Efeu - Die Kulturrundschau

Neue Fenster, bitte!

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2022. Peter Handke wird achtzig. Die Feuilletons feiern seine Poesie, weniger seine Lust an der Provokation und seine Serbien-Obsession. Als Stück der Stunde feiert die NZZ Francesco Cavallis Oper über den queeren Kaiser Eliogabalo von 1667. Die FAZ bewundert die neue, für Licht und Menschen durchlässige Kunstakademie von Jerusalem. Der Filmdienst beobachtet den großen Paradigmenwechsel in der Filmkritik. Kino ist nicht mehr fürs Publikum, sondern für Akademiker. Pitchfork kürt seine besten Songs des Jahres.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2022 finden Sie hier

Bühne

Genderfluidity avant la lettre: Cavallis "Eliogabalo" an der Oper Zürich. Foto: Monika Rittershaus

Schlichtweg atemberaubend findet Christian Wildhagen in der NZZ Calixto Bieitos Zürcher Inszenierung von Francesco Cavallis Oper "Eliogabalo" von 1667. Es ist das Werk der Stunde: Der Monteverdi-Schuler Cavalli erzählt darin vom ersten offen queeren Kaiser des Römischen Imperiums, am Pult steht der russische Dirigent Dmitry Sinkovsky, die Titelpartie singt der ukrainische Countertenor Yuriy Mynenko: "Bei den Proben sei die Arbeit mit Sinkovsky kein Problem gewesen, versichern die Beteiligten, und genau diesen Eindruck gewinnt man auch bei der Aufführung: Durch das intensive Zusammenwirken mit dem Dirigenten wird Mynenko zum musikalischen Kraftzentrum, um das alle anderen Figuren wie Satelliten kreisen. Calixto Bieito, der Regisseur der Produktion, unterstreicht diesen Fokus, indem er der Rolle des Elagabal szenisch viele Aspekte hinzufügt, die der Librettist Aurelio Aureli zu seiner Zeit nicht zeigen konnte. Darunter die verbürgte Bisexualität des Kaisers, der sich ebenso mit zahllosen Frauen wie mit gut bestückten Soldaten vergnügt haben soll; seine Lust an Frauenkleidern, die er auch öffentlich trug; und schließlich sogar sein die Zeitgenossen bis aufs Blut provozierendes Spiel mit einer Trans-Identität avant la lettre, das hier gegen Ende in eine angedeutete Selbstkastration mündet. Das ist harter Tobak, keine Frage, beruht aber auf den einigermaßen gesicherten historischen Fakten."

Besprochen werden Tschaikowsky selten gespielte Oper "Die Zauberin" an der Oper Frankfurt (als reines Wunder feiert die SZ Asmik Grigorian in der Titelpartie, Tsp, FR, FAZ), Dostojewskis "Brüder Karamasow" am Münchner Volkstheater (Nachtkritik), René Polleschs Hommage auf Benno Bessons Arbeitertheater "Und jetzt?" an der Berliner Volksbühne (die "selbst den sauertöpfischsten Zuschauer Tränen lachen lässt", frohlockt Till Briegleb in der SZ), Virginia Woolfs "Orlando" als Gendertrouble-Stück am Londoner Garrick Theatre (SZ) und Wagners "Meistersinger" an der Wiener Staatsoper (Standard).
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Architektur

Die neue Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem. Foto: Sanaa

Der Entwurf einer Kunstakademie für Israel weckt das Interesse der FAZ. Der neue Campus der Bezalel-Akademie für Kunst und Design im Zentrum von West-Jerusalem stammt vom japanischen Architekturbüro Sanaa und ragt mit seinen lichtdurchflueteten Terrassen futuristisch aus der alten Stadt heraus, schwärmt Quynh Tranüber den Glaspavillon: "So offen die Architektur des neuen Campus ist, so sehr sie zum Dialog einlädt, so sehr schließt sie auch politische Herausforderungen ein. In einer immer weiter nach rechts driftenden Gesellschaft gehört Bezalelzu den liberalen Hochburgen des Landes mit einem fast einzigartig diversen Charakter. Lehrkräfte setzen sich immer wieder gegen die israelische Besatzung in den palästinensischen Gebieten ein. Die Studierenden kommen aus liberalen wie aus orthodoxen jüdischen Familien, es sind palästinensische Staatsbürger Israels darunter ebenso wie Siedler aus dem besetzten Westjordanland und Palästinenser aus Ost-Jerusalem. Mit dieser politischen Spannung, so berichtet Adi Stern, Präsident von Bezalel, müsse sich auch die Akademie jeden Tag auseinandersetzen."
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Literatur

