Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

August 2010

Die Richtung ist eindeutig

31.08.2010. Thilo Sarrazin auf allen Kanälen. Es ist zwar peinlich, aber es gibt auch einen demokratischen Rassismus, muss die SZ feststellen. Die FAZ erzählt, wie Sarrazin den flachen Haken eines Reporters aus Holland parierte, der ihn mit Geert Wilders verglich. Und was hat es mit den Genen der Juden auf sich?, fragt die Welt. Außerdem: Youtube wird zahlbar, meldet Gawker, zumindest teilweise. Micha Brumlik graut in der taz vor Juden, die der Hamas stolz die Hand drücken. Reuters meldet: Putin will 2012 wieder russischer Präsident werden und findet, dass Demokraten, die demonstrieren, verprügelt gehören.

Auf dieser Position bleibe ich

30.08.2010. Thilo Sarrazin beherrscht die Debatte. Für Necla Kelek in der FAZ liefert er eine korrekte Beschreibung der deutschen Zustände. In der Welt erklärt er selbst, warum seine Intervention als sozialdemokratisch zu verstehen sei. Außerdem: Die FR ist begeistert von der Architekturbiennale in Venedig, wo Rem Kohlhaas laut SZ die Exzesse des Denkmalschutzes bekämpft. Im Economist warnt Jay Rosen die Zeitungen: Drucken bringt Geld, hat aber keine Zukunft.

Mit strengem Imperatorenblick

28.08.2010. Die NZZ beschreibt einen Streit zwischen dem Übersetzer Laszlo Kornitzer und dem toten Autor Istvan Örkeny. Die Welt schrumpft unter den kühlen Augen Marianne Brüns auf Hamstergröße zusammen. In der taz sieht Barbara Vinken eine unheilige Allianz aus Reaktionären, Feministinnen und Grünen am Werk, Frauen zurück an den Herd zu scheuchen. Die SZ lernt von Bangkok, wie man tote Plätze neu belebt.

Ein Hahn auf dem Nacken festgebunden

27.08.2010. Wolf Biermann erzählt in der Welt, wie Manes Sperber ihm einen Zahn zog. In der FAZ schreibt Jan Faktor über das Konzentrationslager Christianstadt, wo seine Mutter und Großmutter Zwangsarbeit für die Nazis leisteten. In der SZ kritisiert Herfried Münkler die Rolle von Wikileaks bei den jüngsten Enthüllungen über Afghanistan. Techcrunch amüsiert sich über die Anwälte von Facebook, die das Wort Face als Markenzeichen schützen wollen.

Wir brauchen keine Achsen mehr

26.08.2010. In der Jungle World spricht Agnes Heller über die Kontinuität des Antisemitismus in Ungarn. Im Freitag unterhalten sich vier Architekten über Sinn und Unsinn des Stadtschloss-Wiederaufbaus in Berlin. Die FAZ wirft Thilo Sarrazin Rassi... äh, Biologismus vor. In der Zeit sagt Sarrazin: "Ich bin kein Rassist" und stellt dann Thesen über Fertilität und Durchschnittsintelligenz auf. Außerdem feiern wir die Renaissance des Lindy Hop.

Die kleinen Pfützen

25.08.2010. Das Handelsblatt hat von der Wikipedia gelernt: Es gibt im Leben auch Altruismus. Die FR ist nicht zufrieden mit der neuen Dauerausstellung der "Topografie des Terrors". In der taz macht Dani Levy folgende Alternative auf: Entweder es ist lustig, oder es kostet mich den Kopf. Die New York Times meldet: Die Agentur Wylie wird keine eigenen Ebooks produzieren - Randomhouse hat gewonnen. Carta legt offfen, wie die Stadt Duisburg im Interesse der Transparenz auf Kommunikation verzichtet.

