9punkt - Die Debattenrundschau

Die künstliche Intelligenz hasst uns nicht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2017.  In Atlantic erinnert Ta-Nehisi Coates die HBO-Macher daran, dass der schwarze Süden im Bürgerkrieg durchaus gewonnen hat. Die NYRB Daily weiß, warum die Ruander jetzt Schuhe auf dem Kopf tragen. Die taz ahnt: Gesichtserkennung bedeutet eigentlich Gesichtsverlust. Andres Veiel lernt die Kuh zu verwetten, die man nicht mehr melken will. Die Welt sucht Intelligenz, die NZZ Leben im All.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.08.2017 finden Sie hier

Geschichte

Niemand hat so viel getan, die Wahrheit über den amerikanischen Süden und den Bürgerkrieg zu verschleiern wie die Filmindustrie, meint Ta-Nehisi Coates im Atlantic. Nichts Gutes erwartet er daher auch von HBOs geplantem Projekt "Confederate", das kontrafaktisch fragt, was wäre, wenn der Süden gewonnen hätte: "Skepsis ist höchstes Gebot. Wenn Serien-Schöpfer David Benioff fragt, wie sähe die Welt aus, wenn der Süden gewonnen hatte, müssen wir eigentlich sofort fragen, was Benioff eigentlich mit Süden meint. Er meint offensichtlich nicht die Minderheit weißer Unionisten, die tatsächlich gewonnen haben. Und er meint auch nicht die vier Millionen versklaften Schwarzen, die der Bürgerkrieg befreite, auch wenn diese Befreiung keine reine war. Sie machten vierzig Prozent der Bevölkerung in der Könfoderation aus, waren die unverzichtbare Arbeiterklasse, die Hauptquelle des Wohlstands, und der einzige Grund für seine Existenz überhaupt. Aber sie sind nicht der Gegenstand von benioffs Untersuchung, denn er fragt nicht nach dem Sieg des Südens, sondern nach dem Sieg des weißen Südens."
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Politik

Wie die gestrigen Präsidentschaftswahlen in Ruanda ausgehen werden, stand für Anjan Sundaram im NYRB-Blog natürlich auch gestern schon fest - angesichts der super-effizienten Demokratur, die Präsident Paul Kagame errichtet hat: "Kagame erreicht lückenlose Kontrolle über das alltägliche Leben in Ruanda durch ein striktes Überwachungsnetzwerk. Ruanda ist unterteilt in kleine Dörfer mit jeweils rund hundertfünfzig Familien. Jedes Dorf hat ein Oberhaupt und einen Informanten. Anordnungen der Regierung werden nahtlos in die Döfer weitergereicht... Kagame Kontrolle ist selbst bei scheinbar wohlmeinenden Ereignissen spürbar. Als er das Verbot von Plastiktüten verkündete, verschwanden diese aus Ruanda mit einem Schlag. Als er dekretierte, dass alle Ruander Schuhe tragen sollte, kauften sich alle Ruander Schuhe. Einige trugen sie auf ihrem Kopf, um sie nicht aufzutragen, aber immer vorweisen zu können.

Intensiv setzt sich Thomas Schmid in seinem Blog nochmal mit Rolf Peter Sieferle auseinander, allerdings nicht mit seinen nachgelassenen und höchst umstrittenen Notizen zu "Finis Germania", sondern mit dem Buch "Das Migrationsproblem", das laut Schmid eine scharfsinnige Kritik an Merkels "Wir schaffen das" aus der Episode von 2015 enthält: Eine dauerhaft offene Sozialpolitik würde Deutschland laut Sieferle nicht nur"amorph" machen, sondern den auch weithin geschätzten Sozialstaat überdehnen: "Dieser folge dem 'Prinzip der Genossenschaft, er ist also ein Club mit definierter Mitgliedschaft'. Und seine Fülle macht ihn attraktiv für Nicht-Mitglieder, die auf dem Trittbrett mitfahren wollen. Das aber würde den Sozialstaat sprengen: 'No borders, no welfare.'" Am Ende bleibt auch Schmid nur ein vernichtendes Fazit: " Sieferle hat sich mit seinem analytischen Werkzeug .. einen elitären, man kann sagen: einen Herrenmenschen-Konservatismus zusammengezimmert."
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Überwachung

