Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2002. Nagib Mahfuz lobt die "großartigen Selbstmordattentäter" und vergleicht die Israelis mit den Nazis, meldet die FAZ. Die NZZ hat Gold unter den Fingernägeln. Die FR befasst sich mit dem Klassenkampf in Chile. Die SZ fragt: Handelt es sich bei den Terroranschlägen vom 11. September in New York um ein Ereignis oder um zwei?

FAZ, 13.05.2002

Der 90-jährige Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz hat einen Brief an den amerikanischen Präsidenten geschrieben, meldet Wolfgang Köhler. "Mahfuz' Schreiben gipfelt in einem Satz," schreibt er weiter, "aus dem die ganze Verbitterung der arabischen Welt über das israelische Vorgehen in den besetzten Gebieten spricht: 'Die Selbstmordattentäter haben eine sehr großartige Sache vollbracht'." Mahfuz vergleicht die Vorgänge im Flüchtlingslager Dschenin dann noch mit der Judenvernichtung, und Köhler betont: "Dabei ist der Schriftsteller alles andere als ein erklärter Feind Israels, im Gegenteil." Mehr zu Mahfuz' Brief hier und zu seinen letzten Büchern hier.

Auch Arundhati Roy ist mit dem Faschismusvergleich schnell bei der Hand. Martin Kämpchen berichtet über ihren Essay zu den Ausschreitungen gegen die Moslems in der Provinz Gujarat, der in Outlook India erschien: "Die deutliche Fußspur des Faschismus erscheint in Indien. Wir wollen uns das Datum merken: Frühling 2002." Wir haben kürzlich einen Link auf den Essay in unserer Magazinrundschau gegeben und verweisen auch noch mal auf Links zur lesenswerten Polemik von Ian Buruma über Roy und zu ihren neuen Büchern, die wir hier vor drei Wochen gesetzt haben.

Eine nicht gerade von Sympathie getragenen Kommentar schreibt Patrick Bahners zur zur Proklamation Guido Westerwelles zum Kanzlerkandidaten: "Wie hat sich Guido Westerwelle eigentlich qualifiziert für das Amt, das er seit gestern anstrebt? Von den sieben Kanzlern der Bundesrepublik waren vier Ministerpräsidenten gewesen, zwei hatten wichtige Bundesministerien geleitet. Sogar der erste Kanzler brachte Regierungserfahrung mit, als früherer Oberbürgermeister der ältesten deutschen Großstadt. Der letzte deutsche Kanzler, den nur das Charisma des Parteiführers empfahl, war Adolf Hitler." Steht Westerwelles Machtergreifung bevor?

Weiteres: Andreas Rosenfelder resümiert eine Peiner Tagung über den Begriff der Arbeit und Oskar Negts Buch "Arbeit und menschliche Würde". Jürgen Kaube schreibt zum Tod des amerikanischen Soziologen David Riesman. Stefanie Peter vergleicht die Archive und die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Deutschland und in Polen. Camilla Blechen schreibt zum Tod des deutsch-italienischen Malers und Schriftstellers Gabriele Mucchi. Wilfried Wiegand schreibt zum Tod des französischen Filmregisseurs Yves Robert.


Auf der Medienseite porträtiert Christian Schwägerl die Journalistin Gretchen Vogel, welche für das ehrwürdige Magazin Science als Deutschlandkorrespondentin wirkt. Und Gisa Funck erzählt, wie die Kandidaten für die Show "Quiz mit Jörg Pilawa" ausgewählt werden. Auf der letzten Seite teilt Bettina Erche mit, dass sich der Glanz des Herrenhauses Emkendorf der Reventlows (12 Meilen von Hamburg) dem Sklavenhandel verdankt. Hannelore Schlaffer schreibt ein kleines Profil des Literaturwissenschaftlers Volker Klotz, der den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhält. Und Markus Reiter erinnert an eine Welle der Schülergewalt gegen Lehrer am Ende des 19. Jahrhunderts.

