Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Oktober 2010

Das Gefängnis ist wieder eine Kategorie der Politik

30.10.2010. In der Welt fasst Eckart Conze, Koautor der Studie über das Auswärtige Amt die Erkenntnisse des Bandes zusammen: Die Beamten waren Mittäter. Und später haben sie vertuscht. Besonders der FDP droht deshalb eine unangenehme Debatte, vermutet die taz, denn von 1969 bis 1998 stellte sie die Außenminister Die NZZ erinnert an Schanghai zur Kolonialzeit. Die FAZ berichtet von der Rückkehr der Finsternis in der Ukraine. Laut Irights.info will die Gewerkschaft Ver.di das Netz jetzt lückenlos überwachen: um Urheberrechtsverletzungen auf die Spur zu kommen.

Gericht muss wohl sein

29.10.2010. In der Welt protestiert Doron Rabinovici gegen die Konzessionen der gemäßigten österreichischen Parteien an die FPÖ: Neuerdings werden in Wien schon achtjährige Kinder mit vorgehaltenem Sturmgewehr in den Kosovo zurückexpediert. In Phase 2 zeigt Oliver Piecha am Beispiel des brasilianischen Präsidenten, wie weit Kulturrelativismus gehen kann. In Esquire singt Philip Roth ein Loblied auf einen "wonderful guy named Larry Cooper". Die NZZ befasst sich nochmal eingehend mit der irischen Rebellion von 1641. Und ganz Indien streitet über Arundhati Roy, der wegen einer Äußerung über Kaschmir eine Klage wegen Volksverhtzung droht.

Sushi im Lokal vom Bauch nackter Kellnerinnen

28.10.2010. FR und SZ beleuchten kritisch das Konzept für die in Berlin geplante Ausstellung über Vertreibung. Wer als Jude ins Establishment eintreten will, muss sich nicht mehr taufen lassen: Ein bisschen Israelkritik reicht schon, schreibt die Jüdische Allgemeine nach Lektüre des Romans "The Finkler Question" von Howard Jacobson. Der Rechtsvorstand von Hubert Burda Media erklärt im Blog Der Presseschauer, warum künftig auch "unwesentliche Teile" von Artikeln unter Schutz gestellt werden sollen.  Die NZZ feiert (wie die andere Zeitungen) Leos Janaceks "Katja Kabanova"in Brüssel.

Erwünschte Meinungen

27.10.2010. Die NZZ resümiert den Streit zwischen Herta Müller und rumänischen Intellektuellen über die Rolle der letzteren unter Ceausescu. Im Perlentaucher analysieren Jens-Martin Eriksen und Frederik Stjernfelt die Symptome des Kulturalismus auf der Linken wie der Rechten. Die taz interviewt den Historiker Moshe Zimmermann zur Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit. Die SZ rät angesichts bodenloser Zustände zum Urban Gardening. Deutsche Debatten? Zum Gähnen, findet Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt.

Dabei ist Tony Blair ein netter Mensch

26.10.2010. In der Presse erklärt Klaus Theweleit, wo der Kalte Krieg heute ist: im Internet. Und Hans Magnus Enzensberger gesteht, welchen deutschen Klassiker er garantiert nicht mehr lesen wird. In der Welt hat der Politologe Christian Hacke Bedenken an der von Joschka Fischer initiierten Studie über die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit. Die taz ist froh: New Orleans ist wiederauferstanden, dank seiner musikalischen Kraft. In der SZ erklärt Slavoj Zizek, was "liberale" Leitkultur ist.

Mit Wachsklumpen miteinander verbunden

25.10.2010. Nun ist es doch raus: "Gott ist für tot zu erklären, sein Totenschein die Literatur." Und alle Zeitungen berichten über Reinhard Jirgls Rede zur Büchnerpreisverleihung. Die NZZ geht die Shortlist des Prix Goncourt durch: Und da gibt's Autorinnen, die sind salziger als Houellebecq. Die Achse des Guten muss nach einer von Joschka Fischer bestellten Studie konstatieren: Das Auswärtige Amt war an Hitlers Politik beteiligt.  Rudolf Augstein oder Gräfin Dönhoff sollten zu diesem Thema darum künftig besser schweigen, meint die FAZ dazu. Und außerdem: Einstürzende Altbauten .

