Efeu - Die Kulturrundschau

Gute alte List der Vernunft

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02.02.2022. Die SZ sieht im Theater Zwickau drei Ikonen des Fortschritts leuchten, auch wenn sie selbst dabei zugrunde gehen. Außerdem setzt sie auf grüne Brückenbauer. Die NMZ drängt auf eine fortdauernde Evakuierung afghanischer Musiker. Die NZZ stemmt sich gegen die sechste Corona-Welle, die vielleicht bald in der Literatur grassieren könnte. Demm RBB graut vor der Berlinale in Präsenz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2022 finden Sie hier

Bühne

Yael Fischer in "Marie, Romy, Petra". Foto: Ida Zenna / Theater Zwickau

Überaus klug und "ästhetisch wohlgeformt" findet Dorion Weickmann in der SZ Annett Göhres choreografische Hommage "Marie! Romy! Petra!", mit der sie an die großen, wendungsreichen und tragischen Leben von Marie Curie, Romy Schneider und Petra Kelly am Theater Zwickau erinnert: "Die Friedens- und Menschenrechtsaktivistin Petra Kelly war die Greta Thunberg der 1980er-Jahre: ein anstrengendes Vorbild, dauerfurios und von missionarischem Eifer beseelt. Kelly verkörperte den Gegenentwurf zur grünen Toskana-Fraktion eines Joschka Fischer. Wer sich erinnert, wie ihre Augenringe Jahr um Jahr tiefer und die Momente ihrer Isolation größer wurden, der schaut gebannt auf Annett Göhres Kelly-Porträt. Wie überhaupt auf dieses weibliche Dreigestirn, in dem selbst die zeitlich weit entrückte Marie Curie leuchtet. Die Forscherin, die der Radioaktivität den Namen gab und sich von ihr zerfressen ließ. Getreu der Maxime: Fortschritt verlangt eben Opfer."

Besprochen werden Rafaële Giovanolas Tanzstück "Sphynx" am Mainzer Staatstheater (FR), Kornél Mundruczós "MiniMe" an der Berliner Volksbühne (taz), Matthew Lopez' Gesellschaftsepos "Das Vermächtnis" (FAZ) und Rued Langgaards radikalreligiöses Stück "Antikrist" an der Deutschen Oper Berlin (das Jan Brachmann in der FAZ absolut faszinierend findet, auch oder gerade in der Regie von Ersan Mondtag, im Tsp fragt sich Udo Badelt allerdings, wofür Mondtag letzten Endes all die "visuelle Opulenz" auffährt).
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Literatur

Rainer Moritz von der NZZ hört sich bei Verlagen und Schriftstellern um, ob und wie denn Corona künftig ein Thema in der Literatur sein werde. Sein nach viel Vorabgrusel erleichtertes Fazit: Mit einer sechsten, diesmal aber literarischen Welle ist fürs Erste nicht zu rechnen. "Wahrscheinlicher ist es, dass sich die Auswirkungen der Pandemie auf versteckte Weise zeigen werden", wie etwa in der Darstellung gesellschaftlicher Schieflagen. Und "noch wahrscheinlicher ist, dass es eine Zeitlang dauern wird, bis aus der gegenwärtigen Hektik eine Literatur entsteht, die eine Vorstellung davon zu entwickeln vermag, was in den letzten beiden Jahren über die Welt gekommen ist. Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt es: Mitunter müssen Jahrzehnte vergehen, bis epochale historische Ereignisse literaturfähig werden."

Dass Art Spiegelmans Holocaustcomic "Maus" vom Schullehrplan in Tennessee genommen wurde, schlägt weiterhin Wellen. Moniert haben die Jugendschützer Schimpfworte, Nacktheit und die Darstellung eines Selbstmords. "Einem vernünftigen Menschen könnte man die Argumentation zumuten, dass beim Holocaust leider nicht allzeit auf höfliche Umgangsformen Rücksicht genommen wurde", kommentiert Dirk Schümer in der Welt. "Dass die Opfer in den Gaskammern ihrer grauenvollen Ermordung allesamt ohne Kleider entgegen gingen. Und dass Selbstmorde aufgrund des Erlebten gerade bei Überlebenden der Shoah ein fürchterliches, doch leider nur zu reales Syndrom darstellen." Immerhin, tröstet sich Jens-Christian Rabe in der SZ: "In der Rangliste der bei Amazon meistverkauften Bücher stand 'Maus' umgehend weit oben. ... Gute alte List der Vernunft."

