Efeu - Die Kulturrundschau

Das Glutamat der Dichtung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2019. Die FAZ bestaunt in Angoulême Castelbajacs Röcke für Snoopy und andere ikonische Outfits für Comicfiguren. In der taz erklärt Albert Serra, warum Nacktheit im Kino so viel agressiver ist als im Theater. In der Zeit erklärt Anselm Kiefer, warum man ihn nur mit Gewalt in einer Ausstellung mit Georg Baselitz, Gerhard Richter und Sigmar Polke zusammenbringt. Die SZ erklärt, warum das neue Berliner Museum des 20. Jahrhunderts schon vor Baubeginn drei mal so teuer ist wie geplant. Die Musikwelt trauert um Daniel Johnston und seine Dämonen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.09.2019 finden Sie hier

Film

Die Aggression des nackten Körpers: Albert Serras "Liberté"

Albert Serras mit Helmut Berger und Ingrid Caven besetzte, kurz vor der Französischen Revolution situierte Theaterperformance "Liberté" an der damals noch von Chris Dercon geleiteten Volksbühne geriet sowohl bei der Kritik, als auch beim Publikum zum Flop. Jetzt hat der französische Regisseur eine in Cannes bereits mit Preisen ausgezeichnete Filmversion erstellt, deren Vorzüge er im taz-Interview Dennis Vetter erklärt: Dazu zählen unter anderem "die Nacktheit als Bestandteil des Körpers. Im Theater ist das Publikum zu weit weg, es fehlt der Sinn für die Gewalt und Aggression des nackten Körpers. Das Kino kann dem Körper näher kommen, die Nacktheit genauer betrachten. Allein diese Nähe entfaltet eine Kraft. Man muss wissen, wie man mit ihr umgeht. Es gibt ein stärkeres Gefühl für Intimität. Einige Menschen, einige Schauspieler, fühlen sich sogar allein vor einer Kamera, sie wird zum Teil des Raums", sie "nimmt der Realität, der Natur ihre inneren Zusammenhänge und verknüpft sie mit Absichten und Gestaltungsweisen. Sie macht die Realität origineller, interessanter, energetischer. Darin liegt für mich der Kern."

Weiteres: Für den Filmdienst spricht Simon Hauck mit dem Dokumentaristen Alexander Hick über dessen Film "Thinking Like a Mountain", der von den Arhuaco handelt, der indigenen Bevölkerung von Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien. Fabian Tietke empfiehlt in der taz Filme des Human Rights Film Festivals in Berlin.

Besprochen werden Michael Kliers "Idioten der Familie" (taz, SZ, Berliner Zeitung, unsere Kritik hier), Rebecca Zlotowskis "Ein leichtes Mädchen" (taz, FR, SZ, unsere Kritik hier), Mikhaël Hers "Mein Leben mit Amanda" (FR), Craig S. Zahlers Thriller "Dragged Across Concrete" mit Mel Gibson (Filmbulletin) und die Netflix-Serie "Der dunkle Kristall" (Presse).
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Literatur

David Hugendick gönnt sich den Spaß und durchforstet für ZeitOnline den von der Zeit mit einem Tool durchsuchbar gemachten Fundus an Bundestagsreden nach Erwähnungen berühmter Literaten. Denn "ein echter Bundestagsredner weiß: Gegen die Flauheit des eigenen Worts hilft immer das Glutamat der Dichtung. Der echte Bundestagsredner weiß auch, dass geistreich eingestreute Zitate nie ohne ein einleitendes 'schon', ein 'bereits' oder ein 'einmal' auskommen: Schon Musil schrieb. Bereits Fontane bemerkte. Goethe sagte einmal, und ja, meistens landete man im Bundestag bei ihm, wenn's etwas literarisch werden sollte: 584 Erwähnungen in 70 Jahren. Mehr als Grass, mehr als Böll, mehr als alle anderen. Fans des literarischen Idealismus könnten nun die 4.649-fache Erwähnung von Schiller anbringen, aber da werden sie den einstigen Wirtschaftsminister Karl Schiller üppig herausrechnen müssen."

