Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2002. In der taz warnt der Publizist Tariq Ali: Der Westen kann nicht gleichzeitig Diktaturen unterstützen und sich beklagen, dass sie keine Demokratien sind. Die NZZ informiert über russische Literatur im Internet. In der FR erklärt uns der Soziologe Helmut Dubiel die amerikanische Debattenkultur. Die FAZ erzählt, was der Mathematiker Stephen Wolfram mit Gleichungen anstellt. Die SZ sieht die Position des Likud-Blocks gegen einen Palästinenserstaat gelassen.

SZ, 14.05.2002

Richard Chaim Schneider interpretiert die Entscheidung des Likud gegen einen Palästinenserstaat als Auftakt im Wahlkampf der Kontrahenten Scharon und Netanyahu. "Die Welt ... kann gelassen bleiben. Denn was wird sich ... tatsächlich verändern? Auch Ariel Scharon akzeptiert keinen Palästinenserstaat, allerdings formuliert er dies etwas geschickter als seine Partei. Keine einzige Siedlung wird aufgegeben - das ist Scharons Dogma, womit ein Staat Palästina in jedem Fall definitiv undenkbar wird." Schneider wertet die Absage deshalb als "eine direkte Aufforderung an die Arbeiterpartei. Sollte diese die Zeichen der Zeit nicht lesen können, dann dürfte der Likud auf sehr lange Zeit regieren. Und dann wäre es letztlich egal, ob der nächste Premier Scharon oder Netanyahu heißen wird."

In der Reihe zur Modernität der Kirche konstatiert heute der katholische Theologe und Philosophieprofessor Jürger Werner den Verrat der Kirche an ihrem eigenen Geist. "Modernität ist keine Eigenschaft, kein Attribut, das die Kirche neben anderen wie Lebendigkeit, Offenheit oder Streitbarkeit folgenlos tragen könnte. Modernität ist vielmehr ein Legitimationstitel ... Der Wille zur Modernität der Kirche wird also zu Recht verstanden als eine Reaktion auf den Zweifel an deren Notwendigkeit in der Moderne. Und Notwendigkeit meint unter modernen Voraussetzungen immer Nützlichkeit." Mit ihrem Auftrag an die McKinsey-Berater habe sich die Kirche einen Bärendienst erwiesen. "Früher hieß das Fassungslose 'Geist', heute ist es ein Skandal für jede Controller-Mentalität. Als Expertin des Fassungslosen aber hat die Kirche mehr verdient als Ratschläge dieser Art."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp schwärmt regelrecht von der neu gebauten Münchner "Pinakothek der Moderne", die derzeit bestückt wird. Jürgen Klaus erklärt uns am Beispiel Berlin, weshalb die Architekten immer noch am solaren Zeitalter scheitern. Jürgen Berger informiert über die Erfolge beim Heidelberger Stückemarkt. Reinhard J. Brombeck schildert die offenbar "endgültige Krise", derentwegen Luciano Pavarotti jetzt ans Aufhören denkt. Reinhard Schulz stellt das Programm der nächsten Münchner Biennale 2004 vor. Cd. berichtet, dass Helge Schneider für die nächsten Mülheimer Theatertage ein Stück schreiben wird. Zwei Tagungsberichte resümieren die Solothurner Literaturtage (hier) und ein Symposion zur Historischen Anthropologie in Göttingen (hier). In Benjamin Henrichs Theaterwahn-Tagebuch geht es heute um Zahnweh, und in Kurzkommentaren um die "Massenhypnose" im Nahen Osten, um George Lucas' von Hollywood durchkreuzten Plänen für seine Star-Wars-Geschichte und um einen Formel-1-Nachklapp zu Ferrari.

Besprochen werden ein "brillant verstörender" "Rosenkavalier" an der Hamburger Oper (mehr hier), die Uraufführung von Helmut Oehrings Oper "BlauWaldDorf" in Aachen (mehr hier), ein Münchner Ballettabend von Philip Taylor und Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" am Berliner Ensemble (mehr hier). Vorgestellt wird außerdem eine Ausstellung über Zürich als Stadt des Exils für deutschsprachige Schriftsteller in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main. Und Steve Reichs Musiktheater "Three Tales" bei den Wiener Festwochen.

