9punkt - Die Debattenrundschau

Kein Dialog mit dem Westen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2023. Es gibt auch in der Linken Gruppen, die das Verteidigungsrecht der Ukraine unterstützen, erinnert Anastasia Tikhomirova in der taz. Auf einen bedeutenden Unterschied zwischen dem Irak-Krieg von 2003 und dem Krieg gegen die Ukraine macht Michael Thumann in der Zeit aufmerksam: Putin ist stolz auf seine Kriegsverbrechen. Die SZ hofft, dass die Türken der Welt bei der kommenden Wahl zeigen, wie man Demokratie verteidigt. In Israel wurde noch nie nicht demokratisch gewählt, erinnert Martin van Creveld in der Welt. Indien geht es wesentlich schlechter, als die Welt glaubt, sagt der Wirtschaftshistoriker Ashoka Mody, der in der NZZ das korrupte indische Bildungssystem anklagt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2023 finden Sie hier

Politik

In seinem Buch "India ist broken" rechnet der indische Wirtschaftshistoriker Ashoka Mody mit seinem Land ab, dem er 75 Jahre nach der Unabhängigkeit im NZZ-Interview totales "Staatsversagen" attestiert. "Essenzielle öffentliche Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsversorgung, ein funktionierendes Justizsystem, Qualität von Wasser und Luft - all dies wird kaum geliefert. Es gibt eine Zweiteilung in Indien: einerseits Weltklasse-Bildung und -Gesundheitsversorgung für die Privilegierten. Andererseits eine sehr schlechte Bildung und Gesundheitsversorgung für die große Mehrheit." Indien gehe es wesentlicher schlechter, als die Welt glaube, sagt er. Eines der Hauptprobleme sieht er in der schlechten Qualität der Bildung: "Das größte Problem ist die Qualität der Lehrer. Es ist ein System, das immer korrupter geworden ist: Lehrer sind in Indien mittlerweile relativ gut bezahlt, viele wollen daher diesen Job. Um Lehrer zu werden, braucht man aber ein Zertifikat. Viele lokale Politiker erschleichen mit Schmiergeld eine Lizenz, um Lehrer zu zertifizieren. Studenten zahlen diesen Politikern viel Geld, um das Zertifikat zu erhalten, obwohl die Qualität der Ausbildung schlecht ist. Aus diesen Studenten werden Lehrer, die zwar zufrieden sind mit ihrem Job, aber keine richtige Ausbildung haben oder Anreiz zum Unterrichten."

"Der Iran ist … technisch in der Lage, Uran auf mehr als 83 Prozent anzureichern, das ist nicht weit weg von der Bombe", sagt die OSZE-Direktorin Helga Schmid, die für ihren Verhandlungsbeitrag zum iranischen Atomabkommen von 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, im Tagesspiegel-Interview: "Leider hat dann der damalige US-Präsident Donald Trump entschieden, am 8. Mai 2018 aus dem Abkommen auszusteigen. Dabei hatte die IAEO bis dahin alle Vierteljahre klar dokumentiert, dass der Iran alle seine Verpflichtungen aus dem Abkommen erfüllt hatte. Dann fühlte sich auch der Iran nicht mehr daran gebunden, die damalige verhandlungsbereite Regierung von Hassan Rohani wurde abgelöst. Die EU hielt nach Donald Trumps Ausstieg geschlossen am Abkommen fest. Aber auch europäische Banken und Firmen waren von den exterritorialen Sanktionen der USA betroffen, wollten verständlicherweise ihr Amerikageschäft nicht gefährden und verzichteten deshalb auf das mit dem Iran."

Auch wenn er mit der aktuellen Regierung nicht zufrieden ist, singt der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld in der Welt eine Hymne auf Israel, das, was das Glück betrifft, auf Platz zwölf von 180 liegt: "Von den weit über hundert Ländern, die seit 1948 ihre Unabhängigkeit erlangt haben, ist Israel eines der ganz wenigen, das immer demokratisch geblieben ist, in dem Sinne, dass regelmäßig Wahlen abgehalten wurden. Mit Ausnahme des Jahres 1973, als der arabischisraelische Krieg zu einer kurzen Verschiebung führte, wurden alle Wahlen pünktlich abgehalten. Alle wurden nach lebhaften Wahlkämpfen geführt, in denen fast alle Standpunkte vertreten waren und frei geäußert werden konnten. Das gilt auch für die berüchtigten Wahlen vom November 2022. Nicht ein einziges Mal kam es bei den Wahlen zu ernsthaften Unruhen, geschweige denn zu Gewalt. Nicht ein einziges Mal war die Rede davon, dass im großen Stil Stimmzettel gefälscht worden seien oder Ähnliches."
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Europa

Nicht alle Linken sind für Russland oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, auch hier gibt es Gruppen, die das Verteidigungsrecht der Ukraine unterstützen, erinnert Anastasia Tikhomirova in der taz und ruft zur Soldarität auf: "Die Berliner Gruppe Right to Resist UA, die ins Leben gerufen wurde, weil die Aktivisten die mangelnde Solidarität von Linken in Deutschland mit Ukrainern entsetzlich fanden, gehört dazu. Sie orientiert sich an den Positionen der ukrainischen Sozialisten Socialny Ruch, bei denen sich der Historiker Taras Bilous engagiert. Er kritisiert seit Beginn der russischen Komplettinvasion regelmäßig die Ignoranz der westlichen Linken gegenüber Russlands imperialen Ansprüchen. Anstatt die Welt nur in geopolitischen Lagern zu sehen, müssten sozialistische Internationalisten jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten, findet Bilous. Er kämpft zudem an der Front und plädiert für Waffenlieferungen. 'Auch wir stellen uns gegen das kapitalistische System, in dem mit Krieg Profit gemacht wird', betont Aktivist Ian von Right to Resist. Man trete nicht generell für Waffenlieferung ein. 'Unsere Forderungen dürfen aber nicht realitätsfern werden.'"

