9punkt - Die Debattenrundschau

Ein deutliches Störgefühl

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2024. In der FAZ kritisiert Masha Alekhina von Pussy Riot die Ukrainepolitik der Deutschen und ruft Olaf Scholz zu: Hab endlich Eier! Die NZZ stellt Claudia Roths Geschichtsbewusstsein in Frage. In der taz fordert Alexander Schwarz vom Verein ECCHR die Einhaltung des internationalen Rechts im Gazakrieg - aber nur von Israel. Bei den Ruhrbaronen fordert Thomas Wessel die Kulturinstitutionen auf, BDS-Anhängern nicht einfach nur abzusagen, sondern sich endlich mit dem Phänomen inhaltlich auseinanderzusetzen. Die Hamburger Morgenpost soll künftig nur noch einmal die Woche im Print erscheinen, meldet die FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2024 finden Sie hier

Europa

Jörg Seewald unterhielt sich für die FAZ nach einem Auftritt von Pussy Riot in München mit Bandmitglied Masha Alekhina, die erklärt, dass sie auf ihrer Tournee Geld für die Ukraine sammeln. Und die Deutschen könnten verdammt noch mal auch mehr tun: "Ihr müsst mehr Waffen produzieren, die die Ukraine dringend braucht. Ich weiß noch, wie ihr zuerst Helme geschickt habt, um nicht zu provozieren, und dann Gewehre. Zwei Jahre später gabt ihr die F16-Kampfflugzeuge, aber das war eben zwei Jahre zu spät. Da waren viele Gebiete besetzt, dort herrscht nun der absolute Alptraum - in Mariupol und Donezk haben sich einige meiner Freunde entschlossen, in den besetzten Gebieten zu bleiben. Sie sind schockiert, wie es dort zugeht: Morde, Kidnapping, Folter - diese Dinge passieren jeden Tag. Es ist absolut verrückt zu glauben, man könnte den Krieg so einfrieren. Es ist Irrsinn zu glauben, man könne mit Putin verhandeln. Olaf Scholz rufe ich zu: Hab endlich Eier!"

Kerstin Holm reist in Russland über Land zu Kulturveranstaltungen und unterhält sich mit ihren Mitreisenden. Viele Putinfans darunter. Aber was die Mehrheit denkt? Die FAZ-Korrespondentin erfährt es auch bei "Nonfiction" nicht, einer Moskauer Messe für intellektuelles Schrifttum: "Die Kriegsliteratur ist präsent, etwa beim Petersburger Verlag Lira, dessen Stand ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift 'Donbass Lives Matter' ziert. Hier liegen Schriften des von der EU sanktionierten Fernsehpropagandisten Andrej Medwedjew aus, wonach der ukrainische Staat von den westlichen Staaten als Anti-Russland-Projekt geschaffen wurde, sowie illustrierte Ausgaben der Werke der die 'militärische Spezialoperation' preisenden Z-Dichterin Anna Rewjakina, beispielsweise ihr Poem 'Bergarbeitertochter' (Schachtjorskaja dotsch) über ein Mädchen, das wie sie aus dem Donbass stammt und, nachdem ihr Vater im Krieg gegen die Ukrainer umkommt, als Scharfschützin viele von ihnen tötet. ... Der Verlagsmitarbeiter will über diese Titel nicht sprechen und betont, der absolute Bestseller des Hauses sei das Selbstoptimierungsbuch 'Die 1%-Methode' des Amerikaners James Clear."

In den Zeitungen musste Giorgia Meloni viel Kritik einstecken, nachdem die RAI, die inzwischen von Meloni-Anhängern geführt scheint, einen schon gebuchten Auftritt des Schriftstellers Antonio Scurati absagte, der die nicht erfolgte Aufarbeitung des Faschismus in Italien kritisierte (unser Resümee, seine Rede hat die SZ heute auf Deutsch veröffentlicht, hier das Original), berichtet Karen Krüger in der FAZ. Doch immerhin, inzwischen sind andere eingesprungen, um Scurati Gehör zu verschaffen: "Scuratis Monolog wurde mittlerweile in Zeitungen gedruckt, im Radio verlesen. Der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori, hat seinen Kollegen in ganz Italien vorgeschlagen, ihn am 25. April auf den Festbühnen zum Tag der Befreiung vorzutragen."
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Geschichte

