Efeu - Die Kulturrundschau

Der Junge blickt schon sehr lässig in die Kamera

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18.10.2019. Mats Halm, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie,  und Henrik Petersen vom Nobelpreiskomitee verteidigen die Entscheidung für Peter Handke. Der Tagesspiegel staunt in der großen Wolfsburger Robin-Rhode-Retrospektive über das Leuchten von Josef Albers' Quadraten in südafrikanischen Brennpunktvierteln. In der SZ erklärt Andreas Beck vom Münchner Residenztheater, warum Dramaturgen sich besonders gut zu Intendanten eignen: Sie bleiben vor Ort.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.10.2019 finden Sie hier

Literatur

Mats Malm, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, hat in der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter die Entscheidung für Peter Handke verteidigt. Der Bayerische Rundfunk bringt viele übersetzte Zitate aus dem Text: Zwar habe der Schriftsteller "provokative, ungeeignete und unklare Kommentare in politischen Fragen gemacht", doch "die Akademie hat nichts in seinem schriftstellerischen Werk gefunden, das eine Attacke auf die Zivilgesellschaft darstellt oder den Respekt für die Gleichheit aller Menschen infrage stellt." Zudem "habe Handke niemals Blutvergießen im Jugoslawien-Krieg verherrlicht und auch das berüchtigte Massaker in Srebrenica vom Juli 1995 'klar verurteilt'. Dabei verwies Malm auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 1. Juni 2006, in dem Handke mit dem Satz zitiert wurde, Srebrenica sei 'das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde'."

Auch Henrik Petersen, Mitglied des Nobelpreiskomitees, hat die Entscheidung für Handke mit einem ausführlich erklärenden und Handke lesenden Text verteidigt. Spon hat den Text publiziert: Handke war nie ein Kriegstreiber, schreibt Petersen, aber er hat es Slowenien und der EU übel genommen, dass so schnell bereit waren, Jugoslawien aufzugeben. "Richten wir unseren lesenden Blick anschließend auf das Schlüsselwerk 'Die Wiederholung', erkennen wir, wie viel emotionales Kapital Handke in den Befreiungskrieg Jugoslawiens gegen die nationalsozialistischen Besatzungsmächte investiert hat. Das ist der persönliche Hintergrund, vor dem Handke erklärt hat, die Regionen hätten wie Geschwistervölker zusammenhalten müssen, Seite an Seite."

Außerdem: FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube winkt in der Debatte um Handke ab. Michael Cerha liefert im Standard ein Stimmungsbild aus Handkes Heimatort Griffen in Kärnten.

Ansonsten hat sich die Frankfurter Buchmesse wieder nach verlässlichen Maßstäben eingependelt: In der SZ berichten Johan Schloemann und Lothar Müller vom traditionellen Frankfurter Suhrkamp-Empfang, wo Lutz Seiler aus seinem nächsten Roman "Stern III" las. Marie Schmidt hat eine Diskussion von Übersetzern verfolgt, die sich Gedanken darüber machen, in welchem Kontext ihrer Arbeit der Griff zum N-Wort statthaft ist. Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel bemerkt, dass an den Buchständen von China, Hongkong und Taiwan aktuelle politische Konflikte "totgeschwiegen" werden. Julia Bähr berichtet auf FAZ.net von einer Diskussion darüber, wie Frauen im Netz von Trollen belästigt werden. Für die taz schlendert Sophia Zessnik über das Messegelände und berichtet unter anderem von einer Diskussion zwischen Robert Habeck und dem Autor Jean-Baptiste Del Amo über dessen neuen Roman "Tierreich". Corinna von Bodisco vom Tagesspiegel beobachtet, dass die Bookstagram-Community auf Instagram immer größer und wichtiger wird - um das Phänomen dreht sich auch der neue Kulurpodcast von Dlf Kultur. Roman Bucheli vermisst vor lauter Umweltbewusstsein an den Messeständen das Buch als eigentliches Kerngeschäft der Verlage.



Weiteres: In Irland möchte man bis 2022 die Verlegung von James Joyce' Grab aus dem Schweizerischen Fluntern nach Dublin erwirken, berichtet Angela Schader in der NZZ. Katrin Hillgruber wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Literaturland Luxemburg.

Besprochen werden unter anderem Salman Rushdies "Quichotte" (NZZ), Sibylle Lewitscharoffs "Von oben" (ZeitOnline), Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" (Tagesspiegel), Mircea Cartarescus "Solenoid" (Berliner Zeitung), Tarjei Vesaas' "Das Eis-Schloss" (Tagesspiegel), Henning Ziebritzkis Gedichtband "Vogelwerk" (Tagesspiegel) und Martin Pollacks "Die Frau ohne Grab" (SZ).

