Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2003. Die NZZ annonciert das Ende des amerikanischen Imperiums. In der FAZ schildert Götz Aly die traditionell guten Beziehungen zwischen Deutschland und dem Irak. Der taz fehlt in der Neuübersetzung von Salingers "Fänger im Roggen" ein Satz. Die FR unterhält sich mit einem Veteranen des letzten Golfkriegs. Die SZ meldet die Rückkehr der jüdischen Weltverschwörung an den deutschen Stammtisch.

NZZ, 07.04.2003

Der amerikanische Hegemon mag im Zenit seiner Macht stehen, doch wie ein Jahrhundert zuvor die Briten leitet er gerade, meint Urs Schoettli, den Anfang vom Ende seiner angestrebten Weltordnung ein. "Woran wird die Pax Americana scheitern? Zwei Faktoren, die aus dem Untergang von früheren unilateralen Weltordnungen bekannt sind, stehen im Vordergrund: die Maßlosigkeit des Machthungers und die unendliche Komplexität der Welt. Das Argument, dass eine so hoch entwickelte Gesellschaft wie die amerikanische eigentlich die Fähigkeit haben sollte, aus den offenkundigen Fehlern zu lernen, die den Sturz früherer Weltmächte verursachten, zielt an der wahren Natur des Sachverhalts vorbei. Das Streben nach Allmacht, nach Hegemonie hat eine Eigengesetzlichkeit, die sich dem vernünftigsten Planen entzieht. Es gleicht einem krebsartigen Geschwür, das sich auf einem Organismus ausbreitet und letztlich mit dessen Absterben selbst dem Untergang geweiht ist."

Roman Hollenstein unterhält sich mit dem Architekten Daniel Libeskind über dessen Entwurf für das neue World Trade Center: Auf die Frage etwa, ob er sich mit seinem Bezug auf Freiheit und Heldentum nicht zu sehr der offiziösen Lesart annähere, antwortet Libeskind: "Es geht darum, einen völlig anderen Ort zu denken - das Gegenteil der monolithischen, einseitigen und eingeschränkten Zustände der Vergangenheit. Wenn ich in meinem Projekt Bezug nehme auf Freiheit, Demokratie und Heldentum, so will ich damit nicht den Fundamentalisten der Rechten gefallen. Diese Ideale gehören mir. Ich liebe Amerika, ich liebe, was dieses Land verkörpert und wofür es steht."

Weitere Artikel: Paul Jandl berichtet etwas befremdet von den 33. Rauriser Literaturtagen: "Keine Einleitung zu den Lesungen, die nicht mit Betulichkeit das Gefühlsreservoir des Dichtens beschwört. Das macht die Schriftsteller wehrlos." Zufrieden zeigt sich Gerda Wurzenberger dagegen mit der Kinderbuchmesse in Bologna, die ihren Schwerpunkt diesmal auf Polen gelegt hat.

Besprochen werden ein fast vollkommenes "Schöpfungs"-Oratorium mit Nikolaus Harnoncourt beim Luzern Festival, Sergi Belbels Stück "Die Zeit der Plancks" in Wien und Ralf Grünwalds Inszenierung der "Troerinnen" in St. Gallen.

SZ, 07.04.2003

Von der Renaissance der jüdischen Weltverschwörung berichtet Richard Chaim Schneider, jedenfalls an deutschen Stammtischen. Die Juden stecken hinter allem, weiß er jetzt, und dem Irak-Krieg im Besonderen. Die deutsche Regierung ist als Nächstes dran. "Natürlich - können wir es kaum erwarten, dass über dem Reichstag wie auch auf dem Brandenburger Tor der Davidstern stolz in der 'Berliner Luft' flattert! Was für ein erhebendes Gefühl! Welch großartige Vorstellung! Jawohl - die Koscher Nostra existiert. Hütet euch vor uns. Wir sind ein mächtiger Geheimbund, vor dem man sich in Acht nehmen muss. (...) Nur komisch, dass ich auch nichts davon wusste. Ich denke, ich muss mal ein ernstes Wort mit unserem Paten reden."

