Efeu - Die Kulturrundschau

Eigentlich lernt niemand etwas

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09.04.2019. Die SZ erlebt in einer Choreografie von Constanza Macras, wie die Gentrifizieriung ihre eigenen Kinder frisst. Auf dem Festival Foto Wien stellt sich die taz schon mal auf die Härten des Landlebens ein. Die NZZ kann auch die Bauten des indischen Architekten Balkrishna Doshi empfehlen, die 200.000 Familien im Geiste der Gemeinschaft aufnehmen. Der Freitag überlegt, wie man den Billig-Konsum in der Mode aufhalten kann, ohne in die Elitismus-Falle zu tappen. Und ZeitOnline besucht das Kino Weltspiegel in Finsterwalde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2019 finden Sie hier

Kunst

Über Leben auf dem Land: Éva Szombat, Calves, Tiszaújváros, 2012 © Éva Szombat


In der taz kann Dominikus Müller nur begrüßen, dass sich das Festival Foto Wien stärker bündeln und fokussieren möchte, doch bei aller Unübersichtlichkeit hat er etliche interessante Arbeiten gefunden, etwa die Found-Footage-Kompilation "Der illegale Film" von Martin Baer und Claus Wischmann zum Thema Bildrechte. Aber: "Wenn auf der Foto Wien ein Thema wiederholt aufgegriffen wird, dann die fotografische Auseinandersetzung mit dem Land als Gegenpol zur Stadt als klassischem Sujet der Fotografie. Zum Beispiel in der von Verena Kaspar-Eisert im Kunst Haus kuratierten großangelegten Ausstellung 'Über Leben am Land', die das Dokumentarische wie auch eine gewisse Fokussierung auf die Härten des Landlebens bereits im doppeldeutigen Titel vor sich herträgt. Das Land wird in dieser großen Ausstellung mit insgesamt 20 Künstler*innen ganz bewusst als Provinz ins Auge genommen - als strukturschwaches Hinterland, wenn man so will, das mit den verkitschenden Klischees einer städtischen Perspektive wenig zu tun hat: Bilder von Misthäufen und hochgezüchteten Bullen, von tristen Bushaltestellen, Futtersilos und leeren Straßen."

Weiteres: Nach Besuch der großen Edvard-Munch-Schau "Love and Angst" im British Museum in London erscheint Guardian-Kritiker Jonathan Jones die den Maler umgebende Düsternis überhaupt nicht symbolistisch: "Munch hatte guten Grund sich verdammt zu fühlen. Aufgewachsen im Norwegen des 19. Jahrhundert war er umgeben von Krankheit und Tod." Für die FAZ besichtigt Patrick Bahners in der Ludwiggalerie Oberhausen eine die Schau britischer Pop Art aus der Sammlung Heinz Beck.

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Bühne

Schick in Berlin-Mitte. Constanza Macras "Der Palast" an der Volksbühne. Thomas Aurin

Die Kombination aus Trash-Ästhetik, Witz und Empörung lässt sich SZ-Kritikerin Dorion Weickmann bei der Choreografin Constanza Macras dann gut gefallen, wenn sie sorgfältig arbeitet, wie jetzt bei ihrem Stück "Der Palast" in der Volksbühne zu kommunalem Ausverkauf, Sterben der Kieze, Deutsche Wohnen und andere Immobilien-Hasardeure: "Macras erzählt eine Gentrifizierungs-Soap mit lebenden Playmobilfiguren. Die Postbotin liefert das Schreiben aus, das der Typ im Anzug ihr übergeben hat. Mama zetert, Papa fällt in Ohnmacht, Frau Doktor rückt an und defibrilliert, dann kommt die Polizei. Denn die Bilderbuchfamilie wirft Backsteine (aus Schaumstoff) auf den Übelkapitalisten und pflanzt Protestschilder auf: 'Wir bleiben', 'Das ist unser Haus', 'Mietenwahnsinn stoppen'. Die Botschaft ist klar: Heute müssen Normalos und Leute mit wenig Geld die Trendquartiere räumen, aber morgen fliegen auch ihre besser verdienenden Nachrücker raus. Die Verbonzung der City schreitet munter voran, die Gentrifizierung frisst ihre Kinder."

