Efeu - Die Kulturrundschau

Alte Räume und neue Zeiten

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05.03.2021. Die Filmkritiker feiern auf der Berlinale Maria Speths Doku über "Herrn Bachmann und seine Klasse". Warum hat die Berlinale eigentlich noch Sektionen, fragt Artechock. In der nachtkritik ermuntert Sebastian Hartmann die Theater zum Sprung ins Netz. Die SZ schwärmt vom kalifornischen Stil des Architekten Werner Düttmann, der dieses Jahr Hundert wird. Van polemisiert gegen Wohlfühl-Klassik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.03.2021 finden Sie hier

Film

Lauter Potenzial: die Klasse von Herrn Bachmann

Maria Speths im Berlinale-Wettbewerb gezeigte, fast vierstündige Dokumentation "Herr Bachmann und seine Klasse" über einen Lehrer und seinen engagierten, auch mal mit Hard Rock unterfütterten Unterricht in einer Klasse, deren Schüler fast ausschließlich aus Familien mit Migrationsgeschichte stammen, entpuppt sich als echter Festivalliebling: Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche bescheinigt dem Film beste Bären-Aussichten. "Die Pädagogik von Speths Film erklärt sich eher implizit, in der Pragmatik des Erziehers, an dem ein Filmstar verlorengegangen ist." Er "will aus den Kindern gute Menschen machen, inklusive Mathe und Grammatik - und nicht zuerst gute Deutsche. Genau deswegen gibt es gerade auch keinen schöneren, klügeren Film über Deutschland im Jahr 2021." Auch Anke Leweke ist auf ZeitOnline entzückt: "Dieser Film verwandelt einen Klassenraum in eine Weltbühne, macht die Schülerinnen und Schüler zu Stars auch ihres eigenen Lebens." Und Patrick Wellinski schwärmt im Dlf Kultur: "Die Utopie, die Regisseurin Maria Speth mit ihrer klugen Kamera einfängt, ist eine der Perspektive: Herr Bachmann sieht in seinen Schülern nicht die Probleme, sondern nur ihr Potenzial."

Für was gibt es bei der Berlinale eigentlich noch Sektionen, fragt sich auf Artechock Dunja Bialas, der es immer willkürlicher erscheint, unter welchem Binnen-Label das Festival einen Film präsentiert: "Alles wird schön in der Horizontale gehalten, ist permutativ, als Sektion, ein Bäumchen-wechsel-dich. Allerdings kann ich nun auch im zweiten Jahr der neuen Berlinale-Leitung und nach drei Tagen Sichtung beim besten Willen nicht sagen, was die Kriterien sein könnten, die Filme auf die verschiedenen Sektionen zu verteilen. Cristina Nord hatte als neue Forumsleiterin letztes Jahr gleich zwei Filme von Radu Jude im Programm, diesmal läuft er im Wettbewerb, auch wenn ich ihn mir im Forum ebenfalls sehr gut hätte vorstellen können. Für den Wettbewerb ist er eigentlich zu sehr aus dem Handgelenk geschüttelt - falls das ein Kriterium sein sollte."

Mehr von der Berlinale: Welt-Kritikerin Cosima Lutz berichtet von reicher Ausbeute auf diesem Festival: "Frauen errichten und erkunden auf dieser Berlinale so auffallend oft alte Räume und neue Zeiten, dass einem beinahe schwindelig werden könnte." Bert Rebhandl berichtet in der FAZ von seinen Streifzügen durch die Woche der Kritik, die die Berlinale auch in diesem Jahr flankiert (und deren Filme online auch vom Publikum gesehen werden können). Kathleen Hildebrand (SZ), Dominik Kamalzadeh (Standard) und Daniel Kothenschulte (FR) führen durch die Filme des Wettbewerbs der letzten Tage. Andreas Kilb spekuliert in der FAZ über die Bären, die heute bekannt gegeben werden - und könnte sich eine Auszeichnung für "Ballad of a White Cow" des iranischen Regieduos Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam ziemlich gut vorstellen.