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp informiert uns im darauffolgenden Interview, was für eine Strategie hinter den neuen Bildern des Krieges steckt. "Was jetzt versucht wird, ist eine Beseitigung der verräterischen Glanzes der Simulation durch den Schein einer authentischen Beteiligung - mit ihrem Staub, ihrem Schlamm, aber auch dem Rausch des Schwimmens durch das nächtliche Wüstenmeer. Es sind bestimmte politische Interessen, auch philosophische Interessen von Seiten der Straussianer... " Also doch, eine Verschwörung!

Weitere Artikel: Thomas Urban schildert die Debatte unter polnischen Intellektuellen, die sich fragen, ob nicht der westliche Pazifismus schon immer die fünfte Kolonne der Diktatoren dieser Welt war. Petra Steinberger denkt über den Weg des amerikanische Militärs nach, dessen politische Orientierung, den steigenden Frauen- und Fremdenanteil sowie die wachsende Kluft zur intellektuellen Elite. "jby" hat wenig Verständnis für den Berliner Kardinal Georg Sterzinsky, der etwas unreflektiert mit dem Boykott amerikanischer Waren sympathisiere. Stefan Koldehoff klärt uns auf, warum in Köln so große Aufregung um die Oskar-Mazerath-Skulptur des italienischen Bildhauers Maurizio Cattelan (Werke ansehen, Werke kaufen) herrscht. Adrian Kreye weiß dank unermüdlicher Recherche vor Ort in seiner New Yorker Yankee Tavern, dass Amerika wohl bald wieder normal wird, da Baseball den Krieg als Gesprächsthema zu verdrängen beginnt. Fritz Göttler würdigt den Schaupieler und "Bel Ami" Willi Forst anlässlich dessen hundertsten Geburtstags. Thomas Thieringer gratuliert hingegen dem Film-, Theater- und Opernregisseur Johannes Schaaf zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Christoph Maria Fröhder in seinem Tagebuch aus Bagdad vom teuren Schlussverkauf in den letzten Tagen des Krieges. Annette Ramelsberger stellt in der Serie über Große Journalisten den Stern-Herausgeber Henri Nannen vor.

Besprochen werden Achim Freyers unkonventionelle Inszenierung der "Salome" an der Deutschen Oper Berlin, Philip Tiedemanns Version von Belbels surrealistischer Familienstudie "Die Zeit der Plancks" am Wiener Burgtheater, die etwas unscharfe "Art Deco"-Schau im Londoner Victoria and Albert Museum, Yo-Yo Mas grandioser Celloabend in München, Franz Wittenbrinks kurzweiliger "Sommernachtstraum" aus Aix-en-Provence in München, John Hendersons schwelgerische Soap Opera "Suche impotenten Mann fürs Leben", und viele, viele Bücher, darunter eine gewaltige wie obszöne Essaysammlung über Charlie Chaplin, Lukas Bärfuss' nekrophile Novelle "Die toten Männer" sowie Imre Kertesz' poetisches Drehbuch zum "Roman eines Schicksallosen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 11 Uhr).

FR, 07.04.2003

Joel Turnipseed war im ersten Golfkrieg Fahrer eines Nachschub-Bataillons. Im April erscheint sein "Baghdad Express: A Gulf War Memoir" in den USA. Mit Ute Thon spricht er über Regierungen, Kriegsgegner und die Moral in der Truppe. "Wir Soldaten haben damals oft gescherzt, dass wir den Krieg verpasst haben, weil wir in unseren Zelten kein CNN hatten. Wir bekamen Briefe von zu Hause, in denen stand, "Gott sei dank, dass unsere Patriot-Abwehrgeschütze alle Scud-Raketen abschießen", und zur gleichen Zeit sahen wir die feindlichen Raketen in nächster Nähe explodieren. Aus der persönlichen Perspektive betrachtet verpasst man wohl immer 90 Prozent des Krieges. Doch als ich zurückkam, hatte ich das Gefühl, der Krieg, den wir dort drüben ausgetragen hatten, wurde hier gar nicht gezeigt. Das ist ein Grund, warum ich mein Buch schreiben wollte."

