9punkt - Die Debattenrundschau

Ein konstitutives Anderes Europas

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2022. Deutsche "Antifaschisten", die zum Krieg bisher nicht viel zu sagen hatten, sind nach Äußerungen von Botschafter Andryj Melnyk über den ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera endlich aufgewacht. Alice Bota und Franziska Davies erklären auf Twitter geduldig den Kontext und warum Melnyks Äußerungen unhaltbar sind - so auch Thomas Schmid in der Welt. Bei Deskrussie.fr schildert  Sergej Medwedew Russland als Reich der Angst. "Amerika zerbricht", schreibt Hubert Wetzel im Leitartikel der SZ, und das sei keine Metapher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.07.2022 finden Sie hier

Europa

Deutsche "Antifaschisten", bei denen Putins Krieg gegen die Ukraine bisher allenfalls ein verlegenes Hüsteln provozierte, wurden durch die Äußerungen des ukrainischen Botschafter Andryj Melnyk über den ukrainischen Nationalistenführer und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera nun endlich wachgerüttelt. Melnyk äußerte sich in einem langen Video-Interview Tilo Jungs, der Melnyk mit ein paar historischen Fakten konfrontierte. Seht nützlich sind als Antwort auf die tugendhafte Empörung über Melnyks Verteidigung Banderas zwei Threads der Journalistin Alice Bota und der Osteuropaforscherin Franziska Davies, die die Kontexte zu Bandera erstellen und Lesetipps geben, ohne zu beschönigen.


"Ein solcher Diskurs - der ja sehr lebendig in der Ukraine geführt wurde - ist lediglich in Friedenszeiten möglich. Wer sich jetzt an Bandera abarbeitet, Waffenlieferungen gar daran knüpft, dem geht es nicht um Bandera oder die Ukraine. ", schreibt Alice Bota.

Franziska Davies erzählt nach den "schwer erträglichen Aussagen von @MelnykAndrij" die Geschichte Banderas und des ukrainischen Ultranationalismus, die inzwischen längst auch - anders als das unter Putin möglich wäre - von ukrainischen Historikern aufgearbeitet wird. Wie grausam komplex die Geschichte ist, zeigt allein diese  Passage: "Durch den Hitler-Stalin Pakt im August 1939 mit seiner Aufteilung Ostmitteleuropas wurden die ukrainischen Nationalisten zunächst enttäuscht: Die heutige Westukraine (damals Ostpolen) fiel an die Sowjetunion und im September 1939 marschierte die Rote Armee ein. Das damalige Ostpolen wurde gewaltsam in die ukrainische Sowjetrepublik integriert. Das bedeutet einerseits eine Ukrainisierung, andrerseits wurden aber ukrainische Nationalisten verfolgt."

Melnyk leugnet Banderas persönliche Beteiligung an Verbrechen seiner Organisation OUN (Organisation Ukrainer Nationalisten). Aber das ist nicht der Punkt, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid: "Sicher ist, dass er als Anführer der OUN die politische Verantwortung für viele Verbrechen hatte, die Mitglieder der Organisation begingen. Es ist nicht bekannt, dass er je dagegen vorgegangen wäre, nie hat er diese Verbrechen verurteilt. Er ist nicht die staatsbegründende Lichtgestalt, für den ihn manche Ukrainer halten, die ihn neuerdings mit zahlreichen Denkmälern ehren. Und auch ohne Bandera bleibt die Tatsache, dass viele Ukrainer aggressive Nationalisten waren und auch so handelten."

Mehr zu Melnyks Äußerungen und zur Distanzierung des ukrainischen Außenministeriums im Tagesspiegel. Sicher auch interessant in diesem Kontext: Jens Uthoff empfiehlt heute in der taz das Buch "Die Frontlinie - Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde" des ukrainisch-amerikanischen Historikers Serhii Plokhy (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr, und wie es der Zufall will, findet sich heute in der Financial Times ein ausführliches Porträt über den Autor.).
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Politik

Iraks Parlament will Kontakte mit Israel durch ein neues Gesetz dauerhaft verbieten, selbst die Todesstrafe kann drohen. Judith Poppe unterhält sich für  die taz am Rande eine Konferenz in Israel mit Najem Wali, der irakischer Hekunft ist (inzwischen hat er einen deutschen Pass) und als jemand, der Israel besucht, im Irak Risiken eingeht. Betrieben wird die antiisraelische Politik von Kräften, die dem Iran nahestehen, die die von einigen arabischen Staaten betriebene Annäherung an Israel konterkarieren wollen. Aber wie immer sei Israel hier nur ein Instrument. Wofür, fragt die Interviewerin: "Schauen Sie, es hat gerade 50 Grad Hitze im Irak. Doch seit 2003 gibt es kein vernünftig funktionierendes Elektrizitätsnetz mehr. Der Strom fällt stundenlang aus und damit auch die Klimaanlagen. Statt für solche Missstände Verantwortung zu übernehmen, stellt man den Kampf gegen einen äußeren angeblichen 'Feind' an erste Stelle. Israel wird dafür immer funktionalisiert, auch von den Ländern, die gerade Normalisierungsabkommen geschlossen haben. Denen geht es weniger um Frieden mit Israel als geopolitisch um die Frontstellung mit Iran. Frieden darf nicht taktisch gemeint sein, er muss auch von Herzen kommen."