Außerdem: Der Schriftsteller Colm Tóibín (SZ) und Derek Scally (FAZ) schreiben über James Joyce' "Ulysses", der heute vor hundert Jahren erschienen ist - und der Suhrkamp Verlag macht aus dem Anlass ein originelles Angebot: Man kann den "Ulysses" als E-Mail-Newsletter abonnieren.  Frank Heibert bietet auf Tell einen Einblick in seine Übersetzerwerkstatt  - aktuell hat er, gemeinsam mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Rezas "Serge" übersetzt, wobei ihm das französische Verb "opacifier" eine ziemliche Kniffelarbeit bescherte.  In der neuen Ausgabe CrimeMag (hier das Editorial mit allen Beiträge) ruft Thomas Wörtche den schwarzen Krimiautor Chester Himes in Erinnerung, den er bei der hiesigen Rezeption von James McBrides "Der heilige King Kong" und Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" schmerzhaft unberücksichtigt fand (unsere Krimi-Expertin Thekla Dannenberg schrieb 2020 über Himes). Bodo von Hechelhammer wirft für das CrimeMag einen Blick auf die Geschichte des französischen Agenten OSS 117 in Literatur und Film. Schade findet es Sophia Fritz in der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline, dass Jugendliche in der Literatur fast immer als Problem oder als Witz dargestellt werden. Gunnar Decker erinnert im Freitag an den Schriftsteller Franz Fühmann, der vor hundert Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem die Neuausgabe von Alba de Céspedes' "Das verbotene Notizbuch" (SZ), Fredric Jamesons Essay "Raymond Chandler. Ermittlungen der Totalität" (CrimeMag), Werner Herzogs "Das Dämmern der Welt" (CrimeMag), Liao Yiwus "Wuhan" (Standard), Oleg Senzows "Haft. Notizen und Geschichten" (taz), Lara Swionteks Comicadaption von Mary Shelleys Erzählung "Verwandlung" (Tsp) und Jaan Kross' "Gegenwindschiff" (FAZ).
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Architektur

Eine grüne Brücke für Dpüsseldorf. Rendering: RKW Architektur+

Wie stets ein wenig überschäumend feiert Gerd Matzig die Initiative des Büros RKW Architektur+, anstatt die marode Theodor-Heuss-Brücke über den Rhein bei Düsseldorf zu sanieren, sie gleich ganz durch eine grüne Brücke zu ersetzen. Die Autos würden ihrem Entwurf zufolge in einer Rohre verschwinden, im Freien täten sich Wege für Radfahrer und Fußgänger auf: "Diese Wege erschließen ein begrüntes Band, das als Landschaftsraum zwischen den Rheinufern vermittelt. Laut RKW sind 'Urban Gardening' oder 'Farming-Projekte' denkbar. Das grüne Vollwaschprogramm ist üppig. Zudem sollen 400 Wohneinheiten untergebracht werden. Dort, wo sich die neue Brücke bis zu 47 Meter hoch aufschwingt, um im nicht unelegant den Kraftverlauf akzentuierenden Schwung die bisherigen Pylone raumgreifend zu ersetzen. Sogar von Windturbinen und Solarflächen ist die Rede."
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Kunst

"Geld regiert die Welt", muss Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung nach Eröffnung der privaten Kunsthalle auf dem Flughafen Tempelhof  seufzen, aber auch mit Blick auf Paris: Dort muss die Künstlerschaft nach fünfzig Jahren das Ende der Kunstmesse Fiac verkraften: "An ihrer Stelle hält ab 2024, nach der Sanierung des Grand Palais, die Art Basel alljährlich Hof in den Heiligen Hallen. Die Strippen für den Millionen-Deal hat der in Berlin schmählich gescheiterte Kunstmanager Chris Dercon, seit 2018 Direktor des Grand Palais, gezogen."

Weiteres: Auf Monopol bekennt der Fotograf Alexander Gehring seiner anhaltende Liebe zur analogen Technik und dem Zauber der Dunkelkammer. Im Standard-Interview spricht Direktor Matti Bunzl über die Zukunft des Wien-Museums. Im Tagesspiegel freut sich Nicola Kuhn, dass das kleine George-Grosz-Museum in einer Fünfzigerjahre-Tankstelle in der Berliner Bülowstraße unterkommt.

Besprochen werden die Ausstellung "Missing Stories" im Willy-Brandt-Haus, für die KünstlerInnen den Spuren von NS-Zwangsarbeitern auf dem Westbalkan folgen (taz) und eine "elektrisierend intime" Schau mit Vincent van Goghs Selbstporträts in der Londoner Courtauld Gallery (Guardian).
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Film

Die RBB-Filmkritikerin Anna Wollner kann es in ihrem Kommentar nicht fassen, dass die Berlinale auf dem prognostizierten Höhepunkt der Omikronwelle mitten in Berlin ein Präsenzfestival ohne Online-Sichtungsmöglichkeiten für die Presse abhalten will. Wie es anders ginge, "haben die Filmfestivals in Sundance und Rotterdam jüngst vorgemacht. Es wäre auch in Berlin gegangen, wenn man denn gewollt hätte. Aber man wollte wohl nicht. ... Als Journalist:in auf die Berlinale zu gehen, ist wie Russisch Roulette spielen. Die Kolleg:innen, die am letzten Tag noch einen negativen Test vorweisen können, sollten mit einem Ehrenbären ausgezeichnet werden."