Weiteres: In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" schreibt Matthia Heine über Rimbauds Jahre in Afrika.

Besprochen werden Margaret Atwoods "Die Zeuginnen" (Tagesspiegel, Dlf Kultur), Odd Klippenvågs "Ein liebenswerter Mensch" (Sissymag), zwei Editionen über Wolfgang Hildesheimer als Briefeschreiber (literaturkritik.de), Carmen Aus der Aus "Theodor Fontane als Kunstkritiker" (literaturkritik.de), Tarjei Vesaas' "Das Eis-Schloss" (Dlf Kultur), Tommy Oranges "Dort dort" (taz), Deniz Utlus "Gegen Morgen" (FR), Kaspar Colling Nielsens "Der europäische Frühling" (Standard), Jonathan Safran Foers Sachbuch "Wir sind das Klima" (SZ) und Volker Weidermanns "Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki" (FAZ).
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Design

Yves Saint Laurent, première planche originale de "La Vilaine Lulu", intitulée "Lulu au zoo", 1956. © Fondation Pierre Bergé - Yves Saint Laurent Paris. (Mehr zu dem Bild in diesem kleinen Film)

Für die FAZ hat Marc Zitzmann eine Ausstellung im Comicmuseum Angoulême über das Verhältnis von Mode und Comics besucht - schließlich haben nicht nur viele Comiczeichner Modeentwürfe gezeichnet, sondern Comics haben sich von der Mode auch immer wieder inspirieren lassen. Was umgekehrt genauso gilt, etwa "für Castelbajacs Snoopy-Röcke wie für Thierry Muglers nachtschwarzes Catwoman-Ensemble, bestehend aus einem Cape aus Strickstoff über einem Catsuit aus gepolstertem Vinyl mitsamt Lack-Gürteltasche und Kapuzen-Maske. Moschinos 'Olive Oyl'-Halstücher stechen hier insofern heraus, als sie die Bohnenstange an Popeyes Seite nicht nur in ihrem originalen Outfit abbilden, sondern auch in zehn ikonischen Modellen von Chanel, Courrèges, Lacroix und anderen." Online gibt es Begleitmaterial.
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Bühne

In der FAZ-Reihe Spielplan-Änderung stellt Manuela Reichart Dagny Juels Eifersuchtsdrama "Der Stärkere" vor.

Besprochen werden die Schau "Was der Körper erinnert" in der Berliner Akademie der Künste zu revolutionären Choreografien aus dem 20. Jahrhundert ("Wer allerdings unbeleckt in die Präsentation spaziert, hat wenig Chance, Zusammenhänge zu kapieren, geschweige denn soziokulturelle Vernetzungen herzustellen. ...  Statt Kenntnis zu vermitteln, wird sie hier vorausgesetzt - und damit Exklusion und Selbstbezüglichkeit praktiziert", moniert Dorion Weickmann in der SZ), Kornél Mundruczós Inszenierung von Ligetis "Requiem" als "Evolution" bei der Ruhrtriennale (SZ) und Ersan Mondtags "Baal" am BE in Berlin (SZ).
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Kunst

"Das Monstrum war ja tatsächlich unfreiwillig komisch". Anselm Kiefer als Hitler vor geschichtsträchtiger Kulisse. Anselm Kiefer, Heroisches Sinnbild II, 1970. Sammlung Würth, © Atelier Anselm Kiefer

Im Frühjahr zeigte die Stuttgarter Staatsgalerie die Ausstellung "Die jungen Jahre der Alten Meister" mit Frühwerken von Anselm Kiefer, Georg Baselitz, Gerhard Richter und Sigmar Polke. Ab morgen ist sie in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen. Adam Soboczynski hat aus diesem Anlass für die Zeit Anselm Kiefers Atelier in Südfrankreich besucht, wo der gut gelaunte Künstler ihn auf einen Widerspruch der Ausstellung aufmerksam macht: "Die ausgestellten Maler seien nur mit Gewalt in ein Konzept zu bringen: So habe Gerhard Richter einen eher 'indirekten Bezug zu deutscher Geschichte, weil das Kleinbürgerlich-Ostdeutsche sichtbar wird'. Bei Polke sei der Bezug zwar stärker, 'weil er Zyniker ist. Beim Blick auf die Welt können Künstler nicht anders als Zyniker sein, alles andere wäre Affirmation.' Lediglich bei Baselitz und ihm aber könne 'man die Reflexion der Geschichte, besonders der deutschen, klar sehen'."