Besprochen werden die Ausstellung "Iconoclash" (mehr hier) in Karlsruhe, eine Ausstellung über Leipzigs erstes Hochhaus, den Kroch-Turm von 1938, in der Leipziger Universität, das Stück "Zeit der Plancks" des spanischen Dramatikers Sergi Belbel in Frankfurt und eine Ausstellung des Fotografen James Welling (Bilder) im Brüsseler Palais des beaux arts.

NZZ, 13.05.2002

Martin Tschanz beschreibt die offensichtlich sehr interessante Architektur der Pavillons auf der Schweizer "Expo 02". "Die architektonischen Mittel, die verwendet werden, sind vielfältig. Manche Pavillons sind - in der Terminologie von Robert Venturi - 'dekorierte Schuppen': Bilder oder Symbole an der Oberfläche verweisen auf den Inhalt. So ist zum Beispiel 'Geld und Wert' in einer großen Kiste untergebracht, die ganz mit Blattgold überzogen ist (Architektur: IAAG). Das ist trivial und doppelbödig zugleich. Wer es wagt, an der Oberfläche zu kratzen, wird das echte Gold als Schmutz unter den Fingernägeln nach Hause tragen." Glückliche Schweiz, in der selbst der Dreck unter den Fingernägeln golden schimmert!

Besprochen werden ferner die Ausstellung "Ökonomien der Zeit" im Museum Ludwig, die 24. Solothurner Literaturtage (mehr hier), Jessie Nelsons Film "I am Sam", der "Tod eines Handlungsreisenden" am Theater Basel, drei Ballett-Uraufführungen in Stuttgart und Karl Goldmarks Oper "Die Königin von Saba" in Mannheim.

TAZ, 13.05.2002

Adrienne Woltersdorf erzählt von einer Reise des Grafikers Wolfgang Tiemann nach Samarkand (mehr hier): "Kunst, Dialog und Papier, jedes ist für sich eine eher luftige Angelegenheit. Packt ein Künstler damit seine Koffer, kann die Sache aber gewichtig werden. Wolfgang Tiemann hat seine Sicht eines Kunstdialogs auf Papier gebracht und ist damit nach Usbekistan gereist. Im Gepäck 17 großformatige Aquatintaradierungen. Mit ihnen will Tiemann an die Begegnung der chinesischen und der arabischen Kultur entlang der Seidenstraße erinnern. Und damit an den Beginn des Papierzeitalters in Europa. Denn es war im Jahr 751 n. Chr., als nach einer Schlacht chinesische Kriegsgefangene mit ihrem Handwerk unfreiwillig zu Begründern des Papierzeitalters in der arabischen und der europäischen Welt wurden. Die in Samarkand geschlagenen Chinesen zeigten den arabischen Eroberern, wie man aus Pflanzenfasern ein dünnes, aber sehr beständiges Material gewinnt."

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller hat sich die Inszenierung "Die schöne Müllerin", mit der Christoph Marthaler zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, angesehen und mit Jury-Mitglied Franz Wille gesprochen, der meint, dass das Theater seine Stärken nicht erst zu entdecken brauche - "es hat sie". Elke Bruens bespricht eine Geschichte des Sammelns und Wegwerfens (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

Und schließlich Tom.

FR, 13.05.2002

Karin Ceballos Betancur schreibt über den Klassenkampf in Santiago de Chile: Dort gibt es das Wohnviertel Barnechea, "wo die Bewohner der Mittelstandssiedlung Monsenor Escriva de Balaguer des Zusammenlebens mit ihren Nachbarn aus der Unterschichtsiedlung San Antonio überdrüssig geworden sind. Die Rede ist von kleinkriminellen Übergriffen ungewisser Anzahl, auch von sittenwidrigem Verhalten jugendlicher, vermutlich arbeitsloser Liebespaare in einem Park, der die beiden Siedlungen voneinander trennt. Man wird verstehen, dass das unschön ist ... Um in ihrer Not Abhilfe zu schaffen, haben die Mittelständler von Monsenor Escriva de Balaguer deshalb beschlossen, eine Mauer zwischen sich und die Bewohner von San Antonio zu bauen, hoch genug, um ihren unschönen Anblick nicht mehr länger ertragen zu müssen."