Außerdem: Nadine Lange wirft für den Tsp einen Blick in die Panorama-Filme der Berlinale. Besprochen werden eine Neuausgabe von Carl Schenkels 80s-Thriller "Abwärts" mit Götz George (CrimeMag), Maryam Moghadams "Die Ballade von der weißen Kuh" (Intellectures) und ein Luxusband zur Geschichte der James-Bond-Filme (CrimeMag).
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Musik

Wie steht es eigentlich um die anhaltende Evakuierung von Musikerinnen und Musikern aus Afghanistan? Tiago de Oliveira Pinto hat für die NMZ nachgesehen, stößt dabei aber an nachvollziehbare Grenzen: "Die Geschichte, über die nun zu berichten wäre - wie es Musikern gelingt, das Land zu verlassen, einzelne Musikerschicksale und die von Musikinstitutionen, die wertvollen Klangarchive und vieles mehr - darf noch nicht publik werden. Zu viele Menschen sind weiter in Gefahr, ihre Zukunft, selbst wenn sie auf einer der Evakuierungslisten stehen (neben Deutschland nehmen auch andere Länder bedrohte Kulturschaffende auf) ist weiterhin ungewiss." Und "während die Maßnahmen zur Restitution von Kulturerbe an die Herkunftsländer in Gang kommen (...), gehen die Bemühungen um das immaterielle Kulturerbe Afghanistans in die entgegengesetzte Richtung: Dringend erforderlich ist jetzt die 'Expatriierung' von Kulturgut aus dem Land. Da es sich hier um immaterielles/lebendiges Kulturerbe handelt, sind auch die Menschen/Kulturträger mit involviert."

Dazu passend weist Felix Linsmeier in der NMZ auf den Twitterkanal "Kabul_Musicians" hin, der auf die Lage zurückgelassener Studierende der Musikfakultät der Universität Kabul aufmerksam macht. Das Personal wurde evakuiert, die Studierenden sich selbst überlassen. Der Initiator des Accounts erklärt: "Professionelle Musiker*innen, die eines der Hauptziele der Taliban sind, wurden völlig zurückgelassen. Ich betreibe diese Kampagne, weil uns das Goethe-Institut und der deutsche Staat all die Jahre im Studium unterstützt hat, doch nun, wo wir wirklich auf sie angewiesen sind, schweigen sie! Wir brauchen dringend Hilfe, wir sind in großer Gefahr."

Außerdem: Mit seinen Angriffen auf die Sängerin Sezen Aksu (unser Resümee) attackiert Erdoğan das Sinnbild einer "idealen Türkei", ärgert sich Gürsoy Doğtaş im Freitag: "Versteht Erdoğan überhaupt noch das Land, wenn er einer lebenden Legende der Türkei ein Schandmal zufügen will?" Eventuell dreht Neil Young Spotify auch deshalb so leicht den Rücken, weil die gegenüber anderen Anbietern schlechtere Klangqualität des Streamingdienstes diesem schon lange ein Dorn im Auge war, gibt Ueli Bernays in der NZZ zu bedenken. Dorothea Walchshäusl spricht für den Tagesspiegel mit dem Geiger Daniel Hope, der für sein neues Album von der Klassik in den Jazz wechselt. Für die NZZ porträtiert Adrian Schräder den US-Rapper Jack Harlow, der seit seinen Teenietagen daran arbeitet ein Rap-Star zu werden und seinem Ziel nun zum Greifen nah ist. Der Bluesgitarrist James "Blood" Ulmer und der Popsänger Graham Nash werden beide heute 80 Jahre alt - in der FAZ gratulieren Wolfgang Sandner und Jan Wiele. Außerdem liefert das Logbuch Suhrkamp die 100. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":



Besprochen werden das neue Album "Nie wieder Krieg" von Tocotronic ("ein lustvoller, zärtlicher Versuch über das Zerbrechen und Vergehen, eine Feier der Fragilität", schwärmt Maximilian Haase in der Jungle World) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter ein neuer Song von U2 ("Viel mieser kann Musik nicht werden", gruselt sich Christian Schachinger im Standard) und Cate Le Bons Avantgarde-Pop-Album "Pompeii" (es "jaulen durchaus freundliche Synthesizer", freut sich Juliane Liebert in der SZ).

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