Efeu - Die Kulturrundschau
Fabrik für den Kopf und die Augen
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Kunst

Im Interview mit Peter Richter kann der Schweizer Kunsthistoriker Andreas Beyer das Aufkommen des Porträts in der Renaissance gerade heute, in Zeiten von Selfies und medizinischen Masken, gut verstehen: "Die Renaissance kannte zum Beispiel so eine Konjunktur des Porträts, und in der Folge von Jacob Burckhardt erklärt man sich das gewöhnlich mit dem Aufkommen des selbstbewussten Individuums. Man könnte aber auch das Gegenteil vermuten. Mit dem Ende 15. Jahrhunderts bricht ja auch eine Welt zusammen, der Glaube wird erschüttert, das Wissen explodiert, die Welt entgrenzt sich. Das ist eine Phase der Krise, man weiß gar nicht mehr, wo man steht in dieser Welt."
Weiteres: Fasziniert geht taz-Kritiker Max Florian Kühlem durch die Ausstellung "Efie. The Museum as Home. Kunst aus Ghana" im Dortmunder U, mit der die ghanaische Kunsthistorikerin, Schriftstellerin und Filmemacherin Nana Oforiatta Ayim Exponate sehr ausführlich in ihren kolonialistischen Kontext stelle.
Architektur

Literatur
W.G. Sebalds Rang "als politisch-moralische Instanz" dürfte wohl nicht mehr zu halten sein, schreibt Stephan Wackwitz in der taz nach Durchsicht der gerade im englischsprachigen Raum geführten Debatte um den deutschen Schriftsteller. Auslöser dafür ist Carole Angiers neue Biografie, die enthüllt, dass Sebald den Suizid seines Vermieters zu einer jüdischen Tragödie ausgeschmückt hat, wiewohl der Vermieter gar nicht jüdisch war (unser erstes Resümee). Diese "literarische appropriation des nur allzu wirklichen jüdischen Leids durch einen deutschen Schriftsteller ist gegenüber der historischen Realität und Entsetzlichkeit des Völkermords an den europäischen Juden unangemessen - um eine milde Bezeichnung zu wählen."
In der Welt schreibt Adrian Daub zum Tod der Autorin Eve Babitz, die insbesondere für ihre Reportagen, Romane und Essays, aber auch wegen ihres hedonistischen Lebenswandels in die amerikanische Literaturgeschichte eingegangen ist: Sie war "die Chronistin der Exzesse und Mysterien von Los Angeles, die sich selbst zum Objekt machte und dieses mit Ironie zu inspizieren vermochte."
Besprochen werden unter anderem Alain Damasios dystopischer Roman "Die Flüchtigen" (Freitag), Damon Galguts mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman "Das Versprechen" (Zeit), Dominique Rankins und Marie-Josée Tardifs "They Called Us Savages" (Standard), Wassili Grossmans "Stalingrad" (Tsp), die Jubiläumsausgabe von Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege" (Standard), ein Band mit Lyonel Feinigers Briefen an seine Frau von 1905 bis 1935 (online nachgereicht von der FAZ), Hermann Stresaus in der Nazi-Zeit entstandenen Tagebücher (SZ) und neue Hörbücher, darunter Frank Arnolds Lesung von Wilhelm Bodes "Tannen" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Detlef Felken über Christopher Okigbos "Komm, Donner":
"Wenn der Marsch trunken vom Sieg die letzte Wegbiegung erreicht,
Vergesst nicht, ihr Tänzer, den Donner zwischen den Wolken
..."
Bühne

Anne Lenk hat am Deutschen Theater Kleists "Zerbrochnen Krug" mit Ulrich Matthes als Dorfrichter Adam inszeniert, und Nachtkritikerin Elena Philipp kann nur staunen, wie mühelos Lenk dabei dem Stück gerecht wird und es dennoch mitten in der Gegenwart platziert: "Spannend ist die Inszenierung aber nicht wegen des konsequenten plot twists zum Schluss: Richter Adam wird selbst angeklagt. Spannend ist dieser 'Zerbrochne Krug', weil hier dramaturgisch jedes Detail stimmt, die Dynamik, der Rhythmus, das Zusammenspiel des durchweg famosen Ensembles. Gedanklich durchdrungen wirkt der Text. Obgleich es weitgehend das Original ist, das die Schauspieler:innen sprechen, wirkt der komplexe Kleist'sche Satzbau in ihrer Diktion direkt und ungekünstelt."
Besprochen werden außerdem Christoph Marthalers Inszenierung von Franz Lehars "Giuditta" am Münchner Nationaltheater (von der sich Jan Brachmann in der FAZ "etwas mehr Phantasie und Liebe zum Stück" gewünscht hätte, SZ), Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Lessings "Minna von Barnhelm" (Nachtkritik), Bastian Krafts Inszenierung "Die Schwerkraft der Verhältnisse" am Wiener Burgtheater (Nachtkritik), Gustav Ruebs Inszenierung von Tom Lanoyes "Königin Lear" am Darmstädter Staatstheater (FR) und Oliver Frljić' Stück über den Dombau im Kölner Schauspiel (FAZ).
Film
Besprochen werden David Finchers auf Netflix gezeigte Essay-Serie "Voir: Die Filmkunst der Moderne" (SZ) und die auf Netflix gezeigte, Schweizer True-Crime-Serie "Dig Deeper" (NZZ).
Musik
Außerdem: In der NZZ sorgt sich Rainer Moritz ums gemeinschaftliche Singen im familiären Kreis rund um den Weihnachtsbaum. Marion Löhndorf schreibt in der NZZ darüber, dass "alle" über Mick Jaggers neue Brille schreiben.
Besprochen werden Nalans Debütalbum "I'm Good. The Crying Tape" (taz), Paul Geigerzählers Album "Der Zeitstrahl ist gebrochen" (taz), ein Konzert des Berliner Konzerthausorchesters mit der Sopranistin Julia Lezhneva unter Giovanni Antonini (Tsp) und Carolina Lees Debütalbum "Haunted Houses". In seinem "Wechselspiel von Intensität und Luftigkeit" ein "Album, das ganz wunderbar zu den grauen Berliner Monaten passt", meint Silvia Silko im Tagesspiegel.