Weiteres: Brigitte Werneburg annonciert in der taz die Art Week in Berlin, die gestern eröffnet wurde. Im Tagesspiegel stellt Gunda Bartels die Performancekünstlerin Lindy Annis vor. Daniel Völzke blättert für Monopol durch eine Monografie des südamerikanischen Fotografen Roger Ballen. Ulf Erdmann Ziegler schreibt den Nachruf auf den Fotografen Robert Frank, in der Zeit schreibt Hanno Rauterberg. Und: in einer kleinen Beilage stimmt die Zeit auf den Kunstherbst ein. Besprochen wird außerdem die Markus-Lüpertz-Ausstellung "Über die Kunst zum Bild" im Münchner Haus der Kunst (SZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Das geplante Berliner Museum des 20. Jahrhunderts könnte statt maximal 200 Millionen Euro nun doch 600 Millionen kosten, meldet Jörg Häntzschel in der SZ. Dabei hat man mit dem Bau noch nicht mal begonnen. Hauptgrund für die Verdreifachung des Preises ist eine Verkleinerung der Grundfläche des Museums, die ein teures Kellergeschoss erforderlich macht: "Dass Herzog & de Meuron mit ihrem Wettbewerbsbeitrag unter der 200-Millionen-Grenze blieben, sei nur durch eine viel zu groß dimensionierte Grundfläche möglich gewesen, so ein Abgeordneter. 'Die sind nicht von gestern.' Dass die Fläche reduziert und das teure weitere Tiefgeschoss nötig werden würde, sei immer klar gewesen."

Daniel Poller: _DSC3027 aus der Serie "Berlin nach 89", 2019. Bild: Daniel Poller
Der Neue Berliner Kunstverein erkundet in einer Rückschau die letzten 30 Jahre Stadt- und Raumplanung Berlins. "Der n.b.k. geht der Berliner Entwicklung mit fünf sehr unterschiedlichen Zugängen und einem mehrtägigen Diskursprogramm nach", schreibt im Freitag Antonia Märzhäuser. "Eine dieser Positionen kommt von Daniel Poller. Basierend auf einer Recherche von Verena Hartbaum hat er für seine Installation 100 Bauten fotografiert. Townhouses, Carrées und Ensembles, die 'Fellini-Residences' oder 'Carré Voltaire' heißten. Hier zeigt sich, welche Architekturen mit internationalem Geld entstanden sind. 'Berlinisch' soll diese Architektur zudem sein, man beruft sich auf eine erfundene Tradition, die nicht an Geschichte anknüpft, sondern diese zugunsten eines Marktes, der das Generische bevorzugt, verfälscht. In Pollers Installation verdichten sich die Fassaden dieser Architektur zu einem charakterlosen Zerrbild der neohistorischen Stadt, die Berlin sein soll." (Dass es ganz so schwarzweiß dann auch nicht ist, kann man in Monopol nachlesen, wo Elke Buhr erzählt, wie das leerstehende Haus der Statistik am Alexanderplatz von Künstlern erobert wurde.)

Außerdem: Britta Hentschel (NZZ) lernt bei den  Europäischen Tagen des Denkmals, dass nicht nur die Antike, sondern auch moderne Architektur einst in Farbe schwelgte.
Archiv: Architektur

Musik

Der amerikanische Künstler Daniel Johnston ist im Alter von 58 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. In den Achhtzigern veröffentlichte er zahlreiche im Keller aufgenommene Lo-Fi-Tapes, zu seinen Fans zählten Beck und Kurt Cobain, deren Popularität in den Neunzigern auch Johnston für eine Weile zu größerer Bekanntheit verhalf. Mit dem Dokumentarfilm "The Devil and Daniel Johnston" setzte Jeff Feuerzeig dem Zeit seines Lebens von psychischen Krankheiten gezeichneten Musiker und dessen naiver Kunst 2006 ein Denkmal.