Weiteres: Frank Keil erinnert sich angesichts von Pisa an seinen gloriosen Lehrer L. und die so notwendige Magie hinter der Pädagogik. "Er war old school, autoritär und gefürchtet, zuweilen gehasst, weil er brüllte wie ein Tier, wenn ihm etwas nicht passte." In Times mager kommentiert "luet'" die Gründung der Berliner Anti-Agentur Platoon, alles "Leute, mit denen nicht gut Sushi essen ist". Oliver Herwig möchte offensichtlich selbst gern im Münchner Tor (so soll es aussehen) wohnen, den von ihm vorgestellten und im Bau befindlichen 65-Meter-Turm, der ein wenig wie Mies van der Rohes Seagram Building aussieht. Gerhard Midding schreibt zum Hundertsten des Schauspielers und Filmregisseurs Willi Forst. Eine Meldung besagt, dass die 37-jährige Kamerafrau Janne Busse auf dem Filmfestival femme totale ausgezeichnet worden ist - als Nachwuchstalent.

Auf der Medienseite beklagt Martin Hecht, wie kritiklos die meisten seiner Kollegen mittlerweile die Sprache des Militärs übernommen haben. Die schwarzen Schafe seiner Zunft erinnert er an den alten Eid, den sie geleistet haben: "Trotz aller sachlichen Informationspflicht ein Ethos zu haben, mittels Aufklärung kein geringeres Gut als die Humanität in der Welt zu befördern, haben so viele heute in der quotengesteuerten Medienlandschaft vergessen."

Besprechungen widmen sich Michael Simons glänzender Version des Romans "Stadt aus Glas" von Paul Auster in Düsseldorf und Shawn Levys peinlicher wie enervierender Filmkomödie "Voll verheiratet".

TAZ, 07.04.2003

Andreas Merkel unterhält sich mit Eike Schönfeld, dem Übersetzer der neuen Ausgabe von J. D. Salingers "Fänger im Roggen". Und quält ihn lustvoll mit der unschuldig wirkenden Frage, ob es denn eine bewusste Entscheidung gewesen war, den legendären Satz "If I were a piano player, I'd play it in the goddam closet" einfach herauszulassen? Schönfeld: "Nein ? (schlägt in beiden Ausgaben nach, vergleicht, prüft mehrmals) Das gibts doch gar nicht! ? Das kann nicht sein. Das ist mir durchgerutscht. Und keiner hat's gemerkt! Dabei wurde extra noch ein zweiter Fahnensatz angefertigt und gelesen. Und dass das dann dennoch übersehen wurde, das ist richtig schlimm! Immer ist was!"

Die Kölner Galeristin Tina Schelhorn hat im Netz Fotos gegen den Krieg von 350 internationalen Künstlern zusammengestellt. Harald Fricke spricht mit ihr über ihren medialen Gegenentwurf zur Fernsehberichterstattung. Schelhorn mag die deutschen Sender in dieser Hinsicht überhaupt nicht, "das ist furchtbar, sehr einseitig, aber bei den anderen muss man sich nur den Querschnitt angucken, da finden sich gewaltige Unterschiede. Und wenn man schließlich bei den Fotoagenturen nachschaut, dann entdeckt man schon sehr gute Bildstrecken, die genau recherchiert sind. Nur frage ich mich manchmal: Wo tauchen die nachher tatsächlich in den Printmedien auf?"

Weitere Artikel: Selim Nassib führt sein al-Dschasira-Tagebuch weiter, diesmal klagt er über beiderseitige Propaganda und freut sich über den Sieg, den der Sender über die irakischen Behörden errungen hat. Detlef Kuhlbrodt sinniert über die deutsche Antikriegslandschaft, Deutschlandfahnen in Eckkneipen und Battles bei Big Brother.