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Hart geht Claudia Schwartz in der NZZ mit Claudia Roth ins Gericht, der sie vorwirft, vor Antisemitismus und Israelhass die Augen zu verschließen - sei es in Bezug auf Documenta und Berlinale, beim BDS-Beschluss des Bundestags oder jüngst mit ihrem Rahmenkonzept Erinnerungskultur: "Die deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit war immer in Bewegung - es gibt die Geschichte des Nationalsozialismus, und es gibt die Geschichte seiner Aufarbeitung. Mit beiden machte jede Zeit ihre Politik. Der innenpolitische Konflikt erfährt seit Jahrzehnten immer wieder historische Umdeutung. Aufschlussreich zeigt dies Norbert Freis historische Darstellung 'Im Namen der Deutschen - Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit'. Seit der Nachkriegszeit und besonders intensiv nochmals nach der Wiedervereinigung war die 'neue Staatlichkeit' jeweils eng verbunden mit der Frage, wie es die Deutschen mit dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte halten. Wer die Erinnerungspolitik als überholt betrachtet, sollte sich gerade jetzt, wo die Sicherheit der jüdischen Bürger in Deutschland ein Dauerthema ist, nochmals vor Augen führen, gegen welche Widerstände das deutsche Bekenntnis zum Geschichtsbewusstsein eingefordert wurde."
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Politik

Mirco Keilberth unterhält sich in Berlin für die taz mit Alexander Schwarz vom Verein ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights), der vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen die Lieferung deutscher Waffen an Israel klagt. Es geht dabei nur um Bodeninvasionswaffen, betont Schwarz, nicht um Abwehrwaffen gegen Luftangriffe. "Menschenrechte mit juristischen Mitteln durchzusetzen steht im Zentrum unserer Arbeit als Menschenrechtsorganisation. Dazu gehört es, grundlegende Rechtsprinzipien wie die Achtung des humanitären Völkerrechts juristisch zu verteidigen. Viele unserer palästinensischen Kollegen in Gaza haben Familienangehörige und Freunde durch die israelische Kriegsführung verloren, darunter viele Kinder. Nach den brutalen Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober und den israelischen Reaktionen wurde für uns deshalb schnell deutlich, dass die Einhaltung des internationalen Rechts im Gazakrieg juristisch verteidigt werden muss." Ob man das das internationale Recht nicht auch mal gegen die Hamas verteidigen könnte, fragt Keilberth nicht.
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Kulturpolitik

Wieder einmal lädt die Ruhrtriennale für September einen Künstler ein, der einen besonders aggressiven BDS-Aufruf unterschrieben hat, den belgischen Choreografen Jan Martens. Der Intendant der Ruhrtriennale, Ivo van Hove, versichert zwar, dass Martens den 7. Oktober verurteile und ein Existenzrecht Israels anerkenne. Aber Ruhrbaron Thomas Wessel reicht das nicht: Er fordert, dass sich die Institutionen endlich mit dem BDS-Phänomen inhaltlich auseinandersetzen. "Beispiel Jan Martens: Einerseits erklärt er, die Gründung des Staates Israels habe eine 'Siedlerkolonialherrschaft' begründet, die habe seit Anbeginn 'ethnische Säuberung' betrieben, so dass es unmöglich sei, 'zwischen dem israelischen Staat und seiner militärischen Besatzung' zu unterscheiden, will sagen: Israel und die sogenannten besetzten Gebiete zusammen bildeten 'ein einziges Apartheidsystem'  -  andererseits erklärt Martens jetzt, er erkenne das Existenzrecht dieses 'einzigen Apartheidsystems' an. Einerseits delegitimiert und dämonisiert er Israel, andererseits wendet er sich 'gegen jede Form von Antisemitismus'. Einerseits lässt er glauben machen, 'mögliche Alternativen für unsere zukünftige Welt' entwerfen zu können, andererseits demonstriert er aller Welt, dass er sich  -  Zitat: 'Israel ist die kolonisierende Macht. Palästina ist kolonisiert. Das ist kein Konflikt: das ist Apartheid'  -  allenfalls Kinderreime auf sie macht."
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Gesellschaft

Die Szenen, die sich an der Columbia University ereignet haben (unser Resümee), erinnern Jennifer Wilton in der Welt an die dreißiger Jahre in Deutschland, so "brutal" offenbare sich hier der Antisemitismus. Wie groß wäre wohl der Aufschrei, würde es sich um Schwarze oder Homosexuelle und nicht um gejagte Juden handeln, meint Wilton. Dass sich ein "totalitärer Diskurs" an den Universitäten etablieren konnte, habe auch mit den Institutionen und Lehrenden zu tun: "Einige wenige Stimmen machen in den USA seit Jahren darauf aufmerksam, dass Pluralität unter den Lehrenden gerade in den renommiertesten Bildungseinrichtungen immer geringer wird, dass sich bestimmte Narrative zu einer Mastererzählung entwickelt haben - in der, nebenbei, antiisraelische und antizionistische Motive ihren Platz haben - gegen die immer weniger Widerspruch geduldet wird. Sie warnen davor, dass Aktivismus und Lehre verknüpft werden, ohne dass man sich daran sehr stören würde. Es sollte aber ein deutliches Störgefühl geben, wenn nicht mehr gelehrt, sondern indoktriniert wird."

