sich sehr große Sorgen um den Spiegel.
12.11.2005. Die Revolte in den Banlieues feuert die Feuilletons zu analytischen Höchstleistungen an. In der Welt erklärt Michael Kleeberg den Aufstand aus dem Konservatismus der französischen Eliten. In der taz hält ihn der Soziologe Michel Pialoux für einen Ausdruck von Machismo. In der FR spricht Michel Wieviorka lieber von Subjektivität. Für die NZZ hat das alles mehr mit Hiphop als mit dem Islam zu tun. Die SZ macht Architekten und Stadtplaner verantwortlich. In der FAZ dagegen erklärt Emmanuel Todd seelenruhig: So funktioniert Assimilierung auf französisch.
11.11.2005. Die NZZ sorgt sich anlässlich des World Summit on the Information Society um den freien Informationsfluss im Internet. In der FR zieht der Lyriker Tymofiy Havryliv ein Jahr nach der Orangenen Revolution in der Ukraine trotz allem eine positive Bilanz. Die Welt porträtiert den chinesischen Soziologen Wang Hui, der die Idee des Sozialismus gegen die Politik der kommunisitischen Partei wendet. Die SZ findet die neue Madonna zu rosa, zu Spandex, zu Pornofrisur.
10.11.2005. In der FR sagt Andre Glucksmann Nein zum französischen Nihilismus. In der Zeit gesteht Lars von Trier: "Ich bin eine amerikanische Frau." Die NZZ begleitet die Maghreb-Staaten auf dem schwierigen Weg in eine zivile Gesellschaft. Die taz berichtet pünktlich zum Staatsbesuch von Hu Jintao, dass die Chinesen nach wie vor politische Gefangene in Psychoknäste stecken. In der Welt geht Theodore Dalrymple nach Clichy-sur-Jungle.
09.11.2005. In der Berliner Zeitung fragt Alain Touraine, warum die Franzosen die gegenwärtige Krise so schlecht verstehen. In Le Monde möchte Tariq Ramadan die Ausschreitungen allein sozial, aber nicht religiös oder ethnisch verstanden wissen. In der Welt ächzt der Berliner Schriftsteller Günter de Bruyn über die "Pest der Ostanalyse". Die FAZ wirft Lars von Trier didaktische Rhetorik und laubgesägte Ideologie vor.
08.11.2005. "Es ist zum Heulen", schreibt der Autor Francois Bon in der NZZ über die Pariser Jugendunruhen. Die FAZ macht die schlecht verarbeitete Kolonialgeschichte Frankreichs für den Gewaltausbruch mit verantwortlich. Die SZ beklagt die selbstverordnete Blindheit der französischen Republik. Die taz stellt den Zusammenhang mit New Orleans und Ceuta und Melilla her.
07.11.2005. SZ, NZZ und FR analysieren Wut und Hass der französischen Jugendlichen. Die FAZ interpretiert den Finanztod der deutschen Theater. In der taz interpretiert Norbert Bolz die Kurzfristigkeit der Politik. Und in der Welt zieht Peter Millar eine Mauer durch London.
05.11.2005. In der Welt erklärt Alex Capus, warum Pariser Jugendliche ihre Banlieues in Brand setzen, sich aber nicht in die Innenstadt trauen dürfen. Die NZZ rühmt die herzlose Beobachtungsgabe der Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer. Die SZ hofft nach dem Abtritt der westdeutschen Alpha-Tiere auf den Pragmatismus ostdeutscher Parteichefs. Die FR fürchtet dagegen die Übermacht trutschliger CDU-Frauen in Angela Merkels Kabinett. In der Berliner Zeitung stellt Diedrich Diederichsen klar, dass ein Papst kein Pop-Star sein kann. Und die taz erzählt die Geschichte einer Liebe aus Deutschland.
04.11.2005. Die FAZ fordert nach den jüngsten Pisa-Befunden die Verstaatlichung der Kindererziehung in Migrantenmilieus. Die SZ fürchtet eine Degradierung der DDR zur historischen Fußnote. Die taz besucht die Schriftstellerin Brigitte Kronauer, die morgen den Georg-Büchner-Preis erhält. Die NZZ entdeckt in Caral das älteste Quipu der Welt. Die Welt fiebert Kate Bushs neuem Album entgegen, und die FR versinkt in Melancholie.
03.11.2005. Die Zeit schildert Chinas Praxis, Menschen in die Psychiatrie zu stecken, die bei politischen Themen eine "Behinderung des logischen Denkens" aufweisen. Die Welt stellt das neue Wörterbuch der Niederländischen Sprache vor, in das auch die "Beatrixfrisur", der "Knuffelallochtoon" und der "Alibiali" Eingang gefunden haben. In der SZ beklagt Stephan Märki die Erosion der deutschen Theaterlandschaft. Die FAZ feiert Lav Diaz' Elf-Stunden-Epos "Evolution of a Filipino Family" als Meilenstein des Weltkinos.
02.11.2005. In der SZ fordert und fördert Heinz Bude Visionen für eine neue SPD unter Leitung des guten Hirten Gerhard Schröder. Die NZZ erinnert an das jüdische Exil in Schanghai. Die FAZ analysiert die Lage im Kaschmir.
01.11.2005. In der NZZ erklärt der Birminghamer Ethnologe Tahir Abbas Großbritanniens muslimische Führungsfiguren für gescheitert - und zwar auf allen Ebenen. Die taz bewundert Rosemarie Trockels Strickarbeiten in Petersburger Hängung, in denen die FR sogar die frühe Version einer postfeministischen Kampftechnik erkennen möchte. In der Welt hofft Richard Schröder auf ein Dresdener Wunder für Berlin. Die FAZ bewundert Julia Hummer für ihre dylanhafte Nonchalance.