Efeu - Die Kulturrundschau

Heerscharen von Cs, Os und Ns

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08.02.2022. Die Feuilletons trauern um den Regisseur Hans Neuenfels, der das Opernpublikum immer wieder zu Schreiorgien und Bombendrohungen provozierte. Die FR huldigt der Berliner Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt, die Buchstaben in Schmetterlinge und Damenschuhe verwandelte. Die NZZ kann sich gar nicht genug von der Berlinale in Präsenz erhoffen. In der taz spricht die Schauspielerin und Autorin Lea Draeger über Trauma, Gewalt und Selbstbefreiung. Und warum ist bei Spotify eigentlich jedes Stück ein Song, sogar ein Menuett von Händel?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2022 finden Sie hier

Bühne

Hans Neuenfels' legendäre Lohengrin"-Inszenierung. Foto: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele 

In der SZ schreibt Wolfgang Schreiber zum Tod des Regisseurs Hans Neuenfels, den er als den großen Intellektuellen und Poeten der Opernwelt verehrte und der den Mut zum Risiko lehrte: "'Eine Interpretation darf nicht ambivalent sein', sagte Neuenfels." In der NZZ erinnert Christian Wildhagen an die "Schrei- und Buhorgien", mit denen Neuenfels' Bayreuther "Lohengrin"-Inszenierung in die Geschichte der Wagner-Festspiele einging: Der Schwanenritter umgeben von einer Schar von Ratten: "Neuenfels' radikale Bildsprache entsprang durchaus einer intellektuellen Lust an der Provokation. Doch Selbstzweck, wie bei weniger tiefgründigen Vertretern des 'Regietheaters', war sie für ihn nie. Er verband in der zugespitzten Ikonografie seiner Inszenierungen vielmehr scharfsinnige Textanalysen mit psychoanalytischem Denken - und mit visuellen Prägungen, die er während der 1960er Jahre als Assistent des Surrealisten Max Ernst empfangen hatte." In der FR denkt auch Judith von Sternburg mit Wonne an den "Ratten-Lohengrin" zurück: "Auch gehört Oberflächenspannung zu den integralen Bestandteilen des Regietheaters, im Guten wie im Bösen. Aus der Aufregung, der Erregung, aus der Langeweile (die man dem Ratten-'Lohengrin' freilich nicht vorwerfen kann) und einer wie auch immer gearteten Quälerei soll etwas Neues entstehen, und wenn es ein Gespräch ist, bei dem die Fetzen fliegen."

In der FAZ betont Irene Bazinger, dass Neuenfels auch mit seinen Inszenierungen in Frankfurt und Berlin das Opernpublikum aufschreckte: "Unvergessen seine von Generalmusikdirektor Michael Gielen dirigierte 'Aida' in Frankfurt am Main 1981, in der er die verschleppte äthiopische Prinzessin als Putzfrau zeigte, die in ägyptischer Sklaverei mit niedrigen Tätigkeiten gedemütigt wird. Buhstürme und Bombendrohungen waren die Folge. Seinen Ruf als aufgeklärter, anarchischer Freigeist bestätigte der Skandal um Mozarts 'Idomeneo' (2003) an der Deutschen Oper Berlin. Neuenfels plädierte darin für die Freiheit des Menschen und ließ die Religionsstifter Jesus, Mohammed und Buddha köpfen, weshalb 2006 die Wiederaufnahme nach einer Warnung des Berliner Innensenators vor islamistischen Anschlägen zunächst abgesagt wurde." Weitere Nachrufe in Tsp, Standard.

Besprochen werden Sebastian Nüblings Adaption von Rasha Abbas' Syrien-Geschichten "Eine Zusammenfassung von allem, was war" Gorki-Theater (taz), Alice Birchs "Blank" am Staatstheater Karlsruhe (FR), Wolfgang Korngolds "Tote Stadt" als Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper (Standard) und der Tacitus-Abend "Germania. Römischer Komplex" des italienischen Anagoor-Kollektivs im Theater an der Ruhr in Mühlheim (FAZ).
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Film

In der NZZ belächelt Andreas Scheiner den Alarmismus, mit dem Teile der Filmkritik darauf reagierten, dass die Berlinale als Präsenzveranstaltung ohne Onlinestream-Parallelangebot stattfinden wird (unsere Resümees hier, dort und da). Dass manche im Laufe des Festivals wegen Positivtest ausscheiden werden, glaubt zwar auch er, doch "mit allzu vollen Kinos ist ohnehin nicht zu rechnen, denn die Filme laufen jeweils in vielen Sälen parallel. So wird etwa Ozons 'Petra von Kant' der Presse auf nicht weniger als acht Leinwänden gleichzeitig gezeigt. Ein ganzes Multiplex-Kino mit einer französischen Fassbinder-Adaption auf allen Etagen: Die Berlinale macht Cinephilenträume wahr."