Weiteres: Vorbildlich zeitgemäß findet Christian Wildhagen in der NZZ, wie Damiano Michielettos in seiner Frankfurter Inszenierung von Franz Schrekers "Der ferne Klang" mit dem etwas überkommenen Motiv der gefallenen Frau arbeit. In der Nachtkritik berichtet Gabi Hift vom Auftakt des FIND-Festivals an der Berliner Schaubühne. Der Tagesspiegel meldet, dass der russische Regisseur Kirill Serebrennikow aus dem Hausarrest entlassen wurde.

Besprochen werden Wim Vandekeybus' neue Choreografie "Go Figure Out Yourself" beim Tiroler Osterfestival (Standard), Heiner Müllers Bodenreform-Revue "Die Umsiedlerin" (SZ), Choreografien aus dem afrikanischen Sahel im Berliner HAU (taz), Christof Loys "Tannhäuser"-Inszenierung in Amsterdam (FAZ) und die Ausstellung "Schein oder Sein - der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts" im Museum LA8 in Baden-Baden (FAZ).
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Design

Das Bewusstsein für Kleidungsproduktion muss sich von Grund auf ändern, fordert der Gestalter Otto von Busch von der Parsons School of Design im Freitag-Gespräch und vergisst dabei auch die soziale Frage nicht: "Wir müssen überlegen, ob wir wirklich ein System des Billig-Konsumismus erhalten wollen, in dem ein Kleidungsstück kaum mehr als ein Kaffee kostet. ... Wir sollten weniger konsumieren und frugaler sein. Vivienne Westwood zum Beispiel fordert: 'Kauft weniger Kleidung, dafür wertvollere, ihr zahlt mehr, aber seltener.' Aber Westwood und ähnliche Marken bieten kein Bezahlmodell an, mit dem ich und andere diese Kleidung kaufen könnten." Als Lösung schlägt Busch Monatsraten vor: Damit "könnte ich diese fantastischen, nachhaltigen und langlebigen Stücke bezahlen. Wir müssen auch andere Dienstleistungsmodelle finden. Genauso wie wir zertifizierte Automechaniker haben, müsste es Reparaturen und Ersatzteile für Alltagskleidung geben. Sonst tappen wir in die Elitismus-Falle."

Außerdem: Johannes Dudziak spricht für das ZeitMagazin mit den Machern des vor elf Jahren gegründeten Magazins apartamento.
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Literatur

Mit "Die zweite Welt" ist der Journalistin und Schriftstellerin Christine Lehmann ein echtes Bravourstück gelungen, schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher: Der an einem einzigen Tag - dem Frauentag - spielende Krimi ist eine "Literatur gewordene Timeline. Ein sensationeller Roman zur Lage der Frauen und dem Stand der feministischen Debatte im Jahr 2019. ... Lehmanns Romane bersten vor Aktualität und Dringlichkeit und sind natürlich auch bestens informiert über die moderne Techniken des Polit-Engineerings: Astroturfing, Nipster-Mode, illegale Parteienfinanzierung oder verdeckte PR-Kampagnen. Der Roman wirkt wie ein Antidot zur 'Vergiftung der Vernunft'. Und er ist ein Aufbegehren gegen den Raub der Worte, den Lehmann ihre Heldin an einer Stelle beklagen lässt: 'Öffnung der Gesellschaft, Bereicherung und Vielfalt sind gestrichen aus den politischen Reden. Mit den Wörtern verschwinden die Gedanken. Unsere Gefühle von Großmut und Freundschaft verlieren ihr Fundament.'"

Besprochen werden außerdem Miriam Toews' "Women Talking" (taz), die Wiederveröffentlichung von Peter Wydens "Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte" (Freitag), Viet Thanh Nguyens Erzählband "Die Geflüchteten" (NZZ), Kenah Cusanits Debüt "Babel" (Jungle World), Elisabeth Plessens "Die Unerwünschte" (Tagesspiegel), Max Porters "Lanny" (SZ) und Aka Mortschiladses "Obolé" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Architektur

Balkrishna Doshi: Architekturbüro Sangath, Ahmedabad, 1980 © Iwan Baan 2018

Sabine von Fischer porträtiert in der NZZ den indischen Architekten Balkrishna Doshi, der im vorigen Jahre den Pritzker-Preis erhielt und dem das Vitra Museum in Weil am Rhein eine Ausstellung widmet. Doshi verbindet Tradition und Moderne, erklärt Fischer, Ungestüm und Bescheidenheit: "Mit Nachdruck und Geduld sucht Balkrishna Doshi seit über einem halben Jahrhundert nach einer Architektur, welche die Gemeinschaft der Menschen verkörpert und fördert. 1978 gründete er innerhalb seines Büros Vastu Shilpa eine gemeinnützige Stiftung, die sich intensiv auch sozialen Fragen widmet. Das bekannteste Resultat dieser Recherche ist wohl das Aranya Housing, wo 80.000 Familien aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammenleben. Auch ökologische und ökonomische Fragen sind Teil der Arbeiten von Vastu Shilpa, in jüngeren Jahren auch Stadtplanungen riesigen Ausmaßes, wie beispielsweise farbenfroh sichtbar gemacht im Stadtplan von Khargar Node in Mumbai für mehr als 200.000 Familien."