Noch immer herrscht Ausnahmezustand

24.08.2010. Die NZZ würdigt die Anerkennung des dritten Geschlechts in Indien und Pakistan. In La regle du jeu schreibt Isabelle Adjani an Sakineh Ashtiani, die gesteinigt werden soll. Die Welt schickt eine Reportage aus Thailand, wo der Krieg der Roten und der Gelben nur oberflächlich befriedet ist. Die SZ beschreibt den Kampf des türkischen Pianisten Fazil Say gegen den Arabesk-Pop seines Landes. Die FAZ erstirbt mit Mahlers Neunter unter Abbado.

Christoph hatte mindestens 11 Dimensionen

23.08.2010. Christoph Schlingensief ist tot. Die Feuilletons feiern ihn als Künstler jenseits der Kunst: "als wäre der Messias, dessen Rolle er als Künstler gespielt hatte, zum Heiland geworden",  als ins Scheitern Verliebten, aber auch als zart, verletzlich, zugeneigt. Schlingensief selber dachte bis zum Schluss pragmatisch und erzählt in einem Interview auf seinem Blog, wie er im Kino klauen lernte und diese Kunst im Theater perfektionierte.

Unmöglich, sich nicht beobachtet zu fühlen

21.08.2010. In der NZZ trauert Roland Barthes um seine Mutter. In der SZ shootet Nicholson Baker sein Ego. Die Welt greift literaturkritische Insiderspielchen auf. Da geht's ums Gstrein und Hettche und FAZ und Zeit und SZ. Und wir setzen die Links! Die FAZ geißelt die Rolle westlicher Handy-Produzenten in den Kriegen  im Kongo. In der taz ruft Romani Rose anlässlich der Ausweisung von Roma aus Frankreich: "Die Roma sind Bürger Europas."

Verbreitet sich in Windeseile massenhaft

20.08.2010. Vor siebzig Jahren starb Leo Trotzki an einem Eispickel. Für die Welt war er ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Die FAZ bringt eine ganze Seite über die Iranerin Sakineh Ashtiani, die zum Tod durch Steinigung verurteilt ist. Im Guardian spricht Christiane Kubrick über ihren Onkel Veit Harlan. Die FR zeigt am Beispiel der Bertelsmann-Stiftung, wie wohltätig Steuernsparen sein kann. Das Wall Street Journal fragt: Warum nimmt Guido Westerwelle seinen Lebenspartner nur in jene Länder mit, in denen Homosexualität erlaubt ist?

Auf die Mutter kommt alles an

19.08.2010. Die Festivalberichterstattung der freien Mitarbeiter der FAZ setzt sich fort. Nachdem Elke Heidenreich erzählt hat, wie Salzburg für sie war, darf nun Thomas Gottschalk berichten, was ihm in Oberammergau widerfuhr. Der Tagesspiegel plädiert für die Literarizität Thomas Hettches. Huntingtons Diagnose vom "Clash of Civizations" traf zu, erklärt Ayaan Hirsi Ali im Wall Street Journal. Die Zeit feiert Peter Wawerzineks Roman "Rabenliebe". Techcrunch erzählt, wie Facebook den Markt für Lokalanzeigen aufrollen will. Und Aporrea erklärt, wie es zum 11. September kommen konnte.

Bottich sagt er, Rettich

18.08.2010. Die taz wundert sich überhaupt nicht über die geringe Spendenbereitschaft für Pakistan: ein Scheißstaat. Die FR erklärt einige gemeinsame Traditionen der NPD und der Linken. Die Welt schleppt sich deprimiert über die Hamburger Museumsmeile. Die FAZ warnt vor egoistischen, kinderschädigenden Patchworkfamilien. Die SZ stellt Günter Grass' neues Buch über die Brüder Grimm vor.

Wenn sich der Usbeke rächt

17.08.2010. Die SZ war auf Pressereise in nicht verschwundenen niedersächsischen Dörfern. Die FAZ ermittelt, was Deutsche unter Hitler lasen: seichte Unterhaltung.Die NZZ erzählt, dass Robert Walser sich auch auf seinen Job als Lakai gründlich vorbereitete. Außerdem studiert die NZZ die unklaren Musikfatwas des Ayatollah Khamenei. Die taz lauscht der popmusikalischen Bewältigung der Unruhen in Kirgistan.