Dass es in Fragen von Diversity stets nur um "Hautfarbe und Herkunft", dann um Gender, Body Positivity und Menschen mit Behinderung geht, geht Silke Burmester in ihrem Beitrag für die "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline "tierisch auf den Senkel": Frauen über 50 werden bei all dem erneut unsichtbar gemacht! Sie wartet auf "die Ideen, was zu tun ist, um Frauen, die nicht jung sind, zu mehr Sichtbarkeit, aber auch zu vielseitigeren Rollen im Filmbusiness zu verhelfen. Ich warte auf die Aktivist*innen und auf die Wütenden, die sagen, dass es reicht. Dass es nicht länger hinzunehmen ist, wie dramatisch die Präsenz von Frauen auf Bildschirm und Leinwand abnimmt, je älter sie werden. Dass es nicht sein kann, dass Frauen nur dann eine Rolle spielen, wenn sie jung sind, und ab 30 in der Angst leben, keine interessanten Figuren mehr spielen zu dürfen. Dass die Frauen über 50 Jahre VERSTÄRKT ZU SEHEN SEIN MÜSSEN! - und zwar jenseits von Enkelkindern, Tieren oder einem Ehemann."

Weitere Artikel: Michael Meyns stellt in der taz das Programm der "Woche der Kritik" vor, die die Berlinale als Veranstaltung des Verbands der Deutschen Filmkritik flankiert. In der SZ gratuliert Helmut Mauró dem Filmkomponisten John Williams zum 90. Geburtstag. David Pfeifer (SZ) und Andreas Babst (NZZ) schreiben Nachrufe auf die Bollywood-Sängerin Lata Mangeshkar, derentwegen in Indien Staatstrauer herrscht: Zwar war sie in den Filmen selbst nicht zu sehen, doch lieh sie vielen Bollywood-Stars ihre Stimme. Hier ein Mix mit ihren großen Evergreens:



Besprochen werden Kenneth Branaghs Neuverfilmung von Agathe Christies "Tod auf dem Nil" (Presse, Tsp) und Aine Stapletons "Horrible Creature" (TA).
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Kunst

Ruth Wolf-Rehfeldt: Still Leben I, 1979. 

In der FR feiert Ingeborg Ruthe die Berliner Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt, die heute neunzig Jahre als wird und in diesem Jahr den Hannah-Höch-Preis erhält: "Ihre ungewöhnlichen Schreibmaschinengrafiken macht sie seit den 1970er Jahren. Angefangen hat es zunächst mit ihrem Brotberuf als Schreibkraft, dann als Büroleiterin in einem Ost-Berliner Betrieb. Ihre Fantasie ließ sie aus langweiligen Buchstaben und Zahlen grafische Bilder 'schreiben'. Daheim am Küchentisch tippte sie auf ihrer 'Erika', Bestseller unter den Schreibmaschinen in der DDR, aus A-Z, Nullen, Kommas und Pluszeichen serielle Muster und Ornamente. Unter ihren Händen wurden die schwarzen und roten Zeichen zu Schmetterlingen, Wellen, fließenden Strukturen und kunstvoll gewobene Poesie. Das Blatt 'Concrete Shoe' (siebziger Jahre) zeigt Heerscharen von Cs, Os und Ns, die sich diszipliniert zu einem klobigen Damenschuh mit hohem Absatz formen. Dies kann ebenso als ironisches Beispiel konkreter Poesie gelesen werden wie auch als Symbol für die Enge im Mauerland. Und die Sehnsucht, diese zu überwinden."

Besprochen werden die Eröffnung der Nicola Erni Collection als Museum für Modefotografie im schweizerischen Steinhausen (NZZ), Vincent van Goghs Selbstporträts in der Courtauld Gallery in London (Observer) und die Ausstellung "BioMedien" im ZKM Karlsruhe (FAZ).
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Literatur

Die Schauspielerin Lea Draeger spricht in der taz über ihren Debütroman "Wenn ich euch verraten könnte", der offenbar in aller Drastik von der mäandernden Selbstbefreiung einer 13-Jährigen aus familiären Traumata und patriarchaler Gewalt erzählt. Warum sie ihr Publikum mit krassen Schilderungen konfrontiert, erklärt sie so: "Ich finde, das sollte man auch so schildern. Nur so kann sich etwas verändern. ... Nur indem meine Figur sich all dem Schmerz, all dem Trauma und all den Verquickungen stellt, kann sie sich daraus befreien. Dass sie das tut, heißt, dass sie eine Liebe für das Leben in sich trägt. Das macht keiner, der nicht leben will. Mir ist völlig klar, dass normalerweise anders über Selbstermächtigung geschrieben wird: starke Frauen, die sich gegen die Männer wehren. Die Großmutter, die Widerstandskämpferin war, so etwas in der Art. Mir war es wichtig, ein alltäglicheres, realistisches Buch zu schreiben, in dem das Verwobene sichtbar wird."

