Efeu - Die Kulturrundschau

Finale Rasereien

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2019. Der Freitag erklärt, weshalb Olga Tokarczuk Leser unter den polnischen PiS-Politikern findet. In der FAZ und in der Rhein-Neckar-Zeitung springen Jürgen Kaube und Claus Peymann Peter Handke zur Seite. In der SZ warnt Sebastiao Salgado vor der Zerstörung der Amazonasgebiete unter Jair Bolsonaro. In der taz fordert Milo Rau eine "Revolte der Würde". Und Zeit-Online erkennt das emanzipatorische Potenzial von elektronischer Musik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2019 finden Sie hier

Literatur

Dass auch Olga Tokarczuk einen Literaturnobelpreis gewonnen hat, geht im allgemeinen Handke-Getöse ziemlich unter. Im Freitag befasst sich Jan Opielka mit dem Werk der polnischen Schriftstellerin - und kommt dabei auch auf den leicht kuriosen Umstand zu sprechen, dass die engagiert linksliberal auftretende Autorin bis in höchste Ränge und Ämter der rechtsnationalistischen PiS-Partei ihre Leser hat. Ihr Leben und Werk entziehe sich "einer klaren politischen Zuordnung, wie auch Polen in keine politisch-kulturelle Ost-West-Landkarte passt. ... Ihre literarischen Arbeiten sind von einem bildstarken Mystizismus geprägt, sie greifen, jenseits des Rationalen, auf religiöse Traditionen, auf archetypische Muster zurück. Womöglich deshalb kann der konservative Kaczyński ihrem Werk einiges abgewinnen."

"Der Literaturnobelpreis dient nicht dazu, alljährlich über das Verhältnis von Literatur und Moral oder Politik zu diskutieren", mahnt Jürgen Kaube in der FAZ mit Blick auf die Handke-Debatte der letzten Tage: "Wie kommt man auf die Idee, Schriftsteller hätten angenehme Menschen mit durchgängig einwandfreien Ansichten und tadellosem Lebenslauf zu sein?" Die Empörung ist "ganz gewiss nicht" gerechtfertigt, meint Claus Peymann im Gespräch, das er der Rhein-Neckar-Zeitung gegeben hat. "Es muss ja möglich sein, dass ein Schriftsteller seine Meinung vertritt und den Untergang von Jugoslawien bedauert - auch wenn er das anhand bestimmter Personen festmacht. ... Dieser Konflikt ist total aufgeblasen."

Gespenstisch - der Sache nach nachvollziehbar, aber um den Kern des konkreten historischen Kontextes beraubt - findet Lothar Müller in der SZ diese Wiederkehr längst ausgefochtener Debatten aus den neunziger und nuller Jahren. In Erinnerung ruft er das damalige Debattenklima, vor dessen Hintergrund man Handkes damalige Äußerungen einsortieren müsse: "In nicht geringen Teilen der Öffentlichkeit erschien die serbische Führung um Slobodan Milošević als Wiedergänger der Nationalsozialisten. Dagegen vor allem lief Handke bisweilen blindwütig, aber oft auch sich selbst ins Wort fallend Sturm ... Handke ist kein Völkermord-Apologet. Aber jemand, der die staatlichen, systematischen Vernichtungsenergien beim Zerfall Jugoslawiens verkennt."

Die historische Erfahrung vermisst auch der aus Bosnien stammende Schriftsteller Tijan Sila, zieht aber in seiner wütenden Abrechnung mit Handke in der taz andere Schlüsse: "Zum Zeitpunkt des Erscheinens solcher Bücher wie 'Winterliche Reise' sah Handke sich nur mit höflichen Problematisierungen konfrontiert - heute ist es der Zorn bosnischer Diaspora. ... Die bittersüße Ironie der Tatsache, dass genau dieses vom Krieg erschaffene globale Kulturleben Bosniens Handke in solche Bedrängnis bringt, ist ein geringer Trost."