In der taz wird Svenja Bergt beim Gedanken an die um sich greifende Gesichtserkennung ganz anders: "Das Fatale: Das eigene Gesicht lässt sich nicht mehr zurückholen. Altern, Bart oder Sonnenbrille helfen höchstens bedingt. Und Unternehmen wie Facebook und Google sind nicht gerade dafür bekannt, einmal gespeicherte Daten wieder zu löschen. Auch staatliche Stellen nehmen es mit den Löschfristen mitunter nicht so genau. In den USA beispielsweise sind einer Erhebung der Georgetown University zufolge die Gesichter von mehr als der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung erfasst - und da ging es nur um staatliche Datenbanken."
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Europa

Im Interview mit der Berliner Zeitung erzählt Dokumentarregisseur Andres Veiel von seinen Gesprächen mit Bankern, die einer stets drohenden Wiederkehr der Finanzkrise recht kaltblütig ins Auge blicken: "Ich hatte 2002 ein Gespräch mit einem hochrangigen deutschen Banker, der ebenfalls auf die Liquiditätsblase hinwies. Auf meine Frage, welche Konsequenz er daraus ziehe, sagte er: Erstens melken wir die Kuh, solange sie Milch gibt. Zweitens: Bevor sie stirbt, müssen wir rechtzeitig auf den Tod der Kuh wetten. Das ist die Logik - so viel Geld verdienen wie möglich. Und wenn in der Krise überschüssiges Kapital vernichtet wird, dann darf es halt nicht das eigene sein."

Paul Ingendaay findet in der FAZ-Reihe "Wir in Europa" die permanente Diskussion dem Gedanken der EU eigentlich recht dienlich: "Reden wir weiter, auch laut. Geraten wir in Streit! Selten gab es einen würdigeren Gegenstand." 
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Medien

Boas Ruh bringt in der NZZ Hintergründe zum Fact-Checking in Frankreich und Großbritannien.
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Stichwörter: Fact Checking

Ideen

Der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn denkt in einem fantastischen Essay in der NZZ darüber nach, was uns eigentlich antreibt, nach Leben im Weltall zu suchen: Terrazentrismus? Kohlenstoffchauvinismus? Oder die Sehnsucht des Menschen nach Versöhnung mit sich selbst: "Sosehr sich auch im Laufe der Zeit die Kulissen verändern, vor denen die Außerirdischen agieren, so unverkennbar Evolutionstheorie, Spektralanalyse und Relativitätstheorie unsere Wahrnehmung des Universums verändert haben: Immer noch, bis zum heutigen Tag, zahlt es die Kulturschulden der Erdbewohner. Irgendwo im All sind die Antworten auf die Frage gespeichert, was wir eigentlich zu sein begonnen haben, als wir den Weltraum entdeckten. Die Suche nach der zweiten Erde, ganz gleich, auf welchem technologischen Niveau, entziffert sich vor diesem Hintergrund als das Projekt einer Versöhnung des neuzeitlichen Menschen mit sich selbst."

In der Welt macht uns Jan Küveler mit der Spezies der Transhumanisten vertraut, die zumindest äußerlich intelligentem Leben ähnlich sieht. Aber: "Ein Transhumanist entlarvt sich mit Sätzen wie: 'Derzeit kann der Mensch nur auf der Fleischansammlung seines Körpers betrieben werden.' Oder: 'Die künstliche Intelligenz hasst uns nicht, aber sie liebt uns auch nicht. Wir bestehen einfach aus Atomen, die sie für etwas anderes  gebrauchen kann.' Das klingt wenig sympathisch, hat aber einen entscheidenden  Vorteil: Es könnte sich als visionär erweisen. Dann wären die Transhumanisten happy."
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