Immer bizarrere und düstere Szenen spielen sich derweil auf dem Campus ab, der seit Tagen von Pro-Hamas-Gruppen besetzt ist. Dieses Video zeigt, wie eine Gruppe jüdischer Studenten, die auf dem Campus Präsenz zeigen wollte, unter Sprechchören vom Gelände gedrängt wird: "We have Zionists who have entered the Camp."



"Nein, nicht jeder hat einen Anspruch auf eine Debatte", ruft in der taz Jonas Reese den Coronaleugnern zu. Er erinnert sich noch gut an die Aidsdebatte. Schon damals gab es "Leugner und Querdenker. In der Aids-Pandemie hatte ihr Handeln schwerwiegende Folgen. In Südafrika sind zahlreiche Menschen gestorben, weil ihr Land eine Zeit lang vom Aids-Leugner Thabo Mbeki regiert wurde. Man hätte daraus einiges lernen können. Dass das nicht passiert ist, ist ein großes Versäumnis. Bei Corona darf sich das nicht wiederholen." Zwar sei es "richtig und wichtig, über Leugner und ihre Behauptungen zu berichten. Solche Narrative lassen sich nicht einfach ignorieren. Nur ist es ein Fehler, ihre Aussagen als Beitrag zu einer Debatte einzustufen. Ihre Verschwörungserzählungen dürfen nicht gleichberechtigt neben erwiesenen Fakten stehen. Coronaleugner haben nichts in Talkshows verloren. Sie haben nichts zum Diskurs beizutragen. ... Das hätte man aus der Aids-Pandemie für die Zeit mit Corona längst lernen können."
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Medien

Die Hamburger Morgenpost erscheint nur noch einmal die Woche gedruckt, ansonsten online, meldet der Wirtschaftspublizist Hermannus Pfeiffer mit Bedauern in der FR, der näheres von Chefredakteur Maik Koltermann erfährt: "Das neue Kapitel, welches der Verlag am 12. April aufschlug, wurde getrieben von stetig gestiegenen Pro-Stück-Kosten für die Erstellung und den Vertrieb der täglichen Printausgabe, erklärt Koltermann und verweist stattdessen auf mopo.de. Dort liegen viele Artikel hinter einer Bezahlschranke. Online würden sich bis zu 450 000 Menschen täglich über die aktuelle News-Lage informieren - das neue, 104 Seiten starke Wochen-Mopo-Format sei die optimale Ergänzung zu diesem Digitalangebot, versichert Koltermann. Die Ergänzung kostet mich bei meinem Zeitungshöker 4,80 Euro. Eine andere Mopo-Welt, welche auf einen Teil der etwa 100 Beschäftigten in Verlag und Redaktion verzichten wird. Ein weiterer Schlag für den Printstandort Hamburg, nach dem Zusammenschluss der Kölner Bertelsmann-Tochtergesellschaft RTL Deutschland mit der Hamburger Verlagsikone Gruner + Jahr."
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Religion

Christian Geyer (FAZ) hat mit Begeisterung den Disput zwischen den Theologen Georg Essen und Hubert Wolf verfolgt, den die beiden in der theologischen Zeitschrift Herder Korrespondenz Spezial geführt haben und der offenbar in der Frage gipfelte, ob Frauen nun zum Priesteramt zugelassen werden sollen oder nicht. Das ist komplex, erklärte Essen und gewann damit Geyers Herz: "Selten macht Theologie so interessant von sich reden wie bei diesem von Stefan Orth dramaturgisch effektvoll moderierten Disput, bei dem es mit der Paradoxie des Dogmas geradewegs ins Zentrum aller innerkirchlichen Reformdiskussionen geht." Einerseits. Andererseits: "Warum lässt sich theologisch nicht einfach Tabula rasa machen, etwa durch Dichtmachen oder Umbenennung von Dogmen, wie man es von Straßen her kennt? ... Essen ist nicht grundsätzlich gegen diese Ansicht, er räumt ein: 'Umbrüche können Innovationen auch dann legitimieren, wenn sie einen Bruch mit der Tradition darstellen.' Allerdings müssten auch Brüche regelgeleitet vonstatten gehen, orientiert an den Gehalten der lehramtlich gültigen dogmatischen und rechtlichen Vorgaben." Ist das eine Umschreibung für Veränderungen totreden?
Archiv: Religion