Weiteres: Die Literaturwissenschaftlerin Nahrain al-Mousawi befasst sich in der NZZ mit arabischer Science-Fiction. Die Literarische Welt wird heute auf mehreren Seiten bestimmt von Zadie Smiths kürzlich in der New York Review of Books veröffentlichtem Essay über die Freiheit der Fiktion und kulturelle Aneignung - ein Resümee finden Sie hier in unserer Magazinrundschau. In der taz sammeln Andreas Fanizadeh und Tania Martini Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse, wo auch erstmals das beste von einer KI verfasste Buch prämiert wurde, wie Jens-Christian Rabe in der SZ berichtet. Für die FR spricht Jannik Schäfer mit dem vielbeschäftigten Übersetzer Frank Heibert. Für das Buch Zwei der SZ hat Martin Zips den französischen Comiczeichner Didier Conrad besucht, der den neuen, Ende des Monats erscheinenden Asterix-Band gestaltet hat. Auf der FAZ-Seite "Literarisches Leben" erinnert Susanne Klingenstein an den Genozid an den ukrainischen Juden im Jahr 1919 und dessen Aufarbeitung in der jiddischen Literatur, insbesondere an den "emotional verstörenden Roman 'Chadoschim un teg'" von 1926, in dem Itsik Kipnis zu ergründen versucht, warum Menschen plötzlich zu den Waffen greifen, um ihre jüdischen Nachbarn zu ermorden. Dieser faktografische Roman "ist eine jüdische Innenansicht der Pogrome. Ein ukrainisches Pendant gibt es nicht."
   
Besprochen werden unter anderem Jan Peter Bremers "Der junge Doktorand" (taz), Marlon James' "Schwarzer Leopard, roter Wolf" (taz),Ahmed Saadawis "Frankenstein in Bagdad" (NZZ), Øyvind Torseters Comic-Erzählung "Hans sticht in See" (Tagesspiegel), Hans Blumenbergs Essay "Die nackte Wahrheit" (Literarische Welt),  Rüdiger Safranskis Biografie "Hölderlin: Komm! ins Offene, Freund!" (SZ) und ein in Frankreich erschienener Band mit bislang unveröffentlichten Textfragmenten von Marcel Proust (FAZ).
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Bühne

Szene aus "Germania". Foto: Julian Röder

So passend der Zeitpunkt auch sein mag, um an deutsche Vergangenheit von der Varusschlacht über den Nationalsozialismus bis zur Wiedervereinigung zu erinnern -  die TheaterkritikerInnen sind doch nur mäßig angetan von Claudia Bauers bunter Collage aus Heiner Müllers "Germania"-Stücken an der Berliner Volksbühne. Bei allem Respekt vor Bauers "eklektizistischer Wucht und komödiantischer Schärfe", hätte sich Nachtkritikerin Esther Slevogt dann doch mehr Analyse gewünscht, "statt sich von seiner HitlerStalinBlutKriegNaziKommunismusHeinerMüller-Seligkeit an den Rand der Agonie manövrieren zu lassen": "Bald verliert sich der Abend in einem immer zäher fließenden Malstrom der Bilder, der kaum seine Tonlage wechselt. Wir treffen Hitler und Stalin als abziehbildhafte geschichtsnotorische Bösewichte - wobei Katja Gaudards fragile wie grotesk verfeinerte Hitlerdarstellung durchaus auch starke Momente hat."

In der Berliner Zeitung sehnt sich Ulrich Seidler leise nach Castorf zurück: "Überkomplexe Zeichenpampe, die mit Schmackes und unter Aufbietung eines hochtourenden Theaterapparates - egal, ob irgendwer im Saal noch folgen will und kann - über die Rampe gekippt wird, das klingt doch eigentlich nach der Fortsetzung guter alter Castorf-Tradition. Möglicherweise sind dessen vibrierenden Hervorbringungen dann aber doch luzider, böser, überraschender und dringlicher (...)." "Pop-Kinderparty", meint auch Peter Laudenbach in der SZ. Nur in der FAZ lobt Irene Bazinger Bauers "alptraumhafte böse Bilder" und "szenische Fantasie".

Warum lesen sich so viele Theaterkritiken wie "Nachrufe" auf die dramatische Kunst, seufzen derweil Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters und Claus Caesar, Chefdramaturg und Stellvertretender Intendant und betonen: "Es trifft zu, dass neue Stücke nicht oft genug nachgespielt werden. Es ist richtig, dass sich zeitgenössische DramatikerInnen häufig auf kleineren Bühnen wiederfinden. Es stimmt, dass nicht sehr viele AutorInnen von ihren Honoraren leben können. Aber es stimmt auch, dass sich mühelos Namen finden lassen, die allen Untergangsszenarien reihenweise und aufs Schönste widersprechen."

