Efeu - Die Kulturrundschau

Gleichsam semantisch kolonialisiert

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03.12.2021. FR und Guardian gratulieren der Belfaster Aktivistengruppe Array Collective zum Turner-Preis. Auch die Schweiz darf die Vergangenheit nicht für beendet erklären, mahnt Raphael Gross in der NZZ. Die Kinos werden dank Impfverweigerern wieder dichtmachen müssen, ärgert sich artechock. Die FR wünscht Frantz Fanon zum sechzigsten Todestag einen gebührenden Platz in der Erinnerungskultur. Die taz kommt mit rumpeligem Indie-Pop von Swansea Sound im Hier und Jetzt an. Und artnews trauert um den Konzeptkunst-Pionier Lawrence Weiner.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Die Belfaster Aktivistengruppe Array Collective gewinnt den diesjährigen Turner-Preis: "Eine Sensation. Protest wird Kunst", jubelt Ingeborg Ruthe in der FR und würdigt die Aktivisten als Gruppe, "die mit ihren Aktionen unermüdlich auf die noch immer angespannte politische Situation Nordirlands hinweist, an die mörderischen Glaubenskriege zwischen Protestanten und Katholiken und die Verwerfungen im Gemeinwesen erinnert, den Brexit ablehnt und gegen die gesetzliche Diskriminierung der Queer-Community und das Abtreibungsverbot kämpft". Für den Guardian hat Charlotte Higgins mit den elf KünstlerInnen aus Belfast über ihre Arbeit gesprochen: "Die Mitglieder von Array, zu denen sowohl Katholiken als auch Protestanten gehören, verwenden auch die Sprache der vorchristlichen irischen Folklore, um eine jüngere Geschichte zu ergründen: das Erbe des britischen Kolonialismus und die konfessionelle Spaltung, die sie ansonsten auf Schritt und Tritt bedrängt. 'Wir wollen eine alternative Stimme zum sektiererischen Grün oder Orange zeigen', sagt Bhreathnach-Cashell. 'Aber gleichzeitig durchdringt das alles. Es ist in uns, weil wir dort leben.'"

Bild: Kati Horna, Stairway to the Cathedral, National Gallery of Art, Washington, Alfred H. Moses and Fern M. Schad Fund, © Ana María Norah Horna Fernandez

"Warum sind die Frauen hinter der Kamera im Archiv verschwunden?", fragt sich Christine Brinck in der Zeit nach dem Besuch der Ausstellung "The New Woman Behind the Camera" in der National Gallery of Art in Washington, die 120 Fotografinnen aus den zwanziger bis fünfziger Jahren zeigt: "Umwerfend sind die Entdeckungen, die die Kuratorin Nelson gemacht hat. (…) Im Sari arbeitete anfangs die indische Fotografin Homai Vyarawalla. Sie erinnert sich, wie Beobachter ihre Arbeit mit der Kamera mehr als Spaß denn als Profession wahrnahmen. Sie wurde zur Chronistin der letzten Tage des Britischen Empire. Ihre Aufnahme des Bahnhofs von Mumbai, halb Tempel, halb imperiale Grandeur, machte sie mit dem Blick durch die Speichen einer Rikscha, eines alten Beförderungsmittels, das bis in unsere Zeit überlebte. Sie fotografierte Gandhis Bestattung und seinen Nachfolger Nehru. Sie war die Neue Frau; verheiratet, mit Kindern und der Kamera in der Hand."

Im NZZ-Interview mit Marc Tribelhorn spricht Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, über den Streit um die Sammlung Bührle (Unsere Resümees) und den Schweizer Umgang mit der Vergangenheit: "Man wird nicht gern daran erinnert. Die Schweiz ist ein beeindruckendes und privilegiertes Land. Das erklärt zu einem gewissen Grad auch die hämischen Reaktionen aus dem Ausland zum Bührle-Fall. Mit der Aufarbeitung der Verstrickungen während des Zweiten Weltkriegs hat die Bergier-Kommission einen Meilenstein gesetzt. Aber es ist eine Illusion zu glauben, mit den veröffentlichten 25 Bänden sei nun Geschichte erledigt. Man kann die Vergangenheit nie für beendet erklären, wenn sie nicht gefällt. Man kann und soll aber Verfahren schaffen, mit denen Auseinandersetzungen um umstrittene Kunstwerke geklärt werden können."