Heute ist Tag der ernsten Musik, deshalb lesen wir noch CD-Empfehlungen: darunter historische Aufnahmen des wiederentdeckten französischen Tenors Raoul Jobin, Anton Schweitzers fünfaktiges Singspiel "Alceste", sämtliche Haydn-Sinfonien in der Einspielung von Adam Fischer, ein Werk von Wolfgang Rihm sowie eine Aufnahme mit Rene Jacobs und der Akademie für Alte Musik Berlin im Verbund mit der Mezzosopranistin Vivica Genaux; ergänzt wird die Auswahl durch die "2.Vierteljahresliste der deutschen Schallplattenkritik".

Besprochen werden weiter Bücher, darunter eine Studie zur biologisch-physiologischen Ganzheitslehre (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr); in den höchsten Tönen gelobt werden außerdem "Shakespeares Sonette in makellosem Vortrag".

TAZ, 14.05.2002

Im einem Interview spricht der Publizist Tariq Ali, Autor des Buchs "Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung", über die aktuelle Krise von Säkularismus und Demokratie in der arabischen Welt. Er glaubt: "Die Regime in Saudi-Arabien und Ägypten würden nicht existieren, wenn der Westen sie nicht unterstützen würde. Der Westen kann nicht beides haben: diese Diktaturen unterstützen und sich dann beklagen, dass es nicht genug Selbstkritik gibt. Gleichzeitig sieht Ali "die wirkliche Kluft in der arabischen Welt nicht zwischen den Religionen, sondern zwischen den Klassen" - der armen Mehrheit der Bevölkerung stehen "die reichen Eliten" gegenüber, die "ins Ausland reisen und die beste Ausbildung genießen." Die größte Entfremdung zwischen Ost und West habe die Globalisierung bewirkt, die"größere soziale Ungleichheiten produziert (habe), als sie die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts hindurch bestanden haben. Wenn ich dann Politiker wie Blair im Fernsehen reden höre, der wie ein grinsender Discjockey über die Wunder des Internets schwadroniert, frage ich mich: In welcher Welt lebt er eigentlich? ... Diese Leute leben in einer Traumwelt. Sie sind ihrer eigenen Rhetorik verfallen und glauben, dass die Globalisierung nach unten durchsickert und die ganze Welt reicher wird. Das ist leider überhaupt nicht so."

Im Aufmachertext bespricht Harald Fricke die Retrospektive des US-amerikanischen Malers Alex Katz in der Bundeskunsthalle Bonn (mehr hier), und Morten Kansteiner hat sich Matthias Hartmanns Inszenierung von Jon Fosses Stück "Winter" in Bochum (mehr hier) angesehen. Ansonsten gibt es Buchbesprechungen: ein wieder zu entdeckender Roman um einen Mitläufer von Rudolf Lorenzen, Taschenbücher für Kinogeher, ein Bericht aus "Bosnien nach dem Krieg" und der Augenzeugenbericht eines österreichischen Geschäftsmanns am Zerfall Jugoslawiens (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 14.05.2002

Helmut Dubiel, derzeit Inhaber der Max-Weber-Professur in New York, beschäftigt sich anlässlich der Kriegsdebatte in den USA mit der US-amerikanischen Debattenkultur. Wer sie verstehen wolle, müsse sich die Campus-Realität vor Augen führen. "Die Universitäten, zumal die Eliteuniversitäten, gleichen Zierfischaquarien, auf die die Öffentlichkeit nur schaut, wenn es Unruhe gibt." So etwa "wenn ein ungeschickt agierender Universitätspräsident in Harvard alte Wunden der rassistischen Vergangenheit wieder aufreißt oder der Präsident der New School of Social Research zum Bekenntnis genötigt wird, ein Kriegsverbrecher in Vietnam gewesen zu sein." Das Fehlen einer publizistischen Bühne und ihre Gesellschaftsferne kompensiere die akademische Intelligenz "durch radikale interne Poalrisierung": "Da erregt der Versuch, einer Kafka-Novelle Ethnozentrismus nachzuweisen, mehr Aufregung als der Kollaps der Ökonomie in Argentinien. Da sie nie für etwas außerhalb des Aquariums Verantwortung übernehmen müssen, sind die politischen Instinkte unterentwickelt. An deren Stelle ist ihnen ein gesinnungsethisches Organ gewachsen, das in der realen Politik nur Lüge, Betrug und blanke Logik der Macht erkennen kann."