Peter Handke wird 80 Jahre alt. Einen bei aller Empfindsamkeit des Schriftstellers literarischen Kontinent kaum in den Blick nehmbarer Ausmaße sieht Arno Widmann von der FR vor sich liegen. Und dann ist Handke auch noch ein Meister des Neologismus: Handkes neue Wörter sind "ungetüme Gesellen. Nur damit Sie sehen, was ich meine: Beweinungs-Notwendigkeit, Blütenballenübelkeit, Gras-Busch-Mauerreste-Steppenwinkel, Schlafwandlerexistenz, Wunscherfüllungsbedürfnis." Gerade dieser "'Gras-Busch-Mauerreste-Steppenwinkel' ist auch Stolperstein, der uns sagt: Hier war einmal eine Empfindung. Sie wurde ermordet. Hilflos erinnere ich an sie und hoffe, sie wieder erwecken zu können. Dieses Handke immer wieder beherrschende Begehren, alles in ein Wort zu pressen - ein Akt der Gewalt - wird begleitet von dem, einen einzigen Satz endlos zu dehnen. Er tut das nicht in kunstvoll konstruierten Fugen, sondern mehr im Stil von Steve Reich. Mit dem er in meinen Ohren deutlich mehr zu tun hat als mit den Beatles." Er "lebt in, mittels und dank seiner Literatur", hält denn auch Andreas Platthaus in der FAZ fest. Er ist "ein Beobachtungsschilderer. Montaigne ist eine feste Bezugsgröße, der große Meister der Introspektion. Handke aber dreht dessen Verfahren um: Sein Blick erforscht nicht das eigene Innere, sondern die Welt um sich - 'Neue Fenster, bitte! (in die alte Umgebung)' lautet eine für ihn charakteristische Forderung -, die sich dann jedoch zu eigen gemacht werden muss, um 'Weltgefühl' zu erzeugen."

Zu Handke gebe es in den letzten Jahren nur noch zwei sich an der serbischen Frage entflammende, unversöhnlich gegenüber stehende Positionen, stellt Andreas Bernard in der SZ fest. Er schlägt stattdessen vor, auf den Zusammenhang zwischen Poetik und Politik in Handkes Werk zu blicken. Handkes seit den Siebzigern beobachtbarer Rückzug aus Betrieb und Tagesgeschäft ist für ihn dabei ein Schlüssel: "Die provokative Lust Handkes, es in den Debatten um die Jugoslawienkriege mit der gesamten publizistischen Öffentlichkeit aufzunehmen, und seine in den Neunzigerjahren bereits eingespielte Poetik des Rückzugs, der Naturidylle, der Versenkung in Baum- und Pilzbeschreibungen können nicht voneinander getrennt werden. Sowohl die politische Haltung, in der die Geste der Selbstisolation das konkrete Anliegen womöglich überlagert, als auch die Austreibung der Gegenwart aus der Gegenwartsliteratur (mit wenigen Ausnahmen wie dem 'Versuch über die Jukebox' von 1990) führen auf jene Abkehrbewegung in den Siebzigerjahren zurück, in denen die Allianz zwischen Introspektion und Konfrontation mit der sozialen Umgebung auseinandergebrochen ist."

Auch Paul Jandl kommt in der NZZ auf Handkes Serbien-Obsession zu sprechen: "Serbien ist für Handke eine Allegorie. Er, der in den österreichischen Randzonen zum Slawischen aufgewachsen ist, verwandelt schreibend eine Landschaft in etwas urwüchsig Gutes, indem er die Politik daraus verschwinden lässt. Dass seine Selbstverzauberung ein Trick mit realen Konsequenzen ist, hat Handke möglicherweise selbst erstaunt. Als öffentliche Person und auch noch als Nobelpreisträger an seinen fragwürdigen Meinungen festgehalten zu haben, ist Teil eines beratungsresistenten Trotzes und eines ästhetischen Programms."

