9punkt - Die Debattenrundschau

Die Freiheit des Anderen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2024. China hält dem Iran weiterhin den Rücken frei, weiß Zeit Online. Es ist hässlich, aber die diplomatischen Gespräche mit Iran dürfen auf keinen Fall abbrechen, warnt Spon. Im Guardian fürchtet die in Brüssel lebende saudische Menschenrechtsaktivistin Lina al-Hathloul um ihre Schwester: die darf nicht mehr aus Saudi-Arabien ausreisen, weil sie dafür kämpft, dass Frauen Autofahren dürfen. In der FAZ erklärt Hedwig Richter, warum die deutschen Politiker eine "Suppen-Kasper-Freiheit" propagieren und was daran gefährlich ist. In der SZ erzählt Wolfgang Tillmans, warum er ausgerechnet die SPD Sachsen mit einer 50.000 Euro Spende unterstützt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.04.2024 finden Sie hier

Ideen

Suppenkasper-Freiheit", die sich in allen Ecken der Politik einniste. Politiker aller Parteien scheinen mittlerweile zu glauben, sie könnten ihren Wählern überhaupt keine Einschränkungen mehr in ihrem Alltagsleben zumuten, kritisiert Richter, die überzeugt ist, dass die Politik den Menschen mehr zutrauen kann: So habe "Im großen SZ-Interview mit Jörg Häntzschel erklärt der Fotograf Wolfgang Tillmans, der schon 2016 eine Plakat-Kampagne gegen den Brexit gestaltete, warum er nun ausgerechnet die SPD Sachsen mit einer 50000 Euro-Spende unterstützt, auch wenn er nicht einhundert Prozent einverstanden mit deren Programm ist: "Meine erste große Spende hätte auch einer anderen Partei zukommen können, aber in Sachsen richtet sich die Hoffnung so einseitig auf die CDU als einziger Alternative zur AfD, dass ich es wichtig fand, die SPD zu unterstützen." Plakative Slogans gegen Rechts findet Tillmanns trotzdem nicht so gut: "Es ist völlig okay, für diese Bundesrepublik Deutschland aufzustehen. Wenn wir so weitermachen, ist dieser Staat wirklich in Gefahr. Es muss ein ganz anderes positives Gefühl von Zusammenarbeit an der Gesellschaft entstehen. Umgekehrt muss aber dieses Ausgrenzen von Menschen aufhören, egal in welche Richtung. Ein Slogan wie 'Ganz Berlin hasst die AfD' ist so unangenehm. Menschen erst mal hassen, das kann nicht sein. Diese Negativität wird von der AfD verbreitet. Sich davon nicht anstecken zu lassen, ist ganz wichtig."
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Politik

Mit Diktaturen reden ist nicht schön, meint Marcus Becker auf SpOn, aber manchmal notwendig. Im Falle Irans dürften auch nach dem Angriff auf Israel die diplomatischen Gespräche auf keinen Fall abbrechen: "Bei einem Totalabbruch der Kontakte, einschließlich aller Wirtschaftsbeziehungen, entfiele für Iran ein wichtiger Anreiz, die Bombe nicht zu bauen. Dann gäbe es nur noch eine Möglichkeit, das Regime daran zu hindern - einen Militärschlag." Und das, so Becker, kann niemand wollen: "Es ist daher richtig, dass Trumps Nachfolger Joe Biden öffentlich klargemacht hat, sich an einem israelischen Angriff gegen Iran nicht zu beteiligen. Sollte ein Bombardement von Irans Nuklearanlagen dazu führen, dass Iran sich die Bombe zulegt, wären die Folgen unabsehbar. Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman hat erst vor wenigen Monaten angekündigt, sein Land in diesem Fall ebenfalls nuklear zu bewaffnen. Israels Monopol auf Atomwaffen im Nahen Osten wäre passé."