"Seine kindlichen, von Albdruck heimgesuchten Lieder brachten ihm den Ruf, Amerikas begabteste Outsider-Stimme zu sein, ein", schreibt Ben Sisario in der New York Times: "Mit seiner knabenhaften Stimme und einem Talent für reine Melodien - seine größte Inspirationsquelle warne die Beatles - sang Johnston auf süße, manchmal verstörende Art von seinen Dämonen." "Sein exzentrisches Auftreten war legendär", erzählt Ben Beaumont-Thomas im Guardian. "So weigerte er sich, einen Vertrag mit Elektra zu unterzeichnen, weil sie auch Metallica unter Vertrag hatten, die Johnston für Satanisten hielt. Als Teenager büchste er von zuhause mit einem Moped aus, um sich einem Zirkus anzuschließen. Einst wurde er verhaftet, weil er die Freiheitsstatue mit hunderten von christlichen Fischsymbolen bemalt hatte. Doch wie ein weiterer Johnston-Bewunderer, der Wilco-Frontman Jeff Tweedy, ausdrückte: 'Daniel ist es gelungen, trotz, nicht wegen seiner psychischen Krankheit Kunst zu schaffen.'" A.D. Amorosi schreibt in Variety.

Auf seiner Facebook-Seite zitiert der Ventil Verlag Martin Büsser, der vor einigen Jahren über Johnston schrieb: "Neben den eigenweltlichen Texten zwischen Morbidität und Cartoon, ist es vor allem Johnstons einzigartige Stimme, deren Kunst, Töne knapp zu verfehlen, sich zu überschlagen oder kurzatmig der Begleitung nachzuhecheln, eine Ergriffenheit auslöst, wie man sie bei keinem 'richtigen' Sänger je verspüren würde." Der Rolling Stone hat eine Reportage von 1994 online gestellt, als Johnston kurzzeitig von einem Major Label unter Vertrag genommen wurde. 2017 brachte die New York Times ein großes Porträt über ihn. Pitchfork sammelt Stimmen von Prominenten. Einen äußerst anrührenden Auftritt absolvierte er, sichtlich gezeichnet, vor einigen Jahren gemeinsam mit einem wunderbaren Kinderchor:



Im Gespräch mit Christiane Peitz vom Tagesspiegel erinnert sich der Pianist Igor Levit auch an seinen Lehrer Karl-Heinz Kämmerling, der ihn jahrelang mit Beethovens "einfacher" Sonate op. 2 Nr. 2 traktierte: "Fünf Jahre lang! Wenn wir in einer Unterrichtsstunde Brahms machten, holte Kämmerling mittendrin seine alte Beethoven-Edition von Artur Schnabel heraus und wir feilten eine halbe Stunde an der inneren Spannung zwischen vier oder fünf Melodietönen. Heute weiß ich, wie wichtig diese mikroskopische Arbeit war. Wir hatten unsere Schwierigkeiten miteinander, aber mit dieser Sonate habe ich bei Kämmerling alle Vokabeln gelernt, die jetzt meinen Wortschatz ausmachen." Aber nebenbei gesagt: Es ist schon sehr sehr schade, dass Pianisten wie Levi nicht auch mal freiwillig ein paar Sachen bei Youtube reinstellen. Kümmerlich, was man da findet. Immerhin op2. Nr. 2 ist da. Falls das Video eingebettet nicht funktioniert, auf den Link klicken:



Weiteres: Besprochen werden das neue Album von Iggy Pop (Presse, Pitchfork, mehr dazu bereits hier), die Autobiografie des Wilco-Musikers Jeff Tweedy (Tagesspiegel), das postum veröffentlichte Miles-Davis-Album "Rubberband" (Presse, mehr dazu bereits hier), ein Konzert der Sleaford Mods (Berliner Zeitung) und Hoziers Auftritt in Wien (Presse).
Archiv: Musik