Derweil bleibt Handke ungebrochen produktiv. Drei Bücher sind allein 2022 erschienen, die Peter Kümmel für die Zeit liest: "Als hätte sein ganzer Ruhm, als hätte selbst der Umstand, dass er Nobelpreisträger ist, ihn gar nie erreicht, besitzt er noch immer die auf den nächsten Moment angewiesene Wahrnehmungsgabe und die von keiner Resignation der Sinne getrübte 'Durchlässigkeit' eines jungen Mannes." Es "eint sie der Wille, der aus ihnen spricht, die Lust am Hinterlassen und Lesen von Spuren. Und man begreift, dass der Kampf um 'die Stunde der wahren Empfindung' (noch so ein berühmter Handke-Titel) - also um das gerechte, vielleicht sogar glückliche Auf-der-Welt-Sein - niemals endet." Der Schriftsteller Leopold Federmair erzählt im Standard von Begegnungen mit Handke, die mal stattgefunden haben, mal nicht. Außerdem legt der Standard sechs Zugänge zu Handkes Werk.

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die FAZ dokumentiert Jan Faktors Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Maja Beckers resümiert für ZeitOnline das Sachbuchjahr 2022.

Besprochen werden unter anderem Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (Welt, unsere Kritik), eine Neuausgabe von Héctor Germán Oesterhelds und Hugo Pratts Comic "Ernie Pike" (taz), Keito Gakus Comicserie "Boys Run the Riot" (Tsp), Gerhard Ringshausens Studie: "Das widerständige Wort. Christliche Autoren gegen das 'Dritte Reich'" (SZ), Friedrich Wilhelm Grafs Biografie über den Politiker und Theologen Ernst Troeltsch (online nachgereicht von der FAZ) und Andrea Giovenes "'Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero'. Ein junger Herr aus Neapel" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Die alle zehn Jahre von Sight & Sound nach Kritikerumfragen erstellte Liste mit den 100 besten Filmen aller Zeiten sorgt mit dem neuen und unerwarteten Spitzenreiter - Chantal Akermans "Jeanne Dielman" - weiter für Aufregung im Filmkritikermilieu (unser Resümee). Paul Schraders auf Facebook veröffentlichte und ziemlich wadenbeißige Kritik, dass der Film nun künftig nicht "als wichtiger Film in der Geschichte des Kinos, sondern auch als Meilenstein einer verzerrten, woken Neubewertung" gelten werde, hält Daniel Kothenschule im Filmdienst im wesentlichen für substanzlos. Bei ihm überwiegt die Freude über die Auszeichnung für eine Zeit ihres Lebens zu wenig beachtete Filmkünstlerin: "Es schmerzt, wann immer bedeutende Künstlerinnen oder Künstler erst posthum Anerkennung finden - während doch ständig irgendwo Filmpreise überreicht werden. Aber vielleicht hat gerade deshalb eine solche Kritiker:innen-Umfrage jenseits aller roter Teppiche eine andere Bedeutung. Was Paul Schrader - und etliche cinephile Kritiker dieser Entscheidung wohl tatsächlich erzürnt, ist ein Paradigmenwechsel. Die Deutungshoheit über Qualität im Film könnte sich von der klassischen Filmkritik in Richtung einer akademisch sozialisierten Kunstöffentlichkeit verlagern. Damit einher geht die Befürchtung einer Abwertung der unterhaltenden Spielarten der Filmkunst - wie ja schon bei Festivals das Genrekino oder leichte Komödien nur selten Preise gewinnen. Rückenwind bekommt diese Sorge von der gegenwärtigen Kinokrise: Wenn kommerzielle Filmtheater schließen, weil ihnen die Zuschauer in Richtung der Streamingdienste abwandern, könnten am Ende nur noch Museumskinos übrigbleiben - die dann den Vorlieben des Kunstbetriebs untergeordnet würden."

Medienabenteuer mit Bösewichen: "She Said" von Maria Schrader

NZZ-Kritikerin Nadine Brügger ist ziemlich unzufrieden mit Maria Schraders "She Said" über die Aufdeckung von Harvey Weinsteins sexuellen Übergriffen. Die gleichnamige Buchvorlage der beiden Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kantor lüftete noch minutiös die Strukturen des Schweigekartells, das Weinstein gedeckt hatte, der "Film hingegen schaut vor allem den Journalistinnen bei der Arbeit zu. Dadurch wird aus der Systemkritik ein Medienabenteuer. Ein Krimi, angetrieben von Geheimnissen, Kampfgeist und klar erkennbaren Bösewichten. ... Zu sehen sind glückliche Zufälle, ohne die der Artikel niemals hätte geschrieben werden können. Konspirative Treffen, die sich an rasante Autofahrten und hektische Telefonate reihen."