Wahrung einer herausgehobenen Podestposition

23.10.2010. In der FAZ fordert Grünen-Politiker Franz Schulz, dass Eltern aus dem Mittelstand ihre Kinder auf Problemschulen schicken. Er würde es bestimmt auch tun, wenn er das Sorgerecht hätte. In der Welt fragt Ian McEwan: Warum hat eigentlich so gut wie kein deutscher Autor von Rang über die Berliner Mauer geschrieben? Wikileaks hat neue Dokumente aus dem Irak-Krieg an Qualitätsmedien verteilt. Der Spiegel hat sie gesichtet und fragt sich selbst, was das nun bringt. In der FR erklärt Hannelore Schlaffer, warum sie sich von ihren demokratischen Repräsentanten nicht demokratisch repräsentiert fühlt.

Widerspruchloses von gestern

22.10.2010. Leitkultur ist alles andere als ein Gegenbegriff zu Multikulti, schreibt Richard Herzinger in der Welt. In der FAZ kritisiert Necla Kelek den Religionspolitiker Christian Wulff. Mark Lilla beschreibt für das NYRB-Blog die französischen Herbstkrawalle - und muss dabei an die Tea Party-Bewegung denken. In der FR fragt Ingo Schulze: Wofür ist der Wiederaufbau des Berliner Schlosses das Symptom? Die NZZ berichtet: Auch in Istanbul werden Roma vertrieben - und immer mehr Altstadtviertel werden abgerissen. 

Niemand weiß, wo Zürich ist

21.10.2010. In der FR graut dem deutsch-russischen Schriftsteller Oleg Jurjew vor dem anstehenden hundertsten Todestag Leo Tolstois. In der Welt fragt Benjamin von Stuckrad-Barre: Wie schaffen Die Guttenbergs das? Die SZ bringt eine Rede Ken Loachs gegen die in der Filmbranche grassierende Mediokrität. Der Freitag verliebt sich in den Bläuling - und zwar in alle 6.000 Arten.

Wieder gegoogelt und so fort

20.10.2010. In der SPD gibt's noch Aufklärer! Die Welt veröffentlicht ein Papier von SPD-Laizisten, die eine Trennung von Staat und Religion fordern. Mit Twitter macht man vielleicht keine Revolution, meint Biz Stone in einem Blog des Atlantic Monthly, aber helfen kann es trotzdem. In der FR verteidigt die Theologin Regina Ammicht Quinn "den" Islam, den es aber gar nicht gibt. Die NZZ ist durch das neue Berlin spaziert und hat ein paar interessante Häuser entdeckt. Und die FAZ fragt: Flarf?

Widerspruchslose Informationskokons

19.10.2010. Die taz traf im Gaza-Streifen eine neue Fraktion Palästinenser, die sich für Geschlechtertrennung bei Friseuren ausspricht. Die NZZ greift den Fall des deutsch-türkischen Autors Dogan Akhanli auf, der in der Türkei drangsaliert wird. Die Blogs kommentieren Steve Jobs' neue Äußerungen gegen Google und das offene Netz, das ihm zu "fragmentarisch" ist und darum nicht im Interesse der Kunden liege. Sind die Kommentare im Blog von Stefan Niggemeier möglicherweise alle von Konstantin Neven DuMont? Und dann natürlich Oliver Stone in der Welt zum Zustand der freien Marktwirtschaft: "Es fühlt sich falsch an, zutiefst falsch." 

Nicht allesamt blond und christlich

18.10.2010. Slate porträtiert den Risikokapitalisten Peter Thiel, der früh in Facebook investierte und nun die besten Geschäftsideen von Teenagern mit 100.000 Dollar belohnen will - auch wenn sie ihr Studium abbrechen müssen. In der Welt beklagt der Medientheoretiker Peter Weibel, dass heute niemand mehr an Bildung als  Aufstiegsmedium glaubt. Die FAZ am Sonntag hat die gleiche Datenschutzlücke bei Facebook entdeckt wie neulich Techcrunch. Auch evangelikale Eltern verprügeln häufig ihre Kinder, berichtet die SZ. Aber wieso "auch"?