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Architektur

Das schönste und beim Publikum erfolgreichste Museum Berlins, das Neue Museum, wurde von keinem Stararchitekten radikal umgebaut, es verband Altes mit Neuem und blieb am Ende 20 Millionen Euro unter dem Kostenvoranschlag, erinnert Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. "Leider aber haben weder der Bund als Finanzier noch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder die Stadt Berlin aus dem Projekt gelernt. Das zeigen solche Radikal-Umbauten mit den entsprechend explodierenden Kosten wie die Alte Staatsbibliothek, das inzwischen auf fast eine halbe Milliarde Euro kalkulierte Pergamonmuseum, die Staatsoper oder jetzt auch das überaus umstrittene Projekt Museum der Moderne auf dem Kulturforum."
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Kunst

Robin Rhode. "Paradise" 2016.
Im Tagesspiegel staunt Nicola Kuhn, dass der in Berlin lebende südafrikanische Künstler Robin Rhode bisher kaum gewürdigt wurde. Zum Glück widmet die Kunsthalle Wolfsburg Rhode jetzt eine große Retrospektive, meint Kuhn, die hier auch jene Werke entdeckt, die Rhodes gemeinsam mit Jugendlichen aus südafrikanischen Townships schuf: "Seine 'Kunstarmee', wie er sie nennt, half ihm die jüngsten, ungeheuer farbfreudigen Wandbilder zu realisieren, in denen nach den spielerischen, dann politisch aufgeladenen Motiven die klassische Moderne eine Rolle zu spielt. Josef Albers hätte es sich wohl nicht träumen lassen, dass seine sonnengelben, orangenen Quadrate einmal auf einer Wand in einem südafrikanischen Brennpunktviertel zitiert werden würden. Sol LeWitt dürfte ebenso wenig damit gerechnet haben, dass sein Minimalismus als Addition grasgrüner Dreiecke dort ebenfalls wiederkehren würde, die allen Ernstes ein Performer mit einem Rasenmäher zu stutzen versucht.

Überwältigt kehrt auch Gürsay Dogtas in der SZ aus der großen Lee-Krasner-Retrospektive in der Frankfurter Schirn (Unsere Resümees) zurück, die ihr die "vibrierende" Kraft der amerikanischen Malerin ebenso vor Auge führt wie die "Nüchternheit", mit der sich Krasner den "chauvinistischen Gesten" ihrer männlichen Kollegen des abstrakten Expressionismus widersetzte. Etwa in ihrer Serie "Little Images" aus den Jahren 1946 bis 1950: "Zwischen ihnen hängt ihr 'Abstract No. 2' (1946 bis 1948): Irisierende Farben flimmern durch ein schwarzes Netz, wie die Aufnahme eines Weltraumteleskops, das eine fernen Galaxie durch dunkle Nebel aus interstellarer Materie hindurch fassen will. Dabei hat Krasner beim Malen dieses Zyklus aber nicht zu den Sternen geschaut, sondern sich tief über die Leinwand gebeugt, die auf dem Boden oder dem Tisch liegt."

Besprochen wird außerdem die von Karl Ove Knausgard kuratierte Edvard-Munch-Ausstellung, die aktuell in der Kunstsammlung NRW zu sehen ist (SZ).
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Bühne

Im großen SZ-Interview mit Christine Dössel erklärt Andreas Beck, Martin Kusejs Nachfolger am Münchner Residenztheater, wie er das Haus wieder lokaler gestalten möchte und was er von inszenierenden Intendanten hält: "Das Modell des inszenierenden Intendanten hat früher noch mehr Sinn gemacht, weil jeder an seinem Ort war und diesen mit seinem Stil prägte. Und wenn man etwas von Herrn Stein, Herrn Peymann oder Zadek sehen wollte, musste man hinfahren. Und einmal im Jahr, juhu, kamen alle nach Berlin zum Theatertreffen, zum großen 'Reichstag' der Kurfürsten. Heute wollen die meisten Regisseure gar nicht mehr Intendanten werden, weil sie auf möglichst vielen 'Gutshöfen' inszenieren wollen. Das einzig Beständige in diesem Hin und Her ist die Dramaturgie. Die Dramaturgen bleiben als Produzenten vor Ort. Da ist es nur konsequent, dass ein Dramaturg Intendant ist."

Besprochen wird die am Theater des Florentiner Maggio musicale inszenierte Urfassung von Gaspare Spontinis historischer Oper "Fernand Cortez oder die Eroberung von Mexiko" (FAZ).
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Film

Christiane Peitz hat sich für den Tagesspiegel umgesehen, wie die Film- und Festivalbranche ihren ökologischen Fußabdruck in den Griff kriegen will. Initiativen im größeren und kleineren Maßstab gibt es zwar einige, "dummerweise wird aber weit mehr geredet als getan. Nach wie vor steigt der CO2-Ausstoß der Branche. ... Es ist wie beim Klimapaket der Großen Koalition: Formuliert werden weiche Ziele, freiwillige Selbstverpflichtungen und der Wille zur Ablasszahlung qua Kompensation. Warum macht die Filmpolitik nicht mehr Druck?" Entsprechende kulturpolitische Maßgaben würden jedenfalls "nicht kontrolliert und hatten bisher auch keine Ablehnung von Anträgen zur Folge. Beste Absichten, heiße Luft."