Außerdem: Im Tagesspiegel spricht Kristen Boie über ihren neuen neuen, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelten Jugendroman "Heul doch nicht, du lebst ja noch". Sarah Schaschek spricht für die Zeit mit dem 17-jährigen Dara McAnulty, der ein Buch über seine Naturerlebnisse geschrieben hat. Ilja Richter (Tsp) und Thomas Karlauf (FAZ) erinnern an den Schriftsteller Theodor Lessing, der vor 150 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Bernardine Evaristos "Manifesto" (online nachgereicht von der FAS), Liao Yiwus Dokumentarroman "Wuhan" (SZ), Manfred Krugs "Ich sammle mein Leben zusammen" mit Tagebucheinträgen von 1996 bis 1997 (online nachgereicht von der FAZ), Michael A. Meyers Biografie über den Rabbiner Leo Baeck (Zeit) und Patrice Nganangs "Spur der Krabbe" (FAZ).
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Architektur

John-Cranko.Ballettschule Stuttgart von Burger Rudacs Architekten. Foto: Brigida Gonzalez

Für die FAZ begutachtet Matthias Alexander im Deutschen Architekturmuseum jene Bauten, die in die engere Auswahl des DAM-Preis 2022 kamen. Und auch wenn er Kategorien und nachvollziehbare Kriterien vermisst, ist er am Ende nicht so unzufrieden mit dem Preis für den Genossenschaftsbau San Riemo und mit den übrigen Finalisten: "Abgesehen vom Preisträger hat der Architekturpreis mithin keine Botschaft. Er dokumentiert vielmehr ein Anything goes zwischen dem Spät-Dekonstruktivismus eines Rem Koolhaas, dem Öko-Technizismus von Christoph Ingenhoven (Kö-Bogen II in Düsseldorf) und der Post-Post-Moderne von Lederer Ragnarsdóttir Oei (Landesbibliothek Stuttgart). Daran ist im übrigen wenig auszusetzen, solange die Einzelbeispiele künftige Bauherren dazu animieren, ihrerseits Könner unter den Architekten zu suchen."

Weiteres: NZZ-Kritiker Ulf Meyer lernt in der Ausstellung "Stalins Architekt" in der Berliner Tschoban-Foundation den sowjetischen Architekten Boris Iofan herzlich zu verabscheuen.
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Musik

Bei Spotify ist jedes Stück ein "Song", auch ein Menuett von Händel, dessen Namen übrigens wie alle Komponistennamen bei Spotify natürlich nicht mit aufgelistet werden. Dabei sind in der Klassik, alle Songs eher Stücke, schreibt Gabriel Yoran in seinem Klassik-Newsletter. Und übrigens ist ein Song nicht ein Lied: "Wenn man 'Lied' auf Französisch übersetzt, kommt Chanson heraus, aber wenn man das zurückübersetzt, könnte auf Deutsch auch ein Chanson gemeint sein, wenn es um die typisch französische Liedgattung geht. Und während im Englischen Lieder songs sind, sind Songs im Deutschen nur gesungene, populäre Musikstücke des 20. und 21. Jahrhunderts, 'die sich an anglo-amerikanischen Vorbildern' orientieren, sagt zumindest Wikipedia. Es ist geradewegs zum Verrücktwerden!"

Außerdem: In der FAZ ärgert sich Max Nyffeler darüber, dass der Stuttgarter Kulturamtsleiter Marc Gegenfurtner es sich bei einer Grußadresse beim Festival Eclat nicht nehmen ließ, die überregionale Berichterstattung zu tadeln. Gerhard R. Koch schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Komponisten George Crumb. Karl Fluch holt für den Standard Neil Youngs Album "Harvest" nochmal aus dem Plattenschrank. Außerdem schreibt er im Standard zum Tod des Soulsängers Syl Johnson.



Außerdem bespricht Andrian Kreye in der SZ neue Jazzveröffentlichungen und freut sich besonders über die anhaltenden Wiederveröffentlichungen aus dem Blue-Note-Backkatalog, diesmal über Jackie McLeans "Destination... Out!" von 1963 mit seinem "Klangbild, das die Aufbruchsstimmung jener Zeit, in der der Jazz den abstrakten Impressionismus der Malerei als Leitstern entdeckte, kongenial wiedergibt".

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