9punkt - Die Debattenrundschau

Die Unaufrichtigkeit der Mehrheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.06.2022. Der Supreme Court hat das Recht auf Abtreibung gekippt. Die Entscheidung war erwartet, dennoch stehen die USA unter Schock. In den ersten Bundesstaaten sind die Abtreibungsverbote schon in Kraft getreten. Die NYTimes weiß gar nicht, wessen Würde stärker verletzt wurde: die der Frauen oder die des Rechts. Der Meister der Demütigung bleibt aber Wladimir Putin, betont Ivan Krastev in der taz. In der SZ erklärt der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko, wie man Fernsehsender zum Kooperieren bringt. Und in der NZZ rät John Gray, von den Katzen zu lernen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.06.2022 finden Sie hier

Politik

Wie erwartet hat der Oberste Gerichtshof der USA das Recht auf Abtreibung gekippt, das bisher Frauen bis mindestens zur 24. Woche die freie Wahl ließ. Das Land ist im Schock. In der New York Times sagt Adam Liptak voraus, dass diese historische Entscheidung das gesamte amerikanische Leben verändern wird, nicht nur die Politik. In acht Bundesstaaten traten unmittelbar nach der Bekanntgabe der Entscheidung Abtreibungsverbote in Kraft, weitere werden in den nächsten Tagen folgen: "'Hiermit wird eine extreme Ideologie in die Realität umgesetzt, der Supreme Court macht einen tragischen Fehler', erklärte Joe Biden. Das Urteil wird die Legitimität des Gerichts in Frage stellen, es folgt dem jahrzehntelangen Versuch der Republiker, konservative Richter einzusetzen, um die bisherige Regelung zu kippen, die mehrfach von früheren Gerichten bestätigt worden war. Es wird das beachtliche Vermächtnis von Präsident Donald Trump sein."

Das Gericht folgte im Wesentlichen der Argumentation von Richter Samuel Alito, die bereits im Mai geleakt worden war und derzufolge das einst brahnbrechende Urteil Roe vs. Wade grundfalsch gewesen sei (unser Resümee). In ihrem Leitartikel sieht die NYTimes mit der jetzigen Entscheidung die Würde der Frauen und des Rechts gleichermaßen verletzt: "Der Mehrheitsmeinung zufolge ist das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch nicht 'tief in der Geschichte und Tradition der Vereinigten Staaten verwurzelt' - einem Land, dessen Verfassung von einer kleinen Gruppe wohlhabender weißer Männer geschrieben wurde, von denen viele Sklaven besaßen und von denen die meisten, wenn nicht sogar alle, Frauen als Bürger zweiter Klasse ohne Mitspracherecht in der Politik betrachteten. Die drei Gegenstimmen - die Richter Stephen Breyer, Sonia Sotomayor und Elena Kagan - rügten die Unaufrichtigkeit der Mehrheit und wiesen darauf hin, dass ihre äußerst enge Definition von 'tief verwurzelten' Rechten eine Bedrohung für weit mehr als die reproduktive Freiheit darstellt. Dass die Mehrheit dies leugne, sei unmöglich zu glauben, schreiben die Abweichler: 'Entweder glaubt die Mehrheit nicht wirklich an ihre eigene Argumentation. Oder wenn sie es tut, stehen alle Rechte, deren Geschichte nicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, auf der Kippe'."

Für Mary Ziegler erschüttert die Entscheidung auch ihr Verständnis von Recht und Fortschritt, wie sie in Atlantic schreibt: "Niemand sollte seine Rechte für gegeben halten. Es ist unmöglich, mit Sicherheit vorherzusagen, welche Rechte, wenn überhaupt, wann wegfallen werden. Das Urteil Dobbs gegen Jackson Women's Health Organization erinnert uns jedoch eindringlich daran, dass dies geschehen kann. Rechte können verschwinden."
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Europa

Der Westen wird sich darauf vorbereiten müssen, dass Russland die Gebiete Luhansk und Donezk annektieren wird, sobald es sie erobert hat, meint der Politikwissenschaftler Ivan Krastev im Interview mit Ralf Leonhard in der taz über mögliche weitere Entwicklungen des Krieges: "Putin war immer ein Experte für Demütigungen. Dabei hat er etwas übersehen. Der heftige Widerstand der Ukraine gegen die Invasion ist gewissermaßen eine Reaktion auf die Demütigung, die die Ukraine erfahren hat, weil sie sich 2014 gegen die Invasion der Krim nicht gewehrt hat. Es waren rund 20.000 ukrainische Soldaten dort stationiert, aber die Armee war total demoralisiert. Russland konnte also die Krim annektieren, ohne einen einzigen Soldaten zu verlieren. Deswegen ist es heute so wichtig für die Ukraine, die Rückeroberung aller verlorenen Gebiete als Ziel zu definieren. Für den Westen bedeutet eine Niederlage Russlands, dass Putin oder das autoritäre Russland keinen weiteren Krieg auf europäischem Boden mehr führen kann. Wir sprechen von einem konventionellen Krieg, keinem Atomkrieg. Für Putin ist es schwieriger, einen Sieg zu definieren. Die Annexion des Donbass um den Preis von mehr als 30.000 russischen Leben und Wirtschaftssanktionen, die das Land weiter isolieren?"