Wenn Disney, Warner und Apple demnächst auf den Streamingmarkt drängen, könnte sich dieser nochmal gewaltig umstülpfen, berichtet Wilfried Urbe in der taz von der Fernsehmesse Mipcom in Cannes - mutmaßlich könnte Netflix als massiv verschuldeter, aber munter weiter Milliarden investierender Programmanbieter von den etablierten Medienhäusern sogar geschluckt werden. "Die größten Nutznießer dieser Situation sind die Film- und Fernsehproduzenten, unter denen eine regelrechte Goldgräberstimmung ausgebrochen ist."

Besprochen werden Bong Joon-hos Cannes-Gewinner "Parasite" (Perlentaucher, Zeit, FAZ), Gregor Schmidingers queerer Film "Nevrland" (Perlentaucher, mehr dazu bereits hier), "After the Wedding" mit Michelle Williams und Julianne Moore (Tagesspiegel), Gabrielle Bradys Dokumentarfilm "Die Insel der hungrigen Geister", der laut Tagesspiegel-Kritiker Arno Raffeinern "einen sehr poetischen Weg" findet, um das Schicksal von Flüchtlingen darzustellen,  Antje Vollmers und Hans-Eckardt Wenzels Biografie über Konrad Wolf (Berliner Zeitung) und die Netflix-Serie "Unbelievable", die davon handelt, dass ein Vergewaltigungsopfer plötzlich selbst zum Gegenstand der Ermittlungen wird (FR).
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Musik

Plastikmüll auf Festivals, und überall heiß laufende Serverfarmen: Die Ökobilanz der Popmusik wird immer weniger vorweisbar, schreibt Markus Lücker im Tagesspiegel. Auch von der vor einigen Jahren noch vorherrschenden Ansicht, dass der Ausstieg aus der CD eher klimaschonend wirken würde, hat man sich verabschiedet. "War die Musikindustrie zur Jahrtausendwende in den USA noch für 157 Millionen Tonnen an Treibhausgasen verantwortlich, könnte sich dieser Wert nach Devines Schätzung bis 2016 mehr als verdoppelt haben. Demnach habe die Branche mit dem Speichern und Verarbeiten von Songdaten in dem Jahr zwischen 200 und 350 Millionen Tonnen Treibhausgase produziert."

Die Band The Aim of Design is to Define Space meldet sich nach langer Funkstille mit einem zehnminütigen Video zurück, das die Gentrifzierung Berlins angeprangert, freut sich Jan Kedves in der SZ. Von den zahlreichen darin gezeigten Berliner Orten sind viele kaum mehr wiederzuerkennen: "Alles voll mit dieser generischen, irgendwie modernen, neu hochgezogenen Mutlosigkeit." Wobei es gar nicht so sehr um nostalgische Sehnsucht nach den wilden 90ern und ihre Brachen geht, sondern die Band "befragt eher den Nostalgie-Mechanismus selbst: Als Stellvertreter für sich haben sie einen präpubertären Skater-Jungen engagiert. Ein unbeschriebenes Blatt, sozusagen. Der Junge blickt schon sehr lässig und superernst in die Kamera. Und steht vor der Volksbühne. Und sie haben ihm ein Ramones-T-Shirt angezogen! Da lauert also die Frage, was von den ganzen kulturellen und subkulturellen Mythen bleibt, wenn sie im Lauf der Zeit Warenform annehmen, wenn sie verscherbelt werden, als T-Shirt, als Religion, als Lebensstil. Und was ist, wenn der Mythos eine ganze Stadt ist?"



Weiteres: Marco Frei schildert in der NZZ die Lage der katalonischen Orgelmusik nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum 2017. Jonathan Fischer stellt in der SZ das Londoner Afrobeat-Kollektv Kokoroko vor, dem es gerade beeindruckend gelingt, Jazz mit Pop-Appeal zu verbinden: "Afro-Folk plus Jazz-Ambiente hoch Inner-City-Coolness", lautet die Erfolgsformel. Im Tagesspiegel porträtiert Muhamad Abdi den schwulen palästinensischen Popmusiker Bashar Murad, der in seinen Texten die Homophobie seines Heimatlandes kritisiert.  Urs Bühler schreibt in der NZZ über die drei Schweizer Baldenweg-Geschwister, die sich auf Filmmusik spezialisiert. Jenni Zylka war für die taz bei Debbie Harrys Lesung aus ihrer Autobiografie.

Besprochen werden das neue Album von Wilco (Standard) und "Now", das Debüt des Hamburger Dance-Pop-Duos Shari Vari (taz).
Archiv: Musik