Das Spanien des ewigen Zorns

16.10.2010. Die NZZ stellt fest: Die Romandie gehört ganz eindeutig zum Stammgebiet der französischen Sprache. Die FR setzt ihre erschöpfende Berichterstattung vom Soziologentag fort. Die FAZ erinnert an die Palastrevolte "dritter Personen" bei Suhrkamp im wilden Jahr 1968. Für die SZ erkundet Georg Klein das Arno-Schmidtsche Wortgelände und erschauert vor dem  Oben-Ohne-Bikini.

Abermillionen Bröckchen Kunst

15.10.2010. Die FR ist stinksauer auf die Berliner Ausstellung "Hitler und die Deutschen": "Man gibt sich frivol, und dann wird nichts Frivoles geboten. Die Schau ist aber auch noch feige." Die Jungle World fragt, warum die Deutschen so wenig überzeugt sind von den universalen Menschenrechten. In der FAZ erzählt Mario Vargas-Llosa, wie es neulich in seiner Leitung zwitscherte. Für die SZ ist Ai Weiwei der Warhol der Jetztzeit.

Symbol der Versöhnung - ha!

14.10.2010. In der FAZ bringt es der Verleger Michael Klett, an sich S21-Befürworter, auf den Punkt: Stuttgart fürchtet um die Geborgenheit. Für die Zeit las Walser Steinbrück und fand Shakespeare. Die SZ staunt über eine wahre Inflation immer neuer alter Meisterwerke. Der Guardian freut sich: Genetik ist eine linke Wissenschaft. Die FR war entspannt in Neukölln. Der Boston Globe bringt große Bilder von der chilenischen Rettung.

Liberalistische Verirrung

13.10.2010. In der SZ stellt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf klar: die westlichen Werte sind keine christlich-jüdischen Werte. Die Achse des Guten ärgert sich über säuerliche Kommentare der Mainstreammedien zu Mario Vargas Llosa. Hardy Prothmann wendet sich in seinem Blog gegen die Kostenloskultur der Zeitungen. In der FAZ findet der Soziologe Armin Nassehi, dass der Vorwurf des Biologismus gegen Sarrazin durchaus berechtigt ist.

Elfenmusik mit herrlichen Glamourlichtern

12.10.2010. Der Guardian eröffnet eine Reihe von Blogs, in denen bekannte Autoren über längere Zeit ein Thema reflektieren sollen. Techcrunch erzählt, wie man ganz einfach die Freunde von Google-Chef Eric Schmidt identifizieren kann: Man eröffnet ihm ein Facebook-Konto. In der FAZ schildert der chinesische Exilautor Bei Ling den Liu-Xiaobo-Schock. Die NZZ feiert den polnischen Schriftsteller und Satiriker Slawomir Mrozek, die Welt den israelischen Dirigenten Omer Meir Wellber.

Zumindest diskursiv im eigenen Saft

11.10.2010. Der iranische Philosoph Abdulkarim Soroush erklärt in seinem Blog, warum iranische Geistliche so gern eine islamische Wissenschaft hätten. Douglas Coupland legt in The Globe and Mail einen "radical pessimist's guide to the next 10 years" vor, in dem er sich auch endgültig von der Mittelschicht verabschiedet. Die SZ berichtet von einem Eklat bei der Verleihung des Leipziger Medienpreises an Kurt Westergaard: Shirin Ebadi boykottierte die Veranstaltung und findet, dass Westergaards Karikatur gegen die UN-Menschenrechtserklärung verstößt. Und endlich: Der Heatball ist da!

Gottes Geschenk an China

09.10.2010. Die FR betrachtet muskulöse Männerkörper und -bäuche in der großen Michelangelo-Ausstellung in der Albertina. In der NZZ warnt Annette Schavan vor gottlosen Säkularismus. In der taz erklärt Norbert Bolz: Internet und Massenmedien brauchen sich. Die FAZ porträtiert den Berliner Fußballscout Roger Ülger. Die SZ erklärt, warum China heute kritische Autoren nicht mehr mundtot machen kann.