Weitere Artikel: Andrey Arnold spricht für die Presse mit den Betreibern des neuen, ehrenamtlich betriebenen Filmverleihers Kinema21, der mit Genre-Querschlägern ein junges Publikum wieder für das Kino begeistern will. Die Agenturen melden, dass die Schauspielerin Kirstie Alley nach kurzer Krankheit gestorben ist.

Besprochen werden Mia Hansen-Løves "An einem schönen Morgen" mit Léa Seydoux (online nachgereicht von der FAS) und Kurdwin Ayubs Komödie "Sonne" (Jungle World, mehr dazu hier).
Archiv: Film

Kunst

Die Ausstellung über Expressionismus am Folkwang öffnet der FAZ die Augen für das Kleingedruckte. Hubert Spiegel konzentriert sich in seinem Artikel auf den Grundstock des Hauses, das 1922 noch in Essen residierte und vom Sammler Karl Ernst Osthaus stammt, der eine Vorliebe für die heutigen Klassiker der Moderne hatte. "'Entdeckt - Verfemt - Gefeiert', so der Titel der gut durchdachten Ausstellung zum Jubiläumsjahr, zeigt etwa 250 zum Teil großartige Kunstwerke, von Munch bis Münter, von Lehmbruck und Barlach bis Schiele. Aber im Zentrum steht das wechselvolle Schicksal des Expressionismus als einer Strömung, mit der das Museum auf eine geradezu existenzielle Weise verknüpft war. Bereits im Sommer 1933 wurde Ernst Gosebruch, der als vormaliger Direktor des Essener Kunstmuseums den von Osthaus eingeschlagenen Weg weiter verfolgt hatte, aus dem Amt gedrängt und durch Klaus von Baudissin ersetzt, der die Nationalsozialisten bei der Beschlagnahmeaktion von 1937 tatkräftig unterstützen sollte. In einem der Nebenräume der Ausstellung sind Auszüge aus der Liste der beschlagnahmten Kunstwerke zu sehen, eine ganze Wand füllend, ins Gigantische vergrößert. Der Effekt ist erstaunlich: Das Dokument selbst ist völlig unscheinbar, aber die Vergrößerung führt die unheimliche Macht einer Bürokratie vor Augen, die Urteile nicht fällt, sondern vollstreckt und nicht selten in Form von Listen kodifiziert, um sich des Vollzugs zu rühmen."

Weiteres: Im FR-Interview mit Lisa berins spricht Schirn-Direktor Sebastian Baden über die Arbeit am Kanon, Identitätspolitik und Klimaaktivismus: "Das Festkleben an Kunstwerken würde ich mit einem Begriff aus meiner Dissertation als 'Mindbomb' beschreiben, einen Akt zur Aufmerksamkeitsgewinnung durch Guerillatechniken. Allerdings zeigen die Attacken auf das Kulturgut eine Missinterpretation vonseiten der Klimaaktivist:innen; denn sie greifen damit keine Gegenposition an." In der taz berichtet Ulrich Gutmair von einer Berliner Tagung zum Antisemitismus auf der documenta 15, auf der etwa Doron Kiesel angesichts der neuen Fokussierung auf koloniale Verbrechen die Frage aufwarf, ob es für Deutsche bequemer sei, sich in ein gesamteuropäisches Versagen einzuordnen?
Archiv: Kunst

Musik

Pitchfork kürt die hundert besten Songs des Jahres. Auf Platz Eins:



The Quietus gibt derweil nicht nur die zwanzig besten Metal-Alben (ganz vorne wird es naturgemäß sehr laut), sondern auch allgemein die hundert besten Alben des Jahres bekannt. Die Spitzenreiterin:



Besprochen werden das neue Sterne-Album "Hallo Euphoria" (FR), Haftbefehls neues Album "Mainpark Baby" (Tsp), das Debütalbum von Alte Kinder (Standard), ein Auftritt der brasilianischen Musikerin Rosalía (taz, Tsp), ein Konzert von Mitsuko Uchida mit dem London Symphony Orchestra unter Simon Rattle (Standard) und neue Popveröffentlichungen, darunter Lee Fields' "Sentimental Fool" ("ein ewiger Leider, aber mit Stil", schreibt Karl Fluch im Standard).

Archiv: Musik
Stichwörter: Metal, Rattle, Simon