Weitere Artikel: Angelika Nguyen erinnert im Freitag daran, dass zwar in der BRD unter der Regie von Margarethe von Trotta ein Film über Rosa Luxemburg entstehen konmte, in der DDR hingegen nicht.
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Design

In der NZZ stellt Franziska Müller-Reissmann neue Ideen für kompostierbare Kleidung vor, die leider noch nicht sehr ausgereift wirken. Dabei wäre das dringend nötig: "Der Sektor gilt nicht nur als einer der Hauptverursacher von CO2 und Mikroplastik in der Umwelt, sondern auch als Wasserverschlinger gigantischen Ausmaßes: 8000 Liter werden allein für eine einzige Jeans gebraucht. Und immer häufiger berichten die Medien von prekären Arbeitsbedingungen in Kleiderfabriken und von toxischen Chemikalien, welche von dort aus in Böden und Gewässer fließen."
Archiv: Design

Bühne

Regisseur Sebastian Hartmann spricht im Interview mit der nachtkritik über seine Livestream-Inszenierung von Thomas Manns "Zauberberg", den Inszenierungsstau an deutschen Bühnen und wie man das Internet positiv fürs Theater nutzen könnte: "Letztendlich ist es ein Bild, und innerhalb eines Bildes kann sich physische Präsenz übertragen. Es tut mir leid, wenn ich in diesem Zusammenhang Fußball nennen muss: Aber wir gucken gern Fußball im Fernsehen, auch wenn wir natürlich lieber ins Stadion gehen, zumal beim 1. FC Union, wo die Atmosphäre außergewöhnlich ist. Eventuell könnte das Theater sowas auch für sich beherrschen, wenn es versuchen würde, die Erotik so weit zu spannen und die von Ihnen anmoderierte Kälte des Internets zu vergessen und den Liveaspekt in den Vordergrund zu stellen, sodass der Zuschauer sagt: Das würde ich auch gern vor Ort sehen. ... In den letzten 20 Jahren ist Video im Theater eine relevante Kunstform geworden. Bis zur kleinsten Bühne sind Kameras, ob nun sinnbehaftet oder nicht, durch die Gegend geschoben worden. Jetzt braucht es nur den Sprung ins Netz."

Weiteres: Die nmz gibt Streamingtipps für die nächsten sieben Tage. Besprochen werden eine neue Choreografie von Sasha Waltz zur Minimal Music von Terry Riley (Tsp) und Marcus Richardts und Lillian Rosas Doku "Das Haus der guten Geister" über die Staatsoper Stuttgart unter Jossi Wieler (FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Die Hansa-Bibliothek von Werner Düttmann. Foto: Fidolin freudenfett, unter CC-Lizenz


In der SZ schreibt Peter Richter zum hundertsten Geburtstag des Architekten Werner Düttmann, der neben Wohnsilos im Märkischen Viertel auch die Berliner Akademie der Künste und das Brücke-Museum gebaut und dabei für Berlin ganz untypische Seiten gezeigt hat: "Seine Bücherei im Hansaviertel ist im Grunde ein gläserner, kalifornischer Bungalow rund um einen Patio, in dem zur Eröffnung - Fotos zeigen das - sogar Butterfly Chairs als Lesesessel aufgestellt waren, die man sonst damals vor allem in der Design-Abteilung des MoMA finden konnte." Aber auch der Mann selbst konnte sehr kalifornisch sein: "Kaum ein Foto, das Düttmann nicht mit rauschhaftem Vergnügen bei der Arbeit oder bei Festlichkeiten zeigt, und zwar so, als wäre er ein assoziiertes Mitglied des Rat Pack um Frank Sinatra und Dean Martin: Während viele seiner Berufskollegen einen grundsatzschwarzrollkragigen Habitus des fortwährenden Wehleidens an Welt und Baukultur kultivierten, sah dieser Architekt auf Aufnahmen oft genug aus, als würde er gerade mit einem Whiskeyglas in der Hand eine Showtreppe heruntertanzen."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Together!" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, die kollektive Wohnformen vorstellt (taz).
Archiv: Architektur