In der Zeit ärgert sich Philip Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, dessen jüdische Mutter mit ihrer Familie 1967 aus dem Iran fliehen musste, enorm über Forderungen, "Israel solle deeskalieren. Da werde ich emotional. Wieso ermahnt Außenministerin Annalena Baerbock jedes Mal, wenn etwas passiert, Israel - und nicht zuerst den Iran oder die Hamas? Wieso wird bei ihr Israel zum Aggressor? Es gibt eine legendäre Schlagzeile des Focus: 'Israel droht mit Selbstverteidigung'. Die bringt es auf den Punkt." Auch Arye Sharuz Shalicar, Major und Pressesprecher der israelischen Armee, fragt in der Zeit: "Dürfen wir Juden uns aus Sicht der Mahner überhaupt wehren?"

Die arabischen Staaten haben jedenfalls kein Interesse an einem Krieg mit Israel, glaubt Matthias Naß auf ZeitOnline: "Sie wollen endlich ihren Frieden mit Israel schließen. Dies zeigte sich in den 'Abraham-Abkommen', die Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Marokko mit der Regierung in Jerusalem geschlossen haben. Vollends wurde dies deutlich, als Jordaniens Luftwaffe dabei half, die iranischen Drohnen und Raketen vor Erreichen des israelischen Staatsgebiets abzuschießen. Die alten Feindbilder in Nahost schienen plötzlich außer Kraft gesetzt zu sein. Bei der Abwehr des iranischen Angriffs arbeiteten Israels ehemalige Gegner auf das Engste mit dessen westlichen Verbündeten Amerika, Frankreich und Großbritannien zusammen." China allerdings hält dem Iran weiterhin den Rücken frei.

Im Guardian fürchtet die in Brüssel lebende saudische Menschenrechtsaktivistin Lina al-Hathloul um ihre Schwester Loujain, die zu den Frauen gehört, die nicht mehr aus Saudi-Arabien ausreisen dürfen. "Ihr Verbrechen? Sie haben sich für die grundlegenden Menschenrechte eingesetzt. Loujain ist eine prominente saudische Frauenrechtlerin, die die Kampagne gegen das Fahrverbot für Frauen anführte und sich unermüdlich für die Abschaffung des männlichen Vormundschaftssystems einsetzte. Loujains mutiger und offener Aktivismus wurde von den saudischen Behörden mit Repressionen beantwortet. Im März 2018 wurde sie von den Straßen der Vereinigten Arabischen Emirate entführt und gewaltsam nach Saudi-Arabien zurückgebracht." Jetzt unterliegt sie einem "dauerhaften Reiseverbot ohne Ablaufdatum. Die Behörden haben nie eine Begründung geliefert und ignorieren weiterhin unsere Anfragen."

In der NZZ berichtet der Politikwissenschaftler Junhua Zhang über ein Treffen des chinesischen Präsidenten Xi Jinping mit Ma Ying-jeou, dem ehemaligen Präsidenten Taiwans. Dabei besprachen sie, unter welchen Voraussetzungen, eine Wiedervereinigung "auf demokratische Weise" stattfinden könnte. Was auch immer das für beide Seiten bedeute. Bis heute gelte für Xi Jinping offiziell Deng Xiaopings "Losung 'Ein Land, zwei Systeme". Aber wer würde ihm vertrauen? "Es sei daran erinnert, dass Dengs Konzept im Jahre 1997 eine kluge Lösung für Hongkong war. Indes war es Xi selbst, der Dengs Konzept völlig zerstört hat.(...) Mit anderen Worten: Es war Xis eigener Bruch mit Dengs politischem Plan, der die Glaubwürdigkeit der KPCh für Taiwan zunichtemachte. Seitdem wollen die Inselbewohner nicht mehr auf 'Ein Land, zwei Systeme' hereinfallen."
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Stichwörter: China, Iran, Israel