Weiteres: In der taz erzählt Milo Rau von den Dreharbeiten zu seinem Film "Das neue Evangelium", den er unter anderem italienischen Migranten und AktivistInnen zusammendrehte und fordert eine "Revolte der Würde" für die Rechte von Migranten und kleinen Agrarunternehmern: "Mach kaputt, was dich kaputt macht! In der Revolte entstehen bisher ungesehene Solidaritäten: zwischen Kleinbauern und Flüchtlingen, zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Denn den postmodernen Kapitalismus überwindet nur, wer seine spalterische Ideologie des Identitären überwindet." Der Regisseur Herbert Fritsch verlässt nach der Volksbühne nun auch die Berliner Schaubühne auf eigenen Wunsch, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen werden Ene-Liis Sempers und Tiit Ojasoos Inszenierung von Bulgakows "Meister und Margarita" am Wiener Burgtheater (nachtkritik) und Agatha Christies "Die Mausefalle" im Frankfurter Fritz-Remond-Theater im Zoo (FR)
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Musik

Höchst befremdlich findet Daniel Gerhardt auf ZeitOnline einen auf Pitchfork erschienenen Essay des Pophistorikers Simon Reynolds, in dem dieser die intellektuell hochstehende, abstrakt-avantgardistische elektronische Musik mit eher spitzen Fingern anfasst und unter dem Begriff "Conceptronica" bündelt (unser Resümee). Dass sich ausgerechnet der "Retromania"-Kritiker die Rückkehr zum hedonistischen Dancefloor der 90er wünscht und das emanzipatorische Potenzial übersieht, sei bedauerlich, immerhin gehe es hier um "eine in popkulturellen Kreisen nach wie vor ungewöhnlich hohe Zahl von Künstlerinnen und Künstlern, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Sexualität oder ihres Geschlechts mit Marginalisierung und Exotisierung konfrontiert werden. ... Chino Amobi, Holly Herndon, Lotic, Sophie und andere Gleichgesinnte bringen nicht nur jenen abstrakten Widerstand gegen die Außenwelt zum Ausdruck, den Reynolds in ihrer Musik erkennt. Sie formulieren auch praxisorientierte Lösungen für das Dasein als randständige Kunstschaffende, finden Strategien gegen Diskriminierung und erschließen neue Communitys."

Weitere Artikel: In einer essayartigen Großbesprechung in der SZ kontextualisiert Reinhard J. Brembeck Igor Levits Aufnahme sämtlicher Klaviersonaten Beethovens mit vorangegangenen Interpretationen.
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Kunst

Der Brasilianer Sebastiao Salgado erhält dieses Jahr als erstes Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - für sein fotografisches Werk ebenso wie für seinen ökologischen Aktivismus. Im SZ-Interview mit Alex Rühle warnt er unter anderem vor den Amazonas-Zerstörungen: "Jair Bolsonaro wurde vor allem von zwei Gruppen gewählt: den Farmern. Und den Evangelikalen. Beide wollen den Amazonas vernichten. Die mächtigen Großfarmer lechzen nach dem Boden. Die Evangelikalen wollen die Seelen der letzten 'Wilden' retten, sie missionieren um jeden Preis und zerstören so all diese Kulturen. Wenn es nicht eine globale Koalition gibt, die Bolsonaro in den Arm fällt, wird der größte Teil Amazoniens bald zerstört sein. 20 Prozent sind ja bereits verschwunden."

Weiteres: Anlässlich der großen Hans-Hartung-Retrospektive, mit der das Musée d'Art Moderne nach der Renovierung wiedereröffnet, porträtiert Bettina Wohlfarth in der FAZ den deutsch-französischen Maler: "Hartung ist von Anfang an ein Künstler der Bewegung, der die intuitive, emotionale Malgeste kultiviert und Farbfelder mit oft schwarzen, kalligraphischen Motiven in Dialog setzt."

