Im Kino

Das Weltall leuchtet

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Silvia Szymanski
17.10.2019. Zwei Familien spielen die Hauptrolle in Bong Joon-hos "Parasite": Diener und Bediente.  Zugleich ist der Film Meta-Genrekino, weil er gleich mehrere Genres mobilisiert, um ein Bild der koreanischen Gesellschaft zu malen. Gregor Schmidingers "Nevrland" porträtiert einen jungen Kosmologiestudenten und Schlachtergehilfen im Drogen- und Liebesrausch.


Familie Kim lebt in einer innerstädtischen Kellerwohnung mit Panoramablick auf die Gosse, wo ein Trunkenbold regelmäßig sein Geschäft verrichtet. Ohne feste Anstellung verdingen sich die Kims als Tagelöhner in der gig economy, aktuell beim Falten hunderter Pizzakartons. Dass die Nachbarn das WiFi-Passwort geändert haben, ist eine mindere Katastrophe; die Schädlingsbekämpfer dagegen, die draußen die Straße vernebeln, kommen im Kampf gegen das Ungeziefer wie gerufen, und so sitzen und husten wir mit den Kims in ihrem Kellerloch, umgegeben von Pisse, Pestizid und Pizzakartons. Auf einer begrünten Anhöhe am Stadtrand, in einem spätmodernistischen Traum aus Beton, Glas und Edelholz, lebt die Familie Park: Der meist abwesende Paterfamilias ist ein Start-up-Millionär, die weltfremde Mutter Vollzeit mit sich selbst und ihren beiden Kindern beschäftigt. Auch das Luxusanwesen der Parks gibt einen Panoramablick frei. Von der Sofalandschaft im Wohnzimmer aus sieht man auf den perfekt getrimmten Rasen, den weiten blauen Himmel darüber - und sonst nichts.

In Bong Joon-hos Palme d'Or-gekröntem "Parasite" begegnen die Kims und die Parks einander als Diener und Bediente. Wie es dazu kommt, wäre Stoff genug für einen ganzen Film, dient hier aber lediglich zur Exposition. Denn Bongs Film bringt nicht nur die beiden sehr ungleichartigen Familien, sondern auch formal Verschiedenes zusammen: Was als fiese Komödie beginnt, gerät bald in ganz andere Gefilde. Alles fließt zusammen in Bongs eleganter und ökonomischer Inszenierung - mit unvorhersehbaren, schockierenden Konsequenzen. "Parasite" ist Meta-Genrekino nicht aufgrund irgendwelcher selbstreflexiven Anwandlungen, sondern weil er gleich mehrere Genres mobilisiert, um ein Bild der koreanischen Gesellschaft zu malen. Dabei folgt der Film keiner einfachen Eskalationsdramaturgie, sondern hält, bis zuletzt, unterschiedliche Tonalitäten im Spiel. Soziales Elend und Gewalt werden zum Gegenstand von Komik, bis an die Grenze zum Slapstick, aber die komische Überzeichnung wirkt nirgends verharmlosend, sondern schärft im Gegenteil unseren Sinn für die Brutalität sozialer Hierarchien.



Bong ist einem internationalen Publikum seit dem politischen Horrorfilm "The Host" (2006) ein Begriff, in dem ein Imbissbudenbesitzer und sein kognitiv beeinträchtigter Sohn es mit einem Fischmonster aufnahmen. In der Sci-Fi-Allegorie "Snowpiercer" (2013) entfaltete Bong ein Gesellschaftspanorama in der Horizontalen, entlang eines Schnellzugs, in dem die letzten Überlebenden einer neuen Eiszeit um die erstarrte Erde rasen - von den Besitzlosen und Entrechteten in den hintersten Wagons, zu den faschistischen Horden in der Zugmitte und den feinen Leuten in der ersten Klasse. Zuletzt, im Fantasyfilm "Okja" (2017), wandelte Bong auf den Spuren eines genetisch modifizierten Superschweins auf der Flucht vor einem bösen Lebensmittelmulti.

"Parasite" kommt demgegenüber ganz ohne Fantastik aus. Das Material des Films ist die Gegenwart, gefilmt an Originalschauplätzen und ausgestaltet mit Sinn fürs lebensweltliche Detail. Aber es ist ein Genre-Realismus, der sich den Anforderungen der Erzählung fügt: Kein "Gewehr" bleibt ungefeuert; jedes Detail hat seinen exakten Platz im Handlungsfortgang und in der extrem verdichteten Motivik des Films. Auch "Parasite" setzt eine allegorische Mechanik in Gang, diesmal in der Vertikalen, als Konfrontation von über- und unterirdischen Lebensformen. (In seiner vertikalen Topik und doppelten Familie gemahnt "Parasite" an den anderen großen Horrorfilm des Jahres, Jordan Peeles "Us".) Aber während die Fronten in "Snowpiercer" und "Okja" von Anbeginn geklärt sind, ist das Verhältnis zwischen oben und unten in "Parasite" nicht einfach antagonistisch (noch auch "parasitär"), sondern vielfach verstrickt. So sehr sich die Parks gegen Grenzüberschreitungen vonseiten des Personals verwahren, so durchlässig erweisen sich am Ende alle Grenzziehungen - olfaktorisch versinnbildlicht im säuerlichen Rettichgeruch, der von der armen Familie ausgeht. Später, in einem von Bongs typischen Twists, findet der Film eine räumliche Entsprechung für diesen generellen Befund: Das Haus der Parks beinhaltet, was es auszuschließen sucht.