Lawrence Weiner, einer der Pioniere der amerikanischen Konzeptkunst ist im Alter von 79 Jahren gestorben, meldet unter anderem artnews: Weiner wurde bekannt für "seine textbasierten Installationen mit evokativen oder beschreibenden Phrasen und Satzfragmenten, die typischerweise in fetten Großbuchstaben präsentiert werden, begleitet von grafischen Akzenten." artnews verweist auf ein Gespräch mit Kim Gordon (Interviewmaganzin): "'Die Vision ist, ein Konzert zu geben, und wenn alle aus dem Konzert kommen, pfeifen alle etwas', erklärte er Gordon. 'Das ist nicht populistisch - das heißt nur, jemandem etwas zu geben, das er gebrauchen kann. Und deshalb geht es bei meiner Arbeit darum, der Welt etwas zu geben, das sie nutzen kann."

Besprochen wird die Thomas-Schütte-Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Film

Die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister ist gestorben. Afghanistan war ihr Herzenssache, schreibt Claudia Lenssen in der taz. "Immer dann, wenn ihr der angeschwollene Film- und Medienbetrieb hierzulande zuwider war, reiste sie mit dem Kameramann Lars Barthel nach Afghanistan, zeichnete die realen Bilder des monströsen Kriegsmülls an den Straßen des Landes auf und lernte Menschen am Rand kennen, die in buchstäblich vermintem Gelände nach ihren archaischen Gesetzen zu überleben versuchten. Vorsichtige Annäherung an eine fremd bleibende Kultur, teilnehmende Beobachtung anstelle der Illustrierung westlicher Diskurse über den Krieg in Afghanistan waren ihr Credo." In ihrem 1979 entstandenen Porträtfilm "Von wegen Schicksal" über eine von Armut gebeutelte Familie "wird der Kinozuschauer Zeuge einer in jeder Hinsicht schwierigen, brutalen Emanzipation", schreibt Martina Knoben in der SZ.

"Die Kinos werden wieder dichtmachen müssen, den Querdenkern, Wissenschaftsfeinden und Impfverweigerern sei Dank", seufzt Rüdiger Suchsland in seiner Artechock-Kolumne angesichts der gerade unklaren Lage, wie es konkret weiter gehen wird. "Vielleicht 'darf' man zumindest 25 Prozent der Sitze noch besetzen, vielleicht mit Mindestabstand von absurden 1,5 Metern. Die Hälfte der Kinos kann oder will sich das aber nicht leisten und wird lieber zumachen. Die Verleiher verschieben ihre Starts in den März oder später. ... Wieder wird auf dem Rücken der Kultur das Versäumen der lokalen und regionalen Bürokratien, die Hysterie der Gesellschaft und vor allem die Feigheit und die Angst der Politiker ausgetragen. Es ist die Feigheit und Angst vor 'dem Volk', 'dem Wähler', die dazu führt, dass eine Minderheit von bornierten Bürgern widerspruchslos ihre abstrusen Thesen öffentlich breittreten kann, ohne dass ihnen jemand entgegentritt. Weil man ihnen eine Impfpflicht lange Zeit nicht zumuten wollte, sowenig wie inhaltliche Aufklärung, bevor beides jetzt natürlich doch kommt."

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh empfiehlt im Standard Filme aus der Südkorea-Reihe des Streamers Mubi. Für Artechock berichten Dunja Bialas (hier) und Wolfgang Lasinger (dort) vom Internationalen Filmfestival in Mannheim. Axel Timo Purr war derweil für Artechock beim Duhok International Filmfestival in der Region Kurdistan. Andreas Busche empfiehlt im Tagesspiegel das Berliner Festival "Around the World in 14 Films".

Besprochen werden Paolo Sorrentinos "The Hand of God" (SZ), Paul Verhoevens "Benedetta" (Artechock, FAZ, mehr dazu hier), Ridley Scotts "House of Gucci" (Artechock, NZZ, mehr dazu hier), Salomé Jashis "Die Zähmung der Bäume" (Freitag), Navot Papushados "Gunpowder Milkshake" (SZ), die Arte-Serie "Nona und ihre Töchter" (FAZ) und die Sky-Serie "Die Wespe" (taz).
Archiv: Film

Literatur

Zum 60. Todestag Frantz Fanons am kommenden Montag erinnert Malte Osterloh in der FR an dessen nur drei Tage vor seinem Tod erschienes Buch "Die Verdammten dieser Erde" und wünscht dem Schriftsteller einen "gebührenden Platz in der Erinnerungskultur" Frankreichs, wo Fanon nicht sonderlich bekannt sei. Dass sein Buch seinerzeit "vor allem als Aufruf zur Gewalt gelesen wurde", habe viel mit Sartre zu tun, der auf Fanons Wunsch hin das Vorwort geschrieben hatte. "Dem Buch hat das wahrscheinlich zu einer größeren Bekanntheit verholfen, ob es zu einer Verbreitung von dessen Ideen geführt hat, darf man bezweifeln: 'Einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.' So die Sätze Sartres, die Jahrzehnte die Interpretation bestimmt haben. Es ist eine bittere Ironie, dass ein Buch, das zur Befreiung von der französischen Kolonialisierung aufruft, durch das Vorwort eines französischen Autors gleichsam semantisch kolonialisiert worden ist."