Am Dienstagnachmittag beschloss der Labour-Parteivorstand auf Antrag Keir Starmers, dass dessen Vorgänger Jeremy Corbyn bei der nächsten Wahl 2024 in seinem Wahlkreis in Nord Islington, London, nicht mehr für Labour kandidieren darf, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski auf einer zweiseitigen Reportage in der taz. Das hat vor allem mit Corbyns Antisemitismus zu tun. Viele Labour-Mitglieder sind darüber nicht glücklich, denn Starmer ist ihnen nicht links genug: "In Islington müssen die Labour-Aktivisten jetzt erst mal die Nachricht verdauen, dass ihr geliebter Abgeordneter Jeremy Corbyn nun außerhalb der Partei steht. 'Er ist beeindruckend gut, er sorgt sich sehr um die Wahlgemeinde und ist ansprechbar', so beschreibt Jasmin Walker ihren Abgeordneten. Selbst für kleine Treffen habe er sich Zeit genommen, berichtet die 28-jährige, die ein Online-Geschäft führt. Sie weiß, dass Corbyns Verbannung etwas mit Antisemitismus zu tun hat, aber genau versteht sie das nicht. 'Die Maßnahmen gegen Corbyn finde ich scheinheilig. Boris Johnson hat klar rassistische Sachen von sich gegeben und ihm ist so etwas nicht passiert.'" Ist Johnson jetzt bei Labour?

Auch der Irak-Krieg von 2003 war illegitim und gehört sicherlich zu den Faktoren, die heute Putins Krieg gegen die Ukraine möglich machten, dennoch gab es einen Unterschied, notiert Michael Thumann in der Zeit: "Einer der größten Schandflecke der jüngsten amerikanischen Geschichte ist das Foltergefängnis von Abu Ghraib im Irak. Die Verbrechen amerikanischer Uniformierter wurden allerdings in den USA verfolgt. Einige Täter und Komplizen wurden verurteilt und degradiert, wenn auch leider nicht die politisch Verantwortlichen. Wladimir Putin aber ließ die Täter der Massaker in den Vororten von Kiew mit Orden überhäufen. Das russische Regime ist ernsthaft stolz auf solche Verbrechen."

Im Tagesspiegel glaubt Christian Mölling, Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung, an eine weitere Welle der Mobilisierung in Russland: "Viele Soldaten der ersten Welle sind bereits gestorben oder verwundet. Es gibt vereinzelte Berichte, dass sich reguläre Armeetruppen weigern zu kämpfen. Mobilisierung ist auch eher ein Euphemismus, teilweise wird ja richtiggehend zwangsrekrutiert. Und die Rekruten müssen auch noch ausgebildet werden. Inzwischen werden sie teils ohne große Vorbereitung direkt an die Front geschickt."

In der SZ hat Raphael Geiger nicht wenig Hoffnung, dass Recep Tayyip Erdogan die kommenden Wahlen verlieren wird und die TürkInnen der Welt zeigen, wie man eine Demokratie verteidigt: "Die Türkei ist nie das fromme, dem Präsidenten hörige Land geworden - weil die Türkinnen und Türken jahrelang nicht nachgelassen haben. Erdoğans Gegner haben den Gegendruck aufrechterhalten. Sie gingen am Frauentag demonstrieren und auch an vielen anderen Tagen. Sie ließen sich gewisse Dinge nicht nehmen, Twitter etwa, also den Zugang zu Information. Die Opposition gewann zwar jahrelang nicht, blieb aber bestehen und vereinte sich zuletzt. Journalisten gründeten ihre geschlossenen Zeitungen neu, als Onlineportale. Selbst am Kiosk liegen noch immer die Cumhuriyet oder die Sözcü aus, die täglich schreiben, was Erdoğan falsch macht."
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Gesellschaft

In seinem aktuellen Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" fordert der Germanist Dirk Oschmann eine Abschaffung des Ostbeauftragten. Den empfindet er nämlich wie einen "wenn man so sagen darf, 'Indianerbeauftragten'" in den USA, erklärt er im Streitgespräch, zu dem ihn die Zeit mit eben jenem Ostbeauftragten Carsten Scheider (SPD) geladen hat. Nach wie vor gelte: "Sobald ein junger Mensch aus Ostdeutschland in den Westen geht, macht er bestimmte Fremdheitserfahrungen. Und andersherum ist es auch so. Die jungen Leute tragen das Problem weiter", meint er, worauf ihm Schneider antwortet: "Man darf nicht darauf warten, dass sich Unterschiede einfach auswachsen. Sonst wartet man im Zweifel Jahrzehnte oder vergeblich. Die neue Ost-Identität in der Literatur stimmt mich hoffnungsvoll. Es entsteht daraus aber leider kein Dialog mit dem Westen, weil die Antwort oder auch schlicht das Interesse fehlt. Trotzdem gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern, die sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen - allerdings nicht so defätistisch, wie Sie das tun, Herr Oschmann."
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Medien

Künftige RBB-Direktorinnen und Direktoren sollen weniger verdienen als bisher, zudem wurde das Ruhegeld abgeschafft, meldet Joachim Huber im Tagesspiegel mit dpa: "Stattdessen soll es bei Bedarf ein zeitlich eng befristetes Übergangsgeld geben, wenn ein Vertrag nicht fortgesetzt wird."
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Stichwörter: RBB, Ruhegeld