Nikolaus Perneczky

Parasite - Südkorea 2019 - OT: Gisaengchung - Regie: Bong Joon-ho - Darsteller: Song Kang-ho, Jo Yeo-jeong, Park So-dam, Choi Woo-sik, Park Seo-joon - Laufzeit: 132 Minuten.

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Der Kosmologiestudent Jakob (Simon Frühwirth) sitzt vor dem Rechner in seinem Zimmer in der trüben Wohnung, die er sich mit seinem Vater und dem pflegebedürftig an den Fernsehsessel gefesselten Opa teilt. Er ist ein scheuer, nachdenklicher und einsamer Junge, und mit dem Leuchtglobus auf dem Tisch sieht es bei ihm ein bisschen aus wie in der Studierstube eines Eremiten. An dem Abend aber, mit dem der Film beginnt, ruft er eine Sexseite auf. Kontaktvorschläge blinken auf und werden abelehnt. Doch dann begrüßt ihn ein interessanter junger Mann mit einem mokanten Lächeln: Der Videokünstler Kristjan (Paul Forman) alias "Liminal Boy". Als Jakob von diesem Chat am Ende aufsteht, leuchtet das Weltall, in seine Kammer projiziert, wie die Reflexe einer Discokugel.

Die Mutter hat die Familie einst verlassen. Nun lebt Jakob ganz in einer Männerwelt und jobbt im Schlachthaus, wo sein Vater arbeitet. Dort redet er praktisch nur, wenn man ihn fragt. Er ist von einer tiefen, inwendigen Angst gepeinigt, die seinen Blick fürs Unheimliche und Übernatürliche schärft und seinen Blick für das Banale und Natürliche verzerrt. Alles ist bedrängend und zu viel, ein Horror: Die nackten, schwer herabhängenden Tierhälften, die er mit dem Wasserschlauch zu reinigen hat. Die in ihrem Mann- und Erwachsensein gefestigten älteren Kollegen, nackt im Duschraum, korpulent und tätowiert. Der stämmig-muskulöse, väterlich-verständnisvolle Murat, der ihn einarbeitet. Die Schlachter tragen eine orientalisch-esoterisch anmutende Kluft: runde, weiße Häubchen, bodenlange, weiße Gummischürzen. Bei einer Angstattacke wird Jakob ohnmächtig; Ärzte in ebenso weißen Kitteln untersuchen seine Gehirnflüssigkeit und verordnen eine Medikamentenleiste wie Jakobs Opa sie hat.

Date mit Kristjan in einem Museum mit antiken Skulpturen nackter Männer. Making love in Kristjans künstlerisch chicem Loft - wie eine vorsichtige, lebenswichtige Operation. Sie berühren einander wie Geheimnisse und tauschen sich aus in dieser verzaubert lebendigen Nacht. Wie man sich fühlen möge, wenn man stirbt, fragt Jakob. Kristjan, ganz mephistophelisches Double, gibt ihm die Droge DMT, ein Tier- und Pflanzengift; auch der eigene Körper schütte es aus, wenn man geboren wird oder stirbt. Das Wasser in dem gläsernen Inhaliergerät gluckert wie beim Tauchen.



Jakobs mystisch-alptraumhafte Wahrnehmungen, als sie dann einen Club besuchen, erinnern an die Initiationen in den Nachtlokalen aus Hermann Hesses "Steppenwolf" oder Wakefield Pooles "Bijou". Kunst und Schlachtung, Sex und Tod, Mensch und Tier, Pan, Pain, Panik: Alles überflutet Jakob wie einen Zauberlehrling, lässt sich nicht mehr abstellen, vermischt sich, wird verrückt, zerschnitten, verkehrt wieder aneinandergeklebt. Auf einem lebenden Gemälde des 19. Jahrhunderts sitzt Murat, nackt und schwer, auf einem Opferrind. Telefonate mit dem Nichts: "Die von Ihnen gewählte Rufnummer existiert nicht". Die Stimme eines schlafmaskierten Spiegelmannes: "Keine Angst." Jakob nimmt von einem Kind, das ihm erscheint, einen Faden vom wolligen Schlafanzug mit dem naiven Sterne- und Raketenmuster und wickelt sich wie eine Spindel darin ein.

Ein kleiner, konzentrierter und unendlicher Nachtfilm. Wie ein Song. Weltraumkapsel-eng, ernst, poetisch, sehnsüchtig. Mit schön großzügigen Räumen, malerisch komponierten Ensembles und einem zwielichtigen, pudrig weichen, altrosa Maulbeerton, in dem sich die Kontraste verwischen (Kamera: Jo Molitoris.) Ein guter Film für den Herbst, wenn alles brüchig und durchlässig für anderes wird. Ich hab heute Nacht geträumt, ich hätte auch diese Droge genommen. 

Silvia Szymanski

Nevrland - Österreich 2019 - Regie: Gregor Schmidinger - Darsteller: Simon Frühwirth, Paul Forman, Josef Hader, Wolfgang Hübsch, Anton Noori - Laufzeit: 88 Minuten.