Religion

Der Religionswissenschaftler Reinhard Flogaus ruft in der FAZ den Ökumenischen Rat der Kirchen dazu auf, Konsequenzen gegenüber dem Oberhaupt der Russisch Orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, zu ziehen. Kyrill verteidige den Krieg in der Ukraine als "Heiligen Krieg". Der Leitsatz des ÖRK "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!" ist mit der christlichen Botschaft unvereinbar, so Flogaus: "Der ÖRK muss handeln, sonst wird er unglaubwürdig. ... Der Zentralausschuss des ÖRK muss über Konsequenzen aus der Aufkündigung des Amsterdamer Gründungskonsenses des ÖRK durch die ROK nachdenken. Das ist er den orthodoxen Kirchen in der Ukraine und allen anderen Kirchen schuldig. … Der Zentralausschuss des ÖRK sollte nun prüfen, ob ein Ausschluss oder eine Suspension der Mitgliedschaft der ROK möglich wäre."

Ist die von Donald Trump mitpropagierte "Ideologie des christlichen Nationalismus bloß harmlos patriotisch wie Apfelkuchen", fragt sich Marc Neumann in der NZZ. Mitnichten, wie islamische Fundamentalisten streben auch die Christlichen Nationalisten (CN) die Zurückdrängung der Macht des Staates an, erfährt Neumann beim CN-Aussteiger Brad Onishi: "Laut Onishi geht es den radikalen Christen darum, die Grenze zwischen Kirche und Staat einzureißen. Sie sähen sich in einem existenziellen Kampf zwischen Gut und Böse und forderten deshalb wirtschaftliche, soziale und politische Privilegien für Christen in den USA. (...) Christen sollten die sieben Hügel von Staat, Familie, Religion, Wirtschaft, Schulwesen, Medien und Kunst/Unterhaltung stürmen, um von dort die Menschheit zu kontrollieren und die Erde für Gott zu kolonialisieren."
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Gesellschaft

In der Zeit wundert sich Peter Neumann über das angebliche "Klima der Angst", das laut New York Times, London Review of Books oder dem Guardian in Deutschland herrschen soll. Sogar von einem "philosemitischen McCarthyismus" als Ausfluss deutscher Erinnerungskultur ist die Rede, der jede Kritik an Israel unterbinden solle. Diese Bezichtigungen sind mittlerweile "selbst zur Pose im erinnerungspolitischen Kulturkampf geworden", meint Neumann. "Es ist aber nicht nur die überzogene Kritik, die zur Verteidigung aufruft: Das Besondere an der deutschen Erinnerungskultur ist ihre Resilienz. Ihre Widerstandskraft gegen allzu schrille Bekenntnisse. Es ist äußerst befremdlich, dass ausgerechnet jene, die nach dem Terror der Hamas jeden Sinn für die Trauer um die israelischen Opfer vermissen ließen, nun ihrerseits die Unfähigkeit zu trauern beklagen. Das heißt nicht, einer Opferkonkurrenz das Wort zu reden, eine solche darf es nicht geben. Es zeigt nur, wie weit gerade viele linke Stimmen in den vergangenen Monaten immer noch von der grundlegenden Einsicht entfernt sind, dass jedes menschliche Leben gleich viel wert sein sollte, mag es sich dabei um das einer Israelin oder eines Palästinensers handeln."

Im taz-Interview hält der Rechtsanwalt Michael Plöse den Abbruch des Palästina-Kongresses für nicht grundrechtskonform. Plöse beriet am Wochenende die Veranstalter und macht als einen Grund für den Abbruch die mediale Berichterstattung im Vorfeld des Kongresses aus: "Es gab in jedem Fall eine politische Erwartung, das war doch den Medien deutlich zu entnehmen. (...) Für mich ist offensichtlich, dass der zuständige Polizeidirektor mit einer abweichenden Entscheidung karrieretechnisch einen Fehler begangen hätte. Hätte er grundrechtskonform entschieden und die Versammlung weiterlaufen lassen, hätte er den in ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprochen und Schlagzeilen provoziert, dass die Polizei Antisemiten schützt. Dass es sich um einen 'Israelhasser-Kongress' handelt, war ja vorher schon überall zu lesen. Er hat also ohne einschlägige Rechtsgrundlage entschieden und mildere Maßnahmen verworfen."
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