Besprochen werden unter anderem Lydia Sandgrens "Gesammelte Werke" (Tag und Nacht), Sarah Jägers "Die Nacht so groß wie wir" (Tsp), ein von Agathe Novak-Lechevalier herausgegebener Band über Michel Houellebecq (NZZ), Najem Walis "Soad und das Militär" (SZ) und ein Gesprächsband mit Ingrid Caven (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Nach dem Besuch einiger Theaterinszenierungen in Russland erkennt Kerstin Holm in der FAZ: "Da gesellschaftspolitische Themen wieder, wie zu Sowjetzeiten, in der Ersatzöffentlichkeit der Kultur verhandelt werden müssen, machen Inszenierungen Furore, die den Zynismus der im Zuschauersaal sitzenden, durch ihre Aufstiegsorientiertheit klassensolidarisch miteinander verbundenen besseren Gesellschaft unterhaltsam persiflieren, vorzugsweise im Gewand aktualisierter Klassiker." Etwa "Dmitri Krymows bitterer Abgesang auf Russlands europäische Kultur durch ein depressiv farcenhaftes Remake von Anton Tschechows 'Die Möwe', das er unter dem Titel 'Kostik' im Puschkin-Theater herausbrachte."

"Sie können davon ausgehen, dass auch bei uns nicht alle geimpft sind, aus unterschiedlichen Gründen. Damit müssen wir umgehen", sagt Tilman Michael, Chordirektor der Oper Frankfurt im FR-Gespräch mit Judith von Sternburg über Singen und Proben unter Pandemie-Bedingungen: "In den ersten Wochen wurde hier alles geprüft und auch umgerüstet. Sie sehen die beiden großen Luftreiniger dort vorne, die wir brauchten, weil ausgerechnet dieser Saal belüftungstechnisch nicht gut ist. Der Stand am Anfang war: Hier, wo sonst bis zu hundert Choristen gemeinsam proben, dürfen maximal acht Leute singen - aber nur, wenn wir Trennwände benutzen! Es bleibt kompliziert, und gerade Sänger werden damit wohl noch sehr lange zu tun haben, sofern nicht alle geimpft sind."

Außerdem: Im Standard-Interview mit Ljubiša Tošić spricht Barrie Kosky über seine Don-Giovanni-Premiere an der Wiener Staatsoper, die erneut nicht vor Publikum stattfindet. Die typischen Kampnagel-Themen "Postmigration, Postkolonialismus, Queerness" entdeckt Nachtkritiker Falk Schreiber nun auch beim Hamburger "Nordwind-Festival", das unter anderem mit Andreas Constantinous Stück "Champions" über den Corona-Tod seiner Eltern und deren Umgang mit seiner Homosexualität eröffnete. Besprochen wird Sharon Eyals "Rhapsody" an der Pariser Oper. (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Mit Mitte 50 noch Indie-Ideale haben, noch möglichst viel selber machen - und dann noch gute Musik machen? Geht? Geht, schwärmt Dirk Schneider in der taz nach dem Hören des neuen Albums von Swansea Sound aus Bristol, denen schon mit einer 300er-Auflage ein Top10-Hit gelungen ist und die sich ihren Indie-Idealismus allerdings auch mit gut bezahlten Brotjobs querfinanzieren können. Und doch rührt es Schneider, "wie die vier mit Mitte 50 noch so rumpeligen wie melodieverliebten Pop raushauen... Ihr Handwerk haben sie dabei noch aufs Schönste drauf: Ein aus Überzeugung leicht schepperndes Schlagzeug, Gitarren, die eine Bandbreite menschlicher Gefühlslagen abbilden, mehrstimmige Gesangsdialoge und detailverliebt gesetzte, impressionistische Tupfer von Orgel und Gesang. Okay, diese Musik klingt wie vor dreißig Jahren, lässt aber beim Hören keinen Moment einen Zweifel daran aufkommen, dass sie im Hier und Jetzt spielt."



