9punkt - Die Debattenrundschau

Noch schmerzhafter als die Explosionen auf der Krim

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.08.2022. Die Sowjetunion war nichts anderes als ein imperialistischer Staat, dessen gewaltiges Territorium sich auch seinen kolonialen Expansionsgelüsten verdankte, schreiben die Historikerinnen Botakoz Kassymbekova und Annette Werberger in der FAZ - es kommt darauf an, die osteuropäische Geschichte zu dekolonisieren. Mag sein, dass er nicht Putins Hausphilosoph ist, aber einflussreich ist Alexander Dugin schon, beharrt Gideon Rachman in der Financial Times. Die "russische Seele" ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Zurichtung, die von der Moderne nur oberflächlich angekratzt ist, warnt der russische Schriftsteller Alexander Estis in der SZ. In der taz fragen Monireh Kazemi und Ulrike Becker, was Postkolonialismus in den Hirnen von Feministinnen anrichtet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.08.2022 finden Sie hier

Europa

taz-Korrespondentin Inna Hartwich berichtet aus Moskau über Spekulationen nach dem Mordanschlag auf Darja Dugina: "Der Anschlag, der höchstwahrscheinlich Duginas Vater gegolten hat, zeigt mit und ohne die ominöse Partisanengruppe auf wunde Stellen des Regimes. Wären es ukrainische Geheimdienstler, wie Russland das darstellt, so müsste sich Moskau fragen, wie gut russische Sicherheitsbehörden eigentlich arbeiten. Die blutige Tat ereignete sich nicht weit von der Gegend entfernt, in der höchste russische Funktionäre leben." In einem Kommentar ergänzt Hartwich: "Der Mord an der 29-Jährigen dürfte für eine weitere Radikalisierung in Teilen der russischen Elite sorgen. Die Konservativen fühlen sich angesichts solcher Terrorakte nicht sicher und dürften von Russlands Präsident Wladimir Putin eine härtere Gangart gegenüber der Ukraine, aber auch gegenüber Kritiker*innen des russischen Regimes im In- und Ausland verlangen."

Friedrich Schmidt und Reinhard Veser haben für die FAZ mit dem Nawalny-Mitarbeiter Leonid Wolkow gesprochen, für den vor allem der Ort des Anschlags - ein Reichenvorort westlich von Moskau - Symbolkraft hat: "Dass dort ein solcher Anschlag verübt werden könne, sei für Putin und seinen Geheimdienst noch schmerzhafter als die Explosionen auf der Krim."

Der FSB war sehr schnell dabei, die Ukraine für das Attentat verantwortlich zu machen. Alles andere wäre ja auch noch peinlicher, meint Frank Nienhuysen in der SZ: "Offenbar sollen mit dem rasch verbreiteten angeblichen Aufklärungserfolg im Mordfall Dugina zugleich Spekulationen verscheucht werden, dass auch innerrussische Gegner des Kriegs ein Motiv haben könnten. Solche hatten sich zunächst dazu bekannt. Und es kursierten sogar nicht nur in der Ukraine, sondern vereinzelt auch in Russland Gerüchte, der FSB selbst könnte seine Finger im Spiel gehabt haben. Es ist nicht die Zeit von Vertrauen und Gewissheiten."

Viele Experten bestreiten, dass der Eurasianist Alexander Dugin einen direkten Einfluss auf Putin habe. Das heißt aber nicht, dass er überhaupt keinen Einfluss hat, schreibt Gideon Rachmen in der Financial Times: "In China genießt er große Bekanntheit. Er hat aus seiner vermeintlichen Nähe zu Putin - und seinen Sprachkenntnissen (er spricht fließend Englisch und Französisch) - Kapital geschlagen, um sich eine beachtliche internationale Rolle aufzubauen. In China, dem Iran und der Türkei ist Dugin zum Sprecher und Koordinator derjenigen geworden, die Amerikas globale Hegemonie zerstören wollen. In Europa und den USA hat er Kontakte zu rechtsextremen Kräften geknüpft und sich als Verbündeter im Kampf gegen den 'Globalismus' positioniert."

"Was genau soll eigentlich das Ziel des westlichen Engagements in der Ukraine sein?", fragt in der Welt Christoph B. Schlitz angesichts der nach wie vor mageren Geld- und Waffenlieferungen aus dem Westen. Und kritisiert vor allem die Hinhaltetaktik der Deutschen: "Warum liefert Deutschland nicht endlich Leopard-Panzer? Das Argument, man habe gegenüber der Nato Verpflichtungen, ist ein Vorwand: Russland wäre auf mittlere Sicht gar nicht in der Lage, ein Nato-Land anzugreifen. Warum also schickt Berlin die hochwertigen Waffen nicht dahin, wo sie am dringendsten gebraucht werden? Dorthin nämlich, wo angeblich die Freiheit des Westens verteidigt wird: in die Ukraine. Man muss es so deutlich sagen: Kanzler Scholz begeht Verrat an der Ukraine."
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Medien

Die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger ist unterdessen offiziell fristlos gefeuert, melden die Medien. Stefan Niggemeier kommentierte in seinen Übermedien noch mal die spektakuläre Distanzierung aller acht Schlesinger-KollegInnen aus den Sendern, die auch der noch amtierenden Geschäftsführung des Senders ihr "Misstrauen" aussprachen: "Man kann das alles für Theaterdonner halten, insbesondere weil die gemeinsame Erklärung keine formalen Konsequenzen hat: Die ARD hat dem rbb gar nichts zu sagen. Insofern ist der Schritt vor allem symbolisch und ein Versuch, demonstrativ maximale Distanz zwischen ein unübersehbar toxisches System bei einer Rundfunkanstalt und allen anderen Rundfunkanstalten zu bringen. Die öffentliche Wirkung ist jedenfalls gewaltig, und die ARD hat selbst alles dafür getan, sie zu maximieren."

FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld berichtet, dass die Distanzierung in Berlin nicht so gut angekommen ist: "Das vom ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow im Namen aller Intendanten verkündete Misstrauensvotum der ARD wies der neue RBB-Rundfunkratsvorsitzende Dieter Pienkny zurück. 'So stelle ich mir Solidarität nicht vor', sagte er dem Berliner Tagesspiegel. In einer Zeit, in der alle Kollegen und Kolleginnen im RBB den Schutt wegräumten und Lösungen suchten, sei so etwas nicht konstruktiv."

Zeit-Herausgeber Theo Sommer, Urgestein des bundesrepublikanischen Journalismus, ist im Alter von 92 Jahren gestorben. Selbst bei Zeit online gibt es bisher nur eine Meldung. Sommer war bis ins letzte Jahr ein engagierter Verfechter von Nordstream 2: "Sobald eine Pipeline gebaut ist, verlagert sich der Machtschwerpunkt vom Anbieter auf den Käufer. Der kann im Konfliktfall abschalten, der Produzent bleibt dann auf seinem Öl oder Gas sitzen."
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Geschichte

Die lange Zeit von vielen westeuropäischen Linken in Ehren gehaltene Sowjetunion war nichts anderes als ein imperialistischer Staat, dessen gewaltiges Territorium sich auch seinen kolonialen Expansionsgelüsten verdankte, schreiben die Historikerinnen Botakoz Kassymbekova und Annette Werberger in der FAZ. Besonders unter Stalin wurden politische Eliten unterworfener Ethnien, "die sich eine andere Zukunft für ihre Völker vorstellten, ausgelöscht. Zudem wurden einige Gruppen als feindliche Völker bezeichnet, weil sie angeblich mit Ausländern kollaborierten. Diese Stereotype zielten meist auf Nichtrussen, die als besonders gefährlich galten (Deutsche, Tschetschenen, Krimtataren, Koreaner) oder als unterentwickelt betrachtet wurden. Die Russen wurden als Maßstab der zivilisatorischen Entwicklung angesehen. Wer Aufstiegschancen suchte, musste sich russifizieren." Die beiden Autorinnen erinnern an den amerikanischen Historiker Mark von Hagen und dessen Artikel "Does Ukraine Have a History?" von 1995 und rufen auf, Osteuropastudien selbst zu dekolonisieren. "Die Diversifizierung der Osteuropastudien und der Umbau von Strukturen, Studiengängen und internationalen Kontakten ist eine wichtige Investition, damit wir in Europa in Zukunft in den Morgenstunden seltener von 'der Geschichte' überrascht werden."
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Ideen

Die vielgerühmte russische Seele ist das Ergebnis einer jahrhundertelanger Zurichtung, die von der Moderne nur oberflächlich angekratzt ist, warnt der russische Schriftsteller Alexander Estis in der SZ. Kinder lernen nicht verstehen, sondern gehorchen. Aber- und Wunderglauben sind verbreitet, die orthodoxe Kirche unterstützt das sogar noch: "Die psychische Wirkungskraft der Orthodoxie speist sich aus einer archaischen Gefühlsmechanik, die Angst, Scham, Schuld und Strafe als manipulative Hebel instrumentalisiert. Von frühester Kindheit an erzieht sie den Menschen zum unerschütterlichen Glauben an die unwahrscheinlichsten Wunschbilder, verlangt von ihm blinden Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität. Man müsste wiederum selbst blind sein, um zu verkennen, dass damit die herrlichsten Voraussetzungen für die Kontrolle der Gläubigen durch die Kremlpropaganda bereitet werden. Mehr noch: Die über Jahrhunderte hinweg gewachsene Liaison mit imperialistischen, chauvinistischen, antisemitischen, antiwestlichen und gegenaufklärerischen Tendenzen macht die orthodoxe Kirche zur Zuarbeiterin und Stichwortgeberin der heutigen Staatsdoktrin."
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Politik

Die taz-Korrespondentin Julia Neumann hatte neulich der iranischen, im amerikanischen Exil lebenden Feministin Masih Alinejad vorgeworfen, sie zwinge iranischen Frauen westliche Werte auf, indem sie sie von ihren Kopftüchern befreien wolle (unser Resümee). Darauf gab es bereits eine empörte Antwort (unser Resümee). Heute antworten die Exil-Iranerin Monireh Kazemi und die Historikerin Ulrike Becker: "Woher kommen diese Entsolidarisierung, die Empathielosigkeit und die Anklagen gegen eine Frau, die ihr Leben dem Kampf der iranischen Frauen für Selbstbestimmung widmet und dafür mit Mord und Folter bedroht wird? Die Dominanz postkolonialer Theorien hat dazu geführt, dass westliche Linke auf politische Bewegungen im Globalen Süden, die sich an universellen Menschenrechten orientieren, zunehmend mit dem Vorwurf einer 'mentalen Kolonisierung' reagieren. Diese feindselige Haltung gegenüber feministischen Kämpfen im Iran hat vor allem mit der Tatsache zu tun, dass sich Teile progressiver Kreise seit Jahrzehnten weigern, emanzipatorische Kritik an den Zuständen im Iran zu formulieren."
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