Bespochen werden die Ausstellung des amerikanischen Künstlers Alex Katz in der Bonner Bundeskunsthalle, das neue Stück des katalanischen Autors Sergi Belbel "Die Zeit der Plancks", in Frankfurt von Anselm Weber inszeniert und politische Bücher, darunter eine Vereinsgeschichte von Borussia Dortmund in der NS-Zeit (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 13.05.2002

Rechtstheorie heute im Feuilleton: Handelt es sich bei den Terroranschlägen vom 11. September in New York um ein Ereignis oder um zwei? Keine müßige Frage, wie Ulrich Baer weiß, denn genau darum gehe es in der Klage der Schweizer Versicherungsgesellschaft Swiss Re gegen Larry Silverstein, den Pächter des World Trade Centers: "Entscheidet das Gericht, dass es sich um einen einzigen Schadensfall handelte, muss die Versicherung 3,6 Milliarden Dollar zahlen; in dieser Höhe war das World Trade Center pro Schadensfall versichert. Da die beiden Türme jedoch von zwei Flugzeugen angegriffen wurden und nicht gleichzeitig einstürzten, besteht Silverstein auf der zweifachen Summe von 7,2 Milliarden Dollar. Als Unterversicherer der Versicherungspolicen für das World Trade Center betrachtet die Swiss Re die Vorfälle des 11. September als einen Schadensfall, sie will deshalb auch nur 3,6 Milliarden zahlen."

Weitere Artikel: Zum Abschluss der Serie "Welche Schule wollen wir?" fordert der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig, sich erst einmal Gedanken darüber zu machen, was für eine Gesellschaft wir wollen, bevor wir darüber nachdenken, wie wir Kinder am besten auf sie vorbereiten kann. Eva Marz hat sich den Vortrag des Medienwissenschaftlers Bazon Brock angehört, der in der Münchner Reihe Iconic Turn für mehr Medienkompetenz plädierte ("Dass Bilder lügen, ist längst allgemein anerkannt."). Alexandra Senfft, Vorstandsmitglied des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, beklagt, dass die israelischen Medien unter dem Druck des Terrors ihre eigene Gleichschaltung betreiben. Detlef Horster schreibt einen Nachruf auf den Soziologen David Rieman ("Die einsame Masse"). Christine Kramer freut sich, dass das Hamburger Bürger-Projekt "Park Fiction" zur Documenta eingeladen wurde. Jens Bisky gerät über die Briefe Rudolf Borchardts ins Schwärmen, die in der neuen Ausgabe der Literaturzeitschrift Akzente abgedruckt werden. Veronika Schöne berichtet von einer Hamburger Tagung über Mode. Und auf der Medien-Seite widmet sich Ralf Klassen den angestrengten Internet-Kampagnen der Parteien im Wahlkampf.

Besprochen werden: der fünfte Star-Wars-Film "Angriff der Klon-Krieger", Jan Fosses Stück "Winter" in Bochum, Luigis Cherubinis Oper "Medea" an der Deutschen Oper Berlin, Robert Lepages Inszenierung "Apasionada" über Leben und Leiden der Frida Kahlo in Wien, Arthur Millers Mittelstandparabel "Tod eines Handlungsreisenden" in Basel, ein Brahms-Konzert von Osma Vänskä und den Münchner Philharmonikern, die Kompilation "raindrops, raindrops" der norwegischen Jazz-Sängerin Karin Krog und Bücher: zwei Bände zum 11. September, Hans Fenskes Handbuch "Deutsche Geschichte" und Hanna Johansens Ehe-Roman "Lena" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).