Im SZ-Interview mit Florian Hassel erklärt der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko, warum er alle russische Musik und Literatur von 1991 an aus der Ukraine verbannen will und wie die Kiewer Regierung die verschiedenen Fernsehsender auf Linie gerbacht hat: "Am zweiten Kriegstag riefen Chefs von Fernsehsendern an und sagten, wir müssten die Berichterstattung während des Krieges koordinieren. Jede Redaktion blieb unabhängig, aber die sechs Sender sprechen sich bei der Berichterstattung ab und wechseln sich alle sechs Stunden auf dem Sender ab. Das sorgte für ein echtes, offizielles Bild dessen, was passierte. - Warum durften die Sender nicht einfach weiterarbeiten? - Weil es im Krieg eine Regel gibt: Entweder gibt es Militärzensur oder eine andere Lösung, die wir gefunden haben, eine gütigere Lösung … - Zensur light? - Ich denke, es ist Kooperation."

Außerdem sollen Straßen und Plätze in der gesamten Ukraine ihre russischen Namen verlieren, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ, woran sich die Bevölkerung per App beteiligen kann: "Das trifft nicht nur Namen aus der sowjetischen Nomenklatura und Alt-Kommunisten, sondern auch Dichter und Denker, selbst Flüsse und Städte. Der Leo-Tolstoi-Platz soll, wenn es nach dem Vorschlag einer Expertenrunde geht, die alle Vorschläge - die eigenen und die aus der Bevölkerung - einer Prüfung unterzieht, künftig 'Platz der Helden der Ukraine' heißen. Die Moskowska Straße wird zur Straße der Kniaziv Ostrovskykh, einer polnisch-litauischen Dynastie, die sich um die ukrainische Kultur und Staatlichkeit verdient gemacht hatte. Die Piterska (St.Petersburger) Straße wird zur Londonska."
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Medien

Die großen medialen Schlachten finden nicht im russischen Staatsfernsehen statt, sondern auf Youtube, erfährt SZ-Autor Andrian Kreye in einer Studie der beiden exilrussischen Experten Andrei Soldatov und Irina Borogan für die Friedrich-Naumann-Stiftung. Der Kreml scheue davor zurück YouTube zu verbieten, wo etwa Alexej Nawalny ein Millionenpublikum erreiche, weil dort auch Russia Today sende: "Fast alle erfolgreichen sozialen Medien des so verhassten Westens haben inzwischen russische Alternativen. Es gibt drei TikTok, drei Whatsapp- und vier Youtube-Alternativen. Die heißen dann Klippi, Yappi oder Yandex. Das erinnert an die Verstaatlichung der McDonalds-Filialen mit dem etwas autoritären neuen Namen 'Lecker und Punkt' oder an fernöstliche Markenklone. Und wenn Russlands Interview-Star Yuri Dud ein Konto bei der Youtube-Alternative Yandex eröffnet und dort nur 1642 Abonnenten hat, auf Youtube aber zehn Millionen? Schadenfreude. Gerade weil Dud regelmäßig Nationalisten in die Schnappatmung treibt. Den im April verstorbenen Rechtsextremen Wladimir Schirinowski hatte Dud einst gefragt, warum dessen Wahlkampfvideos immer aussehen wie Schwulenparties."
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Ideen

And now to something completely different: John Stuart Mill wollte lieber als unzufriedener Mensch leben denn als zufriedenes Schwein. Im Interview mit Claudia Mäder in der NZZ widerspricht der britische Philosoph John Gray solchen Anflügen humaner Überheblichkeit: Mill verstand nichts von Katzen und nichts vom Glück: "Mill glaubte, dass das Glück für die Menschen im Bereich des Intellekts oder der Moral liegt. Er verstand Glück nicht als Gefühl oder als sinnliche Empfindung, sondern als Lebensform, in welcher der Mensch seine besten Anlagen entfaltet. Das Leben eines Schweins hat er nie gelebt, nur schon darum halte ich nichts von seiner Aussage. Zudem bin ich absolut nicht überzeugt davon, dass moralische und intellektuelle Freuden uns Menschen die meiste Zufriedenheit geben im Leben. Eher könnten wir hier einiges von den Katzen lernen: Das reine Gefühl, am Leben zu sein, das Leben zu erfahren, es zu spüren, sorgt bei ihnen für Behagen. Für uns kann Glück zwar nicht allein in diesem Gefühl bestehen. Aber mehr katzenartiges Glück könnte uns insgesamt nur guttun."
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