9punkt - Die Debattenrundschau

Wo nur ein Funke reichte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2021. Ob das Impeachment-Verfahren fruchten wird, bleibt abzuwarten, bei Twitter hat sich Donald Trump jedenfalls schon in Luft aufgelöst. Inzwischen wird spekuliert: Trump könnte einen Putsch geplant  haben, um die Macht zu übernehmen, schreibt der Historiker Wolfram Siemann in der FAZ. Er könnte noch einen Krieg gegen den Iran anzetteln, fürchtet Daniel Ellsberg im Guardian. Bari Weiss beklagt in der Welt, das sich der liberale Konsens durch Attacken rechts, aber auch links aufgelöst hat. Die taz untersucht Reaktionen deutscher Rechtsextremer: Man ist enttäuscht über die mangelhafte Organisation des Mobs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.01.2021 finden Sie hier

Politik



Ob das zweite Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump fruchtet, bleibt abzuwarten (mehr in der New York Times). Bei Twitter ist Trump jedenfalls schon mal abgesetzt: "Permanent suspension of @realDonaldTrump", meldet das Unternehmensblog.

Nun beginnen die Spekulationen. Der Historiker Wolfram Siemann sammelt im faz.net Belege für seine Behauptung, dass Donald Trump am 6. Januar bewusst auf das Chaos des durch ihn angestachelten Mobs setzte. Ein Beleg ist für ihn der Brief der zehn Verteidigungsminister an Trump vor einigen Tagen, die vor einem Putsch warnten. Das Chaos sollte Trump die Möglichkeit geben, die Macht an sich zu reißen, so Siemann. "Das wäre die Stunde der Exekutive gewesen: Der Präsident erklärt das demokratische Handlungszentrum für handlungsunfähig und ruft den Notstand aus, um wieder 'Ruhe und Ordnung' herzustellen. Damit wäre er Herr der militärischen Exekutive geworden und der Kongress kaltgestellt, die Zertifizierung der Wahl zugleich wäre verhindert worden - genau der Fall also, den die zehn Verteidigungsminister kommen sahen."

In der taz beobachten Anina Ritscher und Eva Hoffmann, wie die rechtsextreme Szene in Deutschland auf die Washingtoner Ereignisse reagiert. Einige Protagonisten scheinen eher frustriert zu sein: "Jürgen Elsässer, Verleger des rechtsextremen Compact-Magazins, veröffentlichte Donnerstag früh seine Meinung zu den Ausschreitungen in den USA: Die 'Revolution' sei gescheitert, was insbesondere daran liege, dass die Protestierenden zu friedlich und zu wenig organisiert gewesen seien. Auch die Ausschreitungen in Berlin nennt Elsässer enttäuscht ein 'Stürmchen'. Der Chef der österreichischen Identitären Bewegung, Martin Sellner, fand die Aktion 'taktisch schlecht', wie er per Telegram mitteilt, 'zu chaotisch'. Er gibt gleich eine Anleitung, wie es stattdessen hätte gemacht werden sollen."

Auch der amerikanische Bürgerrechtler Bill Fletcher glaubt im Gespräch mit taz-Korrespondentin Dorothea Hahn, dass Trump einen Putsch geplant hatte und hätte gern Straßenschlachten gesehen. Aber das Problem der Linken scheint das gleiche wie das der Rechten zu sein: "Eines der Probleme der Linken in den USA ist, dass sie mangelhaft organisiert ist. Wir haben keine nennenswerte linke Partei. Unglücklicherweise haben viele Linke lange auch nicht die substanziellen Unterschiede zwischen neoliberalen Zentristen und rechten Populisten erkannt."

Der einstige Whistleblower Daniel Ellsberg warnt unterdessen im Guardian vor einem möglichen Militärschlag Donald Trumps gegen den Iran - er erinnert sich an seine Zeit in den Washingtoner Stäben, als Vorwände gesucht wurden, um Aktionen gegen Vietnam zu begründen: "Ich habe wenig Zweifel daran, dass eine solche Notfallplanung des Oval Office jetzt auch wieder existiert, in Tresoren und Computern im Pentagon, der CIA und dem Weißen Haus, um, wenn nötig, einen Vorwand für einen Angriff auf den Iran zu finden, während diese Regierung noch im Amt ist."

Die New Yorker Kolumnistin Bari Weiss erinnert in der Welt daran, dass es in diesem Jahr auch von links - im Zeichen von "Black Lives Matter" - extrem gewalttätige Demonstrationen gegeben hat. "Dies ist kein Whataboutismus", schreibt sie: "Es ist der entscheidende Kontext für die unentschuldbaren Ereignisse vom Mittwoch. Die Normen waren bereits gebrochen. Wir lebten bereits in Unwirklichkeit." Die Idee, dass das Individuum über der Gruppe steht, so Weiss weiter, ist in diesem Jahr verabschiedet worden: "Dieser liberale Konsens stirbt aufgrund der Ideologen von links und rechts, die die andere Seite mehr hassen als sie das eigene Land lieben, die ihre eigene Macht mehr verehren als das Gemeinwohl, unsere gemeinsame Geschichte und unsere gemeinsame Identität als Amerikaner."