"Amerika zerbricht", schreibt Hubert Wetzel im Leitartikel der SZ, und das sei keine Metapher. Die Spaltung in der Bevölkerung ist tiefer denn je, die Institutionen können sie nicht heilen - auch die Demokraten seien mit schuld: "Die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten wachsen, und sie werden juristisch fixiert. Aus den einzelnen Staaten, die de jure Bestandteile einer Union sind, werden de facto separate Rechtsräume - verschiedene Länder. Ein Grund dafür ist die Lähmung in Washington. Weil der Kongress blockiert ist, fallen wichtige Entscheidungen in den Bundesstaaten, wo die Opposition hilflos ist." Ebenfalls in der SZ sieht Andrian Kreye die jüngsten Entscheidungen des Supreme Court nicht als "Rückkehr in düstere Zeiten, sondern den Aufbruch in eine finstere Zukunft".
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Gesellschaft

Die Psychologin Esther Bockwyt beschreibt "woke" Ideologie in einem Essay für die Ruhrbarone als eine Art Verabsolutierung von Moral, die die Welt bürokratisch genau in Opfergruppen und Privilegierte einteilt, um irgendwann mal so etwas wie Harmonie zu erreichen. Aber "es ist ein Trugschluss, eine Verkennung der menschlichen Psyche zu glauben, man könne ein moralisches System etablieren, in der jeder in diesem Ausmaß auf jeden Rücksicht nehmen kann. Als menschliche Wesen sind wir zwar mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet und wir verhalten uns auch altruistisch, unter anderem weil es letztlich dem Fortbestand der Spezies dient. Doch eine sich unter Dogmen unterwerfende und skurril überzogene Sensibilität ist eine Schein-Empathie. Es ist menschlich, sich zu aller erst um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Erst innere Ausgeglichenheit ermöglicht uns echte Empathie von innen heraus."
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Stichwörter: Woke, Wokeness, Wokeismus, Ruhrbarone

Ideen

Russland stoppt die Getreideexporte und wird statt dessen zum Exporteur von Angst, schreibt Sergej Medwedew bei Deskrussie.fr. Längst hat der Krieg globale Auswirkungen. Medwedews Reflexion über das "Dritte Imperium" (so der Titel eines Romans von Michail Jurjew, auf den sich Medwedew unter anderem bezieht) geht von einem Satz aus, der apokryph ist, aber oft Zar Nikolas I. oder Alexander III. zugeschrieben wird: "Russland ist keine Industrie-, Agrar- oder Handelsmacht; Russland ist eine Militärmacht, deren Berufung es ist, die Welt um sie herum zu bedrohen." In Medwedews Beschreibung hat Russland auch ein paar Ähnlichkeiten mit Deutschland: "Russland hat seine europäische Identität in Kriegen gegen Europa geschmiedet.  Der norwegische Politologe Iver Neumann sieht in Russland, ebenso wie in der Türkei, 'ein konstitutives Anderes' Europas. Der Philosoph Boris Groys bezeichnet Russland als 'das Unbewusste des Westens', in dem der Westen seine geheimen Ängste und Erinnerungen, seine Furcht vor dem Irrationalen und Unerklärlichen aufbewahrt."
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Stichwörter: Russland, Groys, Boris, Unbewusste

Medien

Wer die Stille der russischen Zivilbevölkerung beklagt, sollte das Ausmaß der Repression nicht vergesssen, schreibt der oppositionelle Journalist Vladimir Kara-Murza in einem Brief aus dem Gefängnis für die Washington Post: Die "Wahrheit wird vor der russischen Öffentlichkeit akribisch verborgen. Seit Wladimir Putins Invasion im Februar wurden bis Anfang Mai mehr als 3.000 russische und ausländische Websites von der staatlichen Zensurbehörde gesperrt, weil sie gegen deren Anordnung verstoßen haben, nur 'offizielle Informationen' - also die Propagandabotschaft des Kremls - über den Krieg zu verbreiten. Mehr als 200 Medien wurden blockiert oder gänzlich abgeschaltet."

Friedrich Küppersbusch ist Medienexperte und Produzent der Talkshow "Gysi & Schmidt - der ntv-Rückblick". Im Gespräch mit Michael Angele vom Freitag lässt er Überdruss an gewissen rhetorischen Figuren erkennen: "Es ist ja inzwischen zum 'ceterum censeo' jedes Krieges geworden. Saddam Hussein war irgendwann Hitler, Milošević irgendwann Hitler. Der polnische Staatspräsident sagt, wer mit Putin telefoniert, hätte damals auch mit Hitler telefoniert. Und umgekehrt baut die russische Propaganda ja auf die absurde These von der Entnazifizierung und dass in Kiew die Nazis herrschten."
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Geschichte

Vorsicht bei historischen Analogien, ruft der Historiker Christopher Clark in der SZ und ist sich bewusst, dass wir beim blinden Stapfen durch die Gegenwart nicht auf sie verzichten können. Aber wenn schon, dann lieber im 19. Jahrhundert suchen, sagt Clark: "1848, als ukrainische Patrioten im östlichen Teil der Provinz Galizien eine beschränkte Autonomie innerhalb des Habsburgerreiches forderten, wurden sie - damals von den Polen - mit dem Argument abgewiesen, die Ukrainer seien eigentlich Polen, ihre Nationalität sei erst jüngst durch die Staatskunst der Österreicher erfunden worden - und so weiter. Auch das ist eine Eigenart des Nationalismus: Er ist imstande, die eigene Nation feierlich als heiliges Erbe aus tiefster Vergangenheit zu empfangen und gleichzeitig die des Nachbarn oder Konkurrenten als willkürliches Konstrukt abzutun."
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Stichwörter: Clark, Christopher, 1848