Des weiteren stellt Hartmut Pogge von Strandmann eine neue Studie von zwei Dubliner Historikern über deutsche Gräueltaten an Zivilisten in Belgien und Nordfrankreich zu Beginn des Ersten Weltkriegs vor. Eva Schweitzer berichtet aus New York vom ersten Tribeca Film Festival, das Robert de Niro und Martin Scorsese initiierten. Fritz von Klinggräff erklärt, wie und warum das Kunstfest Weimar (mehr hier) endlich klassischer werden soll. Dirk Naguschewski hält einen Rückblick auf die internationale Konferenz zu den afrikanischen Literaturen in Berlin. Natascha Freundel liefert eine Zusammenfassung der Standpunkte auf einer Tagung in Loccum, auf der es interdisziplinär um Religion, Säkularisierung und Wertegeneralisierung ging. In der Kolumne Times mager wird die Solidaritätsbekundung des ägyptischen Literatur-Nobelpreisträgers Nagib Machfus an George W. Bush kommentiert: als "Wiedergängertum einer längst vergangen geglaubten politisch-poetischen Verwirrung". Und schließlich lesen wir noch einen Nachruf auf den amerikanischen Soziologen David Riesman.

Besprechungen gibt es zu Peter Konwitschnys "Rosenkavalier"-Version in Hamburg, Jon Fosses Stück "Winter" in Bochum, der Minimal-Music-Oper "Three Tales" von Steve Reich bei den Wiener Festwochen (mehr hier) und zu einer Huldigung des kanadischen Theatermanns Robert Lepage an Frida Kahlo, ebenfalls in Wien. Vorgestellt werden eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin (mehr hier) über Hexenwahn und Ängste der Neuzeit und die Ausstellung "Stories" im Münchner Haus der Kunst (mehr hier), die unter anderem mit Arbeiten von Tracy Emin eine neue "Konjunktur des Erzählens verheißt".

NZZ, 14.05.2002

Ulrich M. Schmid liefert einen sehr schönen informativen Text über "Seteratura" russische Literatur im Internet. "Die entscheidende Aufbauarbeit wurde von wenigen Pionieren geleistet, die als Netz-Aktivisten wertvolle Ressourcen zugänglich machten: Der Programmierer Maxim Moschkow begann mit einer Sammlung elektronischer Texte, die heute 28 000 Dokumente umfasst und von Klassikern über Science-Fiction bis zur Gegenwartsliteratur reicht; der Tartuer Literaturwissenschafter Roman Leibow startete ein vielbeachtetes kollektives Romanprojekt; der Computerfachmann Leonid Delizyn organisierte von den USA aus einen Literaturwettbewerb, welcher bis heute in Schriftstellerkreisen hohes Ansehen geniesst; der Moskauer Dichter und Literaturwissenschafter Dmitri Kusmin verlagerte seine Suche nach jungen literarischen Talenten, die er seit 1988 in der Gruppe 'Babylon' vereinigt hatte, auf den Server Vavilon." Kaum ein Autor beklagt sich über die Verletzung von Urheberrechten, da der Werbeeffekt immens ist, der Ausdruck aber in der Regel teurer als der Buchkauf, schreibt Schmid. Allerdings sind russische Internetprovider zur Installation einer Überwachungssoftware verpflichtet. Bisher seien zwar noch "keine direkten Übergriffe des Staates auf User bekannt geworden. Man darf aber davon ausgehen, dass der Geheimdienst FSB mittlerweile über eine ausgedehnte Datensammlung verfügt, die als kompromittierendes Material - im offiziösen Jargon: 'Kompromat' - bei der Disziplinierung vorlauter Bürger wirksame Dienste leisten wird."

Weitere Artikel: Paul Jandl erklärt den neuesten Schlager österreichischer Auslandskulturpolitik: Kulturforen statt Kulturinstitute. Im Klartext heißt das, die Kulturinstitute werden so kurz gehalten, dass sie ihre eigenen Gebäude nicht mehr unterhalten können und an die örtlichen Botschaften angegliedert werden. "Auf Weltoffenheit folgt die Domestizierung", meint Jandl dazu. Klaus Witzeling porträtiert das Hamburger Schauspielhaus unter Tom Stromberg. Gemeldet wird schließlich, dass der Soziologe David Riesmann und der Musiker Rudy Calzado (Buena Vista Social Club) gestorben sind.