Auch Thomas Chatterton Williams, Autor von "Self-Portrait in Black and White" (die deutsche Ausgabe kommt) und Kritiker linker Identitätspolitik, erinnert im Gespräch mit Mladen Gladic in der Welt an den "Sommer offensichtlicher Gesetzlosigkeit, mit Massenunruhen, Plünderungen, heuchlerischen Medienberichten, die das von links kommende Chaos zu entschuldigen oder herunterzuspielen schienen - es kam ja sogar zur Besetzung von Regierungsgebäuden durch Leute, die behaupteten, Polizeigewalt zu bekämpfen -, kann man sehen, dass das Land ein Pulverfass geworden war, wo nur ein Funke reichte." Williams ist überzeugt, dass sich Trump durch den 6. Januar endgültig ins Abseits manövriert hat.

FAZ-Korrepondet Majid Sattar, der als einziger deutscher Journalist während der Ereignisse im Senat war, berichtet unterdessen, wie bei Trump zumindest kurzfristig das Realitätsprinzip siegte: "Im Weißen Haus wurde er bedrängt, sich an die Öffentlichkeit zu wenden und endlich die Gewalttäter eindeutig zu verurteilen. Der Präsident aber weigerte sich. Erst als seine Mitarbeiter darauf verwiesen, dass ihm nicht nur eine Amtsenthebung durch den Kongress drohe, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen, soll Trump eingelenkt haben."

Außerdem: Wolf Lepenies fühlt sich in der Welt durch die Washingtoner Ereignisse an Flauberts "Education Sentimentale" erinnert, wo die Erstürmung des Tuilerien-Palastes im Jahr 1848 beschrieben wird: "Verblüfft liest der CNN-Zuschauer Flaubert..." Außerdem empfiehlt Lepenies noch mal Richard Rortys Kritik an der amerikanischen Linken aus dem Jahr 1997 zu lesen. Und was man im Moment kaum mehr wahrnimmt, ist die Coronakrise in Amerika: 4.000 Tote an einem Tag hat es dort gegeben, berichtet Libération.
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Gesellschaft

"Wie konnte es passieren, dass ein Buch geradezu klammheimlich vom Markt genommen wurde", fragt Jan Drees, Literaturredakteur des Deutschlandfunks. Kurz vor Weihnachten hatten sich die Verlage Hanser und dtv von Robert Greenes Buch "24 Gesetze der Verführung" distanziert und dies in einer kurzen Erklärung begründet (unser Resümee). Sie reagierten auf Druck feministischer Blogs, die sich diesen Ratgeber aus irgendwelchen Gründen vorgeknöpft hatten. Es ist ein Buch über Verführungsstrategien. Wer es vom Markt nimmt, sollte gleich auch die Werke verbieten, auf die es sich bezieht, meint Drees: "den 'Tristan' des Gottfried von Straßburg, Flauberts 'Madame Bovary', Stendhals 'Über die Liebe' - sie alle erzählen von verführerischen Mächten, und können zu psychischer Gewalt motivieren. Auf dem Klappentext des Buchs ist die Dialektik augenfällig durch diesen Hinweis: 'Ein Muss für alle, die Einfluss gewinnen oder sich vor falschen Verführern schützen wollen.'"
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Geschichte

In der NZZ fragt sich der Historiker Peter Graf Kielmansegg, ob es eine Alternative zur deutschen Reichsgründung von 1871 gegeben hätte. Sein Antwort ist - jein. "Die Sympathien für einen lockeren mitteleuropäischen Staatenbund, der stark genug sei, sich zu verteidigen, aber nicht stark genug anzugreifen, wie sie von Zeitgenossen, vor allem aber auch späteren Beobachtern immer wieder geäußert worden sind, übersehen gern, dass das Alte Reich eben nicht stark genug war, sich gegen mächtige Nachbarn zu verteidigen. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu Napoleon war Deutschland ein Raum gewesen, in den Nachbarmächte ziemlich beliebig einmarschieren konnten und einmarschiert sind. ... Wenn es eine Alternative zur Reichsgründung von 1871 gab, dann lag sie nicht in einer ganz anderen Antwort auf die offene deutsche Frage. Sie hätte in einem anderen Weg zum Ziel gelegen: in einer Nationalstaatsgründung ohne Krieg gegen Frankreich und ohne Annexionen, langsamer, behutsamer, schonender also."

Außerdem in der NZZ zur Reichsgründung: Clemens Klünemann erklärt die Symbolkraft des Spiegelsaals von Versailles, in dem das deutsche Kaiserreich proklamiert wurde.
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