Kunst

David Ostrowski "So kalt kann es nicht sein", Installationsansicht Sprüth Magers Berlin, 2021. Foto: Ingo Kniest / Courtesy David Ostrowski und Sprüth Magers


Im Interview mit Monopol spricht der Künstler David Ostrowski über seine neuen Arbeiten, die derzeit in der Galerie Sprüth Magers betrachtet werden können, und die Rolle, die die Farbe "neutralgrau" dabei spielt: "Grau erschien mir als logische Konsequenz, den malerischen Nullpunkt weiter auszuloten. Das fand ich aber erst mit der Zeit heraus. Zunächst malte ich ein paar kleinere Formate grauer Bilder mit größeren Entstehungsabständen. Es fiel mir schwer, einen Zugang zu den Arbeiten zu finden - so als würde mir die Türe vor der Nase zugeschlagen. Grau ist ein Farbton, der aus sich heraus keine Tiefe erzeugt. Er bedeckt, ist geschlossene Fläche. Wenn man die grauen Bilder zum ersten Mal sieht, wirken sie monochrom, das Bild kommt von hinten, es schleicht sich langsam an. Für mich lag der Reiz im Herauskitzeln, was noch geht."

Weiteres: In der taz stellt Sabine Weier ein ein internationales kunsthistorisches Projekt vor, dass den Zusammenhang von Expressionismus und Kolonialismus untersucht. Daran beteiligt ist auch das Brücke-Museum in Berlin. Direktorin Lisa Marei Schmidt will ihr "Museum dekolonisieren. Diskussionen im Team und mit der Öffentlichkeit, sollen zu diskriminierungskritischen Perspektiven auf bisherige kuratorische Praktiken, Ausstellungstexte, die Onlinesammlung und Formen der Kollaboration beitragen, heißt es im Projektexposé. Der Senat hat die Finanzierung schon zugesagt." Bei Hyperallergic untersucht Johanna Sluiter die verführerische Misogynie Man Rays anlässlich einer Ausstellung im Pariser Musee du Luxembourg.
Archiv: Kunst

Literatur

In Ungarn gehen Rechte und Nationalkonservative auf die Barrikaden, weil sich dort das Kinderbuch "Meseország mindenkié" (auf Deutsch: "Märchenland für alle") mit ihrer Ansicht nach viel zu queerem und antirassistischem Inhalt seit Monaten hartnäckig an der Spitze der Bestsellerlisten hält. Wenn man in Kristina Kocybas von der Zeit leider verpaywalltem Bericht liest, was sich dort abspielt, schmurgelt die hiesig gescholtene "Cancel Culture" zur lauen Meinungsverschiedenheit zusammen: "Kurz nach dem Erscheinen im September wurde das Buch von einer Politikerin der rechtsradikalen Partei Mi Hazánk, einer Absplitterung der Jobbik, auf einer Pressekonferenz öffentlich geschreddert. Die ultrakonservative Gruppierung CitizenGO drängte Buchläden dazu, die Märchensammlung aus den Regalen zu nehmen. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás bezeichnete das Buch als 'homosexuelle Propaganda' und drohte damit, rechtlich gegen Einrichtungen vorzugehen, die es zu Lehrzwecken benutzen. Schließlich meldete sich Premierminister Viktor Orbán zu Wort und sagte, die Ungarn seien gegenüber Homosexuellen tolerant, solange die rote Linie nicht überschritten werde: 'Lasst unsere Kinder in Ruhe!'"

Die Geschichte von Amanda Gorman erinnert Caroline Fetscher im Tagesspiegel (leider nicht online) an Albert Camus. Denn auch Gorman kommt aus einfachen Verhältnissen und kam durch ein Stipendium an eine gute Schule. Camus benutzte damals in seiner dankbaren Erinnerung allerdings eine Vokabel, die heute nicht mehr so gut ankäme: "Ein Grundschullehrer, dem Camus seinen Nobelpreis für Literatur widmete, brachte für den Jungen ein Stipendium am Gymnasium von Algiers durch. Er sorgte, wie Camus dankbar schrieb, für eine tiefgreifende 'Entwurzelung'. Ohne den Lehrer, ohne das Stipendium, hätte es den Schriftsteller Camus vermutlich nie gegeben. Gute Bildung ist eine Basis für gelingende Biografien, überall auf der Welt ist das den Privilegierten bewusst. Es ist erstaunlich. In den aktuellen Debatten um Identitätspolitik spielen Fragen der Bildungsgerechtigkeit, dieser zentralen, basalen Bedingung für Chancen, Anerkennung und Teilhabe, kaum eine Rolle."