Nach Homers Art

08.10.2010. So richtige Beisterung kommt in den Feuilletons über den Literaturnobelpreis für Mario Vargas Llosa nicht auf. Die NZZ porträtiert ihn als Selbstdarsteller. Die taz findet ihn zu neoliberal. Die SZ nicht kühn genug. Nur FAZ und Welt freuen sich. Außerdem: Die SZ erklärt am Beispiel der Bloggerin Shiva Nazar Ahari, was es bedeutet, im Iran zur "Feindin Gottes" erklärt zu werden. Die Welt porträtiert die Heimatschriftstellerin Maria Beig.

Kennzeichen restaurativer Epochen

07.10.2010. In der NZZ rechnet der Autor Niyi Osundare mit Nigerias betrügerischer Herrscherclique ab. In der taz besteht Washington-Post-Reporterin Dana Priest auf der Trennung zwischen Meinung und Tatsachen. Die Schweiz tut nur liberal, meint Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji in der Welt. Literaturdeutschland ist nur noch eine gediegene Mittelstandsparty, schimpft die Zeit.

Unterhalb des Kukident-Alters

06.10.2010. Im Tagesspiegel fragt Monika Maron, ob der Islam wirklich zu Deutschland gehört. Für die NZZ analysiert Oleg Jurjew die verheerenden Auswirkungen der Postmoderne auf die Petersburger Eremitage. Die FR starrt auf einen nackten Macho in Mullbinden vor bröckelnder Mauer. Schafft das ZDF ab, ruft die Welt, die "Mad Men" schon vor drei Jahren auf DVD gesehen hat. In der SZ erklärt "Mad Men"-Hauptdarsteller Jon Hamm: Digitale Technologie machte den Erfolg seiner Serie möglich. Die FAZ lässt sich auf der Buchmesse erklären, was ein "erweitertes E-Book" ist.

Ihr gemeinstes Gesicht

05.10.2010. In der FR beschreibt der Autor Martin Caparros die Fallstricke argentinischer Erinnerungspolitik. In der taz erzählt der Autor Damian Tabarovsky, wie im Jahr 2001 in Argentinien die Künste neu erblühten. Die NZZ weiß, warum Schweden keinen Nobelpreis bekommen. Die SZ betrachtet mit 200 Kunstsammlern schwitzende Männer am Hochofen. Die FAZ betrachtet eine einsame Sexgöttin beim Brotscheibenkneten.

Sechzig lebendige Fliegen

04.10.2010. Zeit Online bringt einen Essay des Copyleft-Aktivisten Federico Heinz über das, was das Buch ist, wenn es digital ist. In Arthurmag erklärt der Bestsellerautor Douglas Rushkoff, warum er sein neuestes Buch außerhalb der etablierten Verlage veröffentlicht. Der Standard bringt einen Überblick über die österreichische Verlagsszene. In der FAZ erklärt David Simon, was "The Wire" von den "Mad Men" unterscheidet. Die taz erkennt in der Zeichnerin Molly Norris ein Opfer der naiv in Anspruch genommenen freien Meinungsäußerung.

Schnelle Zunge

02.10.2010. In der NZZ fragt der Autor Tomas Eloy Martinez: Lebt der Peronismus denn ewig? In der taz fragt Michael Rutschky: Garantieren nur Dinge die Ordnung der modernen Welt?. Im Spiegel fragt Konrad Lischka: In welchem Zustand ist die Buchbranche, wenn sie das Libroid nicht selbst hervorbringt? In der SZ verkündet New-Yorker-Herausgeber David Remnick sein verlegerisches Credo.

Nicht jedes Tabu ist falsch

01.10.2010. Die Welt sucht nach dem großen deutschen Gegenwartsroman, findet ihn aber nicht. Drei ostdeutsche Intendanten verkraften überdies das Trauma der Wiedervereinigung. Die taz bringt aus diesem Anlass einen Appell von Wissenschaftlern, Künstlern und Publizisten gegen Biologismus und die Ausgrenzung von Migranten. Außerdem plädiert die taz für Sprechverbote. Laut FR bringen die SZ und andere Zeitungen große Anzeigen der Jungen Freiheit, die von der Sarrazin-Debatte profitieren will. In der FAZ weist Thilo Sarrazin den Vorwurf des Biologismus zurück: "Mich interessiert das Zusammenspiel von 'Nature' und 'Nurture'." In der SZ erhofft sich Ingrid Thurner Denkanstöße von muslimischen Feministinnen zum Problem der Sexualisierung unserer Öffentlichkeit.