Besprochen wird: eine Gerwald-Rockenschaub-Ausstellung in der Galerie Mehdi Chouakri (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Eine bessere Welt - unbedingt!" im Berliner Willy-Brandt-Haus, das Fotografien aus der Sammlung Horbach zeigt, darunter Werke von Sebastiao Salgado (taz).
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Architektur

Dass sich die Architektur-Biennale in Chicago verstärkt auf die politischen und sozialen Dimensionen von Architektur konzentriert, in diesem Jahr etwa durch Projekte zur Mietpreissenkung in Sao Paulo, geht für Mechthild Widrich in der NZZ in Ordnung. Dennoch erscheinen ihr die künstlerischen Beiträge interessanter: "Die rumänische Performancekünstlerin und Tänzerin Alexandra Pirici choreografierte eine Arbeit, die sich in einer dem Amerikanischen Bürgerkrieg gewidmeten Raumausstattung im Cultural Center mit Territorien und deren Verlust für Minderheiten auseinandersetzt. Und auch der in Chicago beheimatete und international erfolgreiche afroamerikanische Künstler Theaster Gates zeigt in seiner dokumentarisch-künstlerischen Installation 'Landed. Gates et.al.' die zurzeit mehr als dreißig Grundstücke und Gebäude, die er in durch die Immobilienkrise gebeutelten Stadtteilen gekauft hat und nun zu kulturellen Stätten ausbaut."
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Film

Will man den Angriff der AfD auf die Kultur und den Film abwehren, kommt man nicht darum herum, ihn künstlerisch aufzustellen, schreiben der Filmkritiker Rüdiger Suchsland und der Festivalleiter Lars Henrik Gass im Spiegel als Nachbetrachtung ihrer erfolgreichen Petition zur Absetzung des hessischen Filmfunktionärs Hans Joachim Mendig. Der Boden für die AfD sei längst bereitet worden, meinen sie mit Blick auf die teils desaströsen Weichenstellungen in der hiesigen Filmförderung in den letzten 25 Jahren. Begünstigt wurden "Durchregierer, Sanierer und Technokraten, die Filmförderung allein als Mittel zum Zweck ansehen und an besseren Filmen gar nicht interessiert sind.  .. Das Ergebnis sind knallig-banale Boulevardstoffe wie 'Ich war noch niemals in New York', der recht unverblümt an die Revuefilme der Ufa anknüpft, die Darstellung 'großer' Historie oder die Verfilmung 'wichtiger' Bücher von 'Deutschstunde' bis 'Schachnovelle', um dadurch eine Art gesellschaftliche Sinnstiftung zu leisten - auf Kosten von Geschmack und Kunst." Also "erbauliches Staatskino und die Abwicklung echter Filmkultur" in einem.

Ihr Essayfilm "Born in Evin" diene nicht der Verarbeitung persönlicher Traumata, sagt die Filmemacherin Maryam Zaree im taz-Gespräch. In dem Film befasst sie sich mit dem Umstand, dass sie im iranischen Frauengefängnis in Evin auf die Welt kam (unser Resümee). Für sie ist der Film vielmehr ein "Akt des Widerstandes gegenüber dem Regime. Alle, die daran gearbeitet haben, ermöglichen, dass das, was in Evin stattgefunden hat, nicht im Privaten bleibt. Die Folterstrategien sollten den Menschen im Persönlichen brechen und ideologisch so umerziehen, dass das Individuum ausgelöscht wird. Ich möchte mit diesem Film dieser Ideologie die Individualität meiner Protagonisten entgegenhalten - ihre Würde zeigen, die Schönheit ihrer Menschlichkeit."

Weiteres: Für die Welt spricht Jan Küveler mit Regisseur Bong Joon-ho und Schauspieler Song Kang-ho über ihren Cannes-Gewinner "Parasite", der nun in die Kinos kommt (unsere Kritk hier). In der taz empfiehlt Stefan Hunglinger das Pornfilmfestival in Berlin.

Besprochen werden Justin Pembertons Dokumentarfilm "Das Kapital im 21. Jahrhundert" auf Grundlage des gleichnamigem Sachbuchs von Thomas Piketty (SZ), Steven Soderberghs Netflix-Film "Die Geldwäscherei" über die Panama Papers (ZeitOnline, mehr dazu bereits hier), die Serie "The Handmaid's Tale" nach Margaret Atwoods gleichnamigem Roman, die nun auch im deutschen Free-TV und online zu sehen ist (FAZ), und die türkische Netflix-Seifenoper "The Protector" (NZZ).
Archiv: Film