Besprochen werden Peter Konwitschnys "Rosenkavalier"-Inszenierung in Hamburg, zwei Architektur-Ausstellungen in Frankfurt am Main: die Ingo-Maurer-Werkschau im MAK und "Schattensucher" im Deutschen Architekturmuseum, wo fünfzig Architekten und Künstler ihre Arbeiten zu Licht und Schatten präsentieren, Schumanns "Szenen aus Goethes Faust" im Luzerner Theater und Bücher, darunter zwei neue Veröffentlichungen zu Knut Hamsum und Halldor Laxness (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.05.2002

Ein ziemlich faszinierender Mathematiker, Stephen Wolfram, hat ein offensichtlich heiß erwartetes Buch geschrieben: "A New Kind of Science". Alle warten auf den Ablauf der Sperrfrist für die Rezensionen (unter anderem von Ray Kurzweil). Dietmar Dath erklärt unterdes, was Wolfram vorhat: "Wolframs Buch .. stellt den Stammbaum der errechneten Welt von den Gleichungen im Mutterboden bis zu den Verästelungen der Programme auf den Kopf - oder eben auf die Füße: Gleichungen, sagt er, entsprechen bestimmten Sorten von Regeln, nach denen sich Systeme entwickeln können, Programme anderen, sehr viel allgemeineren." Verstehe.

Der niederländische Soziologe Paul Scheffer, der der Idee einer multikulturellen Gesellschaft kritisch gegenübersteht, zieht Lehren aus dem Tod des Populisten Pim Fortuyn: "Dass die Toleranz innerhalb der Gesellschaft in Gefahr ist, hängt auch mit der mangelnden Rechtsausübung zusammen. Es ist ein Fehler zu glauben, dass Langmut gegenüber Straftätern zu einer spannungsfreieren Gesellschaft beigetragen hat. Es stimmt nicht, dass die Duldungspolitik der Freiheit in den Niederlanden in jeder Hinsicht förderlich war. Wir sind an eine Grenze gestoßen, die es notwendig macht, der Verteidigung des Rechtsstaates mehr Nachdruck zu verleihen. Menschen, die sich unsicher fühlen, sind nämlich nicht friedfertig und stehen ihrer Umgebung nicht offen gegenüber."

Weitere Artikel: In einer Meldung erfahren wir, dass der israelische Autor Amos Oz Nagib Mahfuz' Vergleich Israels mit den Nazis (siehe Presseschau von gestern und hier) nicht für authentisch hält. Christian Geyer annonciert eine Bundestagsdebatte am Freitag, in der ein Gesetzentwurf zur Ermöglichung anonymer Geburten diskutiert werden soll. Dieter Bartetzko möchte, dass zumindest die der Spree zugewandte Seite des wiederaufzubauenden Stadtschlosses in Berlin eine moderne Fassade zeigt. Ilona Lehnart resümiert eine Berliner Debatte über die Zukunft des Kulturföderalismus.

Auf der Medienseite schimpft Jörg Thomann auf Sandra Maischberger, in deren ntv-Interview sich die norwegische Prinzessin Mette-Margit einen Sonnenbrand holte: "Dass sie, die ihre Gäste stets forschend beobachtet, als lauere sie auf verräterische Regungen der Gesichtszüge, eine volle Stunde lang nicht bemerkt hat, wie Mette-Marit und Haakon vor sich hinbrutzelten, zeugt nicht gerade von hoher Aufmerksamkeit." Die ntv-Homepage bringt zum Vorfall auch noch eine "geschmacklose" Bildergeschichte! Ferner meldet Sandra Kegel, dass Guido Westerwelle nicht zu den Fernsehduellen von Stoiber und Schröder eingeladen wird. Auf der Bücher-und-Themen-Seite setzt sich der Medienhistoriker Claus Pias mit Computerspielen auseinander ("Computerspiele lehren weder das Töten noch das Lieben, sondern den Umgang mit Joysticks und Tastaturen, Mäusen und Interfaces.") Auf der letzten Seite porträtiert Christoph Albrecht den Informatiker Herrmann Maurer, der zu Parapsychologie und (in seinem Roman "Der Telekinet") zu Pornografie zu neigen scheint. Jordan Mejias erzählt, wie Luciano Pavarotti durch eine Absage nicht nur die Met, sondern ganz New York düpierte - dafür feierte man seinen Ersatzmann Salvatore Licitra (wie auch die NY Times meldet) um so frenetischer.

Bersprochen werden Peter Konwitschnys "Rosenkavalier"-Inszenierung in Hamburg, Jon Fosses Stück "Winter" im Schauspiel Bochum, eine Retrospektive des New Yorker Malers Alex Katz in der Bundeskunsthalle, Jessie Nelsons Film "Ich bin Sam" mit Sean Penn und Arthur Millers "Handlungsreisender" in Basel.