Hartmut Welscher spricht für VAN mit Oliver Wenhold von der Deutschen Orchestervereinigung über die Impfsituation an den deutschen Orchestern, wo, wie in der Gesellschaft allgemein, eine zwar kleine, aber beharrliche Minderheit zulasten Vieler die Impfung boykottiert. Die Folge: Geimpfte Kollegen müssen hier und da Dienste der Ungeimpften übernehmen. "Das sorgt mit Sicherheit für Spannungen. Die können sogar noch dadurch verschärft werden, dass jetzt in einigen Orchestern Ungeimpfte auf die Idee gekommen sind zu sagen: 'Wenn ich jetzt so oft extra zum Testen kommen muss, vielleicht sogar an meinem freien Tag, muss ich dafür extra Dienstpunkte angerechnet bekommen, weil es ja arbeitsplatzbedingt ist.'"

Weitere Artikel: Merle Krafeld spricht für VAN mit André Uelner, der für die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz eine Studie zur Diversität in den deutschen Orchestern durchgeführt hat, deren Ergebnis sehr eindeutig ausfällt: Auf 129 Berufsorchester verteilen sich an die 9800 Planstellen, bei nur 62 Musikern mit Migrationsgeschichte aus der Türkei und dem Nahen Osten. In der SZ geht Cornelius Pollmer der (gestern auch im Perlentaucher gelegten) Spur nach, dass Nina Hagens bei Merkels Zapfenstreich gespielter DDR-Schlager vom vergessenen Farbfilm vielleicht einen schweren Übergriff schildert. Magnus Klaue erinnert in der Welt an Friedrich Degenhardt, der heute 90 Jahre alt geworden wäre, und an dessen "Schärfe, die vor sich selbst so wenig Halt macht wie vorm politischen Gegner". Wir erinnern an seinen tollen Song "Vatis Argumente":



Besprochen werden ein Schostakowitsch-Abend mit Teodor Currentzis in Berlin (Tsp), das neue Album von Sting (FAZ), neue Alben von Cecilia Bartoli und Anna Netrebko (Welt) sowie das Debütalbum "Wasteland" von Laura Lee & The Jettes (taz).
Archiv: Musik

Architektur

Die Nürnberger Oper soll saniert werden, als Ausweichstätte soll die Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände dienen, gestritten wird aber vor allem über ein Detail, weiß Olaf Przybilla in der SZ: Nämlich über die Frage, "ob der bislang absichtsvoll verödete Innenhof des NS-Halbrunds mit einer ephemeren Opernaufführungshalle bestückt werden darf - oder nicht. Die SPD hat eigens einen Parteiausschuss dazu einberufen, samt Resolution. Ergebnis: Etliche Standorte an der NS-Kongresshalle könne man prüfen. Speziell der Innenhof aber sei 'kein x-beliebiges Bauland', vielmehr 'ein Erinnerungsort' - und so habe dieser Ort unverändert zu bleiben. Historiker aus dem NS-Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände sehen das auch so." Ebenfalls in der SZ erzählt Peter Richter die Geschichte der Kongresshalle.

Im SZ-Interview mit Alexander Gorkow, Olaf Przybilla und Peter Richter sprechen die jüdische Kulturwissenschaftlerin und Heine-Preisträgerin Rachel Salamander und die CSU-Politikerin und Kulturbürgermeisterin Julia Lehner über die Nutzung des Kongressbaus. Lehner meint: "Wir haben dort schon kulturelle Nutzungen durch das Dokumentationszentrum und den Konzertsaal der Symphoniker. So - und nun gibt es in Nürnberg einen gewaltigen Bedarf, Ateliers zu schaffen, Proberäume, ephemere Räume für kreative Kollektive, die auf Zeit zusammenarbeiten wollen." Und Salamander ergänzt: "Wenn ich eine Möglichkeit sehe, dann ist es die Kunst, die starke Antworten finden kann auf die Geschichte. Sie können doch in Deutschland keinen Bahnhof, kein Gleis mehr benutzen, wenn Sie das nicht wieder für sich in Besitz nehmen. Sie hätten das ganze Land zuschließen müssen nach 1945. So wie Sie das Volk nicht austauschen konnten, so leben Sie heute mit dieser Hinterlassenschaft."

Besprochen wird Mario Pelitis Fotodokumentation "Hypervenezia" im Palazzo Grassi in Venedig (taz).
Archiv: Architektur