Der heutige Kulturhass

16.08.2010. In der NZZ schreibt Olga Martynova in einem Artikel, der sich wie eine Antwort auf einen FAZ-Artikel Juri Andruchowytschs liest: Wir waren doch sowieso alle Sowjetmenschen und kulturell homogen. Jungle World findet, dass Jörg Haiders Liebe zu arabischen Potentaten keineswegs nur eine Skurrilität war. Die jetzige Regierung will den Bürgern nicht allzu viel Freiheit zumuten, meint Ulrike Ackermann im Tagesspiegel. Die Blogs diskutieren weiter über Netzneutralität. Die SZ erklärt Thomas Hettches neuen Roman zur Makulatur. Und in der New York Times bespricht Michiko Kakutani den neuen Roman von Jonathan Franzen.

Das Rohe und das Gekochte

14.08.2010. In der Welt liest Bernard-Henri Levy Nicolas Sarkozy die Leviten und die geheiligten Grundsätze der Resistance, der Menschenrechte und der französischen Verfassung. Die taz unterhält sich mit Jonathan Safran Foer über Tiere, Essen und Werte. Die NZZ porträtiert die türkische Autorin und Aktivistin Pinar Selek. Der SZ graut es vor Google Street View. Die FR findet: Die Voyeure sind wir. Außerdem besprechen alle Norbert Gstreins Vielleicht-Suhrkamp-Schlüsselroman "Die ganze Wahrheit".

Mehr Wumms, mehr 3D

13.08.2010. Die NZZ findet die städtebauliche Idee hinter dem Stuttgarter Bahnhofsprojekt, totz aller Probleme, weiterhin bestechend. In der taz verteidigt der Architekt Christoph Ingenhoven sein Projekt. In der Welt beschleicht Stephan Wackwitz beim Besuch New Yorker Universitäten ein Deja-vu-Erlebnis: nicht 1968, aber mindestens 1975. Im Tagesspiegel sehnt sich Norbert Bolz nach einer Partei rechts von der CDU. Die amerikanische Blogosphäre diskutiert über einen Artikel in Atlantic Monthly zur Frage, ob und wann Israel den Iran angreifen wird.

Rauschbereite

12.08.2010. Die Huffington Post bringt eine Liste mit den fünfzehn am meisten überschätzten amerikanischen Autoren. Schuld ist Michiko Kakutani von der New York Times. Gawker kolportiert ein Brüllduett zwischen Larry Page und Sergey Brin. Es ging um Datenschutz. Es gibt Wichtigeres als Religionsfreiheit, meint Eva Quistorp in The European. In der FR heißt es Hirn statt Hintern statt Knackhirn statt Knackarsch in der Berliner Zeitung.

Alle Voraussetzungen zum Glücklichsein

11.08.2010. In der FAZ erwacht Juri Andruchowytsch aus dem europäischen Traum - und findet sich im Stalinismus wieder. In der Welt beschreibt Claudio Magris Berlusconi als vulgäre Parodie seiner selbst. Die SZ sieht den Vorschlag von Google und Verizon gegen die Netzneutralität in mobilen Netzen als Rückeroberung der Internets durch große Konzerne.In Telepolis erklärt der Historiker Eckhard Höffner, warum weniger Urheberrechte mehr Dichter und Denker brachten.

Das Gebaren der neuen Sozialkontrolleure

10.08.2010. Freie Journalisten sollen nach Einführung eines Leistungsschutzrechts doch irgendwie bezahlen, wenn sie auf Zeitungsseiten im Netz recherchieren, fordert ein Verdi-Funktionär. Aber die Verlage sollen es ihnen dann zurückzahlen. Darauf setzt es in den Blogs Kritik an den Journalistengewerkschaften. Die SZ-Online appelliert im Schlusswort zu ihrer Serie "Wozu noch Journalismus" an die Medienpolitik. Und die NZZ kündigt an, ihr Netzangebot zahlbar zu machen.