Dass ein paar der beliebten Kinderbücher von Dr. Seuss vom Markt genommen werden sollen, weil die Illustrationen mit typisierenden Klischees arbeiten (hier unser Resümee), findet auch Sarah Pines in der NZZ schade: "Die Zeichnungen sind humorvoll und zugewandt, nicht bösartig. In Dr. Seuss' Büchern hat Erniedrigung oder Häme keinen Platz, sanfter Spott allerdings schon. Und dieser zielt auch auf 'weiße' Charaktere, die Seuss schlaksig und einfach darstellte, in Schlabberkleidung, mit albern aufgedrehten Zöpfen und seltsamen Hüten."

Weiteres: In der taz ärgert sich Julia Habernagel, nachdem sie einen Onlinevortrag des Literaturkritikers Robert Reid-Pharr zum Thema gehört hat, dass James Baldwin auf Twitter oft in versöhnlerischer Absicht zitiert wird: "Immer wieder wurde der Autor auch als Mittler zwischen den 'races' dargestellt, der Weißen die Möglichkeit eröffne, ihre schwarzen Mitbürger:innen zu verstehen." Shocking! Außerdem: Dlf Kultur und FAS küren die besten Krimis des Monats - mit Merle Krögers "Die Experten" hat es aus dem Stand auf den ersten Platz geschafft.

Besprochen werden unter anderem Roberto Andòs "Ciros Versteck" (Freitag), Romalyn Tilghmans "Die Bücherfrauen" (FR) und Raphaela Edelbauers "Dave" (SZ).
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Musik

Hartmut Welscher schüttelt bei VAN energisch mit dem Kopf über die Pläne von WDR3 und RBBkultur, sich mit Wohlfühlklassik und "urban sound design" beim Wechselhörer anzuschmiegen: "Mit dem 'klassikaffinen Wechselhörer' ist es ungefähr so wie mit dem Yeti: Je weniger Sichtungen es gibt, desto mehr schießen die Fantasien über ihn ins Kraut. Typische Wesenszüge sollen sein, dass er leicht schreckbar ist, vor allem, wenn ihm etwas Unbekanntes begegnet. Er mag es gerne hyggelig. Und er bevorzugt eine eher kindgemäße Ansprache. ... Die Annahmen vom Hörer offenbaren dabei fast schon diskriminierende Rezipient:innenklischees: Die Jungen, die sich nicht anstrengen wollen, die Alten, denen es nur um Distinktion geht. Dass 'die Jungen' auch Podcasts hören, die komplexer und reflexiver sind als das meiste, was in den bis zur Selbstaufgabe an den 'Hörerwunsch' sich anbiedernden öffentlich-rechtlichen Kulturradios gesendet wird  - Schwamm drüber. "

Weitere Artikel: Dank des von Feuilleton und Musikern gern verteufelten Streamings konnte die deutsche Musikindustrie im vergangenen Jahr ihre Umsätze trotz Corona um neun Prozent steigern, meldet Amira Ben Saoud im Standard. Matthias Kreienbrink berichtet in VAN von den Herausforderungen und Besonderheiten des Komponierens für Videospiele. Jan Wiele gratuliert in der FAZ Chris Rea zum 70. Geburtstag. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Geiger Michael Wieck.

Besprochen werden Julien Bakers Album "Little Oblivions" (taz), das Comeback-Album von Arab Strap (Standard), Slowthais Album "Tyron" (FR) und das Debütalbum der Frankfurter Rapperin Liz ("weitgehend humorlos, überwiegend brutal", schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline). Wir hören rein:

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