Eine einsame Kritik befasst sich mit der Ausstellung über eine jüdische Familie und ihre Bronzegießerei im Berliner Jüdischen Museum.

Schließlich Tom.

FAZ, 07.04.2003

Dass den Deutschen nicht erst seit heute an einem guten Verhältnis zum Irak gelegen ist, erfährt man aus einem Artikel des Historikers Götz Aly (mehr hier und hier), der erzählt, wie die Nazis die Irakis und andere unterdrückte Völker von den Briten befreien wollten: "Die Deutschen formulierten das Unternehmen als Teil des antiimperialistischen Befreiungskampfes. Sie planten, die britische Kolonialherrschaft nach Kräften zu destabilisieren. Mahatma Gandhi gehörte schon lange zu den Heldenfiguren des Dritten Reiches. Die Iren betrachtete man in Berlin wie in London als fünfte Kolonne der Deutschen. Für die arabische Welt sah der Aida-Plan das 'Aufflammen der Aufstandsbewegung' vor: 'Politische Karte 'Arabertum' muss und kann ausgespielt werden, unter der Voraussetzung, dass auch militärische Macht im arabischen Raum zum Ansatz gebracht werden kann.'"

Weitere Artikel: Die Philosophin Dorothea Frede findet nur Schlechtes an den Plänen einer von Christoph von Dohnanyi geleiteten Kommission zur Reform der Hamburger Universität ("Angesichts all dieser Monita stellt sich die Frage nach dem Kenntnisstand der Diagnostiker und Therapeuten der Dohnanyi-Kommission.") Friedrich Niewöhner erzählt, dass die Lessingstraße in Tel Aviv wegen der Namensähnlichkeit mit der nach einem Publizisten Benannten Lessinstraße umbenannt werden soll. Dietmar Dath resümiert ein Berliner Symposion über den Mathematiker und Literaturwissenschaftler Andrej Andrejewitsch Markov. Christian Schwägerl fragt nach einem Symposion über die Zukunft Berlins, warum die Stadt nicht erkennt, dass ihre Zukunft in Forschung und Wissenschaft liegt. Andreas Rosenfelder hat beobachtet, wie Schüler in der Aula einer Kölner Fachhochschule ihre weiteren Friedensaktivitäten koordinierten.

Auf der letzten Seite erzählt der Schriftsteller Ilija Trojanow über seine Pilgerfahrt nach Mekka. Jürg Altwegg schildert das komplizierte Verhältnis zwischen Milan Kundera, der seit einiger Zeit auf französisch schreibt, und seinen französischen Kritikern - die "Unwissenheit" ist darum in Frankreich erst drei Jahre nach allen Übersetzungen erschienen. Gina Thomas stellt den britischen Bucherfolg der Saison vor, "Schott's Original Miscellany", eine populäre Enzyklopädie, in der man etwa die Liste der britischen Hoflieferanten einsehen kann. Auf der Medienseite stellt Alexander Bartl Mohammed Eshaq, den Chef des afghanischen Fernsehens vor. Siegfried Stadler präsentiert eine Studie, wonach das DDR-Fernsehen gar nicht so langweilig gewesen sei. Paul Ingendaay schildert, wie der Irak-Krieg die spanischen Medien polarisiert. Matthias Rüb meldet den Tod des ersten "eingebetteten" Journalisten im Irak-Krieg, des 46-jährigen freien Journalisten Michael Kelly, der unter anderem für Atlantic Monthly berichtete.

Besprochen werden Achim Freyers "Salome"-Inszenierung in Berlin, Sergi Belbels Stück "Die Zeit der Plancks" in Wien, Michael Simons Inszenierung der "Stadt aus Glas" nach Paul Auster in Düsseldorf, eine Ausstellung des religiösen Malers Kai Althoff im Diözesanmuseum Freising und eine Ausstellung über den Architekten Richard Meier als Designer in Frankfurt.