Reproduktion romantisierender Vorstellungen

09.08.2010. Tony Judt ist tot: (Fast) alle Zeitungen bringen ausführliche Nachrufe. Wir verlinken auf die wichtigsten Artikel von der New York Review of Books bis zur Jerusalem Post. In der taz meint Lars Rensmann: Israelkritiker sollten auch die Palästinenser endlich mal als handelnde Subjekte wahrnehmen. In der FAZ schildert der Schriftsteller Abbas Khider sehr eindringlich die Zensurpolitik in Ägypten. Die SZ besucht ein Gewächshaus auf einem Dach im Wedding, das nur duch einen Anker am Wegfliegen gehindert wird.

Das arabische Tabu-Dreieck

07.08.2010. In der Welt erzählt der gefürchete Literaturagent  Andrew Wylie, der die E-Book-Rechte seiner Autoren selbst vermarkten will, was er vom Verfall der Musikindustrie gelernt hat. In der taz bekennt der Unternehmer Dieter Philippi seine Leidenschaft für Hüte von Geistlichen. Die FR kann  über die Probleme von Barnes & Noble nicht richtig traurig sein. Die FAZ befasst sich mit militärischem Datenwahn

Zu Monstern aufgebohrt

06.08.2010. In der Berliner Zeitung erklärt der Regisseur Armin Petras, warum Deutschland heute moralisch ebensosehr darniederliegt wie vorm Befreiungskrieg gegen Napoleon. Im Tagesspiegel macht sich Hans-Christoph Buch nicht allzuviel Hoffnungen auf den Reformwillen der Caudillos von Kuba. Die NZZ trifft einen deprimierten Juri Andruchowytsch in Iwano-Frankiwsk. Die Blogs und Medienseiten fragen: Wie netzneutral will Google sein? In der SZ sagt Amitai Etzini: Cuius regio, eius religio.

Und es muss schnell gehen

05.08.2010. In der taz erklärt der koreanische Regisseur Bong Joon-ho, wie und warum man in Südkorea trinkt. Der Freitag erklärt, warum  Serien wie "The Wire" eigentlich erst heute als Meisterwerke rezipiert werden können. Im telemedicus erklärt der Google-Justiziar Arnd Haller, warum er die Forderung der Presseverlage nach einem Leistungsschutzrecht für dreist hält. Die NZZ ist traurig: Die Golf-Araber planieren Beirut zu Tode

Kehlkopfgequietsche

04.08.2010. In der NZZ erzählt Aatish Taseer, dass sich der Krieg der Islamisten zuallererst gegen die islamische Kultur richtet. Im Guardian liefert der Ayatollah Khamenei ein Beispiel. In der taz betont Azar Nafisi dass der Kampf gegen den Islamismus in erster Linie ein Kampf für Kultur ist. Medien und Blogs berichten über eine bevorstehende Steinigung im Iran. Christopher Hitchens schreibt in Slate über seinen Lungenkrebs. Die SZ kritisiert den Popanz der "Gentrifizierung", der gerade in Berlin jeden Fortschritt verhindert. Die FAZ berichtet über eine erstaunliche Wendung nach den Wikileaks-Enthüllungen zum Irak.

Hervorbringung von Einfachheiten

03.08.2010. In Slate schildert Christopher Hitchens die Reaktion Hugo Chavez' auf die Knochen von Simon Bolivar. Jeremy Bernstein erzählt im Blog der New York Review of Books, wie er Duke Ellingtons Trompeter an Nat King Cole vermitteln wollte. Die Inszenierung der Salzburger "Lulu" kam nicht so gut: Die Beurteilung des Dirigenten hing offenbar ab von der Platzierung des Kritikers: Manche sprechen von Transparenz, manche von Intransparenz.

Die Ehre der Familie, ja des Clans

02.08.2010. In der NZZ erzählt Azar Nafisi die Geschichte der Sakineh Mohammadi Ashtiani, die gesteinigt werden soll. In der Jungle World meint Jeffrey Herf, dass die neuen Forschungen über den Mufti von Jerusalem geeignet sind, den Blick auf Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zu verändern. Laut SZ diskutiert Italien über das Ende der Ära Berlusconi, für den es dummerweise keine Alternative gibt.