Im NZZ-Interview versprüht Doshi zudem etwas indischen Spirit: "Ein Haus steht nicht - in meinem Verständnis wächst es", sagt er etwa. Und wie eine gute Schule das nachhaltige Bauen vermittelt, erklärt er auch: "Eigentlich lernt niemand etwas. Dieses Verständnis ist uns allen eigen. Wenn du arm bist, suchst du und findest etwas. Wenn du neben jemandem sitzt, der Hunger hat, teilst du dein Essen. Oder nicht?"

Weiteres: Die FR hat Nikolaus Bernaus Text zur Eröffnung des Bauhaus-Museums in Weimar online gestellt.
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Film

Mit dem "Soforthilfeprogramm Kino" will Monika Grütters noch in diesem Jahr auf den dramatischen Besucherschwund in den Kinosälen reagieren und Beihilfe für Investitionen leisten. Kleine Kinos insbesondere in der mitunter strukturschwachen ostdeutschen Provinz könnten allerdings ganz andere Hilfe brauchen, hat Juli Katz in einer großen Reportage für ZeitOnline über das Kino Weltspiegel in Finsterwalde herausgefunden: Die Verleihbedingungen sind einfach nicht mehr zeitgemäß, "bloß kann daran keine staatliche Förderung etwas ändern. ... Vertraglich ist zum Beispiel geregelt, in welchem Zeitfenster der Film gespielt werden muss, ob andere Filme parallel laufen dürfen und wie lange der Film gezeigt wird. Nicht immer ist das für den Kinobetreiber gut, auch weil die vertraglichen Konditionen von der Stadtgröße abhängig sind. ... Wenn Siegert einen Film drei Wochen lang spielen muss und der aber nicht gut anläuft, kann er ihn nicht wie die Multiplexe in einen kleinen Saal schieben, er hat ja nicht zehn oder zwölf davon. Dann flimmert der Film schlimmstenfalls wochenlang vor leeren Sitzreihen."

Weitere Artikel: Esther Buss berichtet in der Jungle World von der Diagonale in Graz, wo es diesmal in einem Special um Frauen im österreichischen Film ging. In der SZ gratuliert Josef Grübl dem Kameramann Gernot Roll zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Cristina Gallegos und Ciro Guerras Drogenthriller "Birds of Passage" (SZ), Jean-Luc Godards "Bildbuch" (Filmgazette, unsere Kritik hier), die bislang nur in österreichischen Kinos laufende Elfriede-Jelinek-Adaption "Die Kinder der Toten" (Zeit, mehr dazu hier) sowie Werner C. Bargs Buch "Blockbuster Culture" (Skug).
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Musik

Ralf Fischer klärt in der Jungle World über Rechtsrock-Strukturen in Ostdeutschland auf: "Im Jahr 2018 gab es beinahe jedes Wochenende ein Rechtsrockkonzert in Sachsen, die Fraktion der Linkspartei beziffert ihre Zahl insgesamt auf 49 - dreimal mehr als noch vor fünf Jahren. ... Im Nachbarbundesland zählte die Mobile Beratung in Thüringen (Mobit) im vergangenen Jahr 71 rechtsextreme Musikveranstaltungen. Dies ist die höchste Zahl seit Beginn der Zählung durch Mobit im Jahr 2007."

Weitere Artikel: Antje Stahl schreibt in der NZZ über das Comeback der Girl- und Boy-Bands der Neunziger. Ljubisa Tosic stellt im Standard Stephan Pauly, den designierten Chef des Wiener Musikvereins vor. Für den Tagesspiegel porträtiert Simon Rayss die Musikerin Charlotte Brandi. Hella Kaiser spricht im Tagesspiegel mit Klaus Hoffmann, der das Neuhardenberger Sängertreffen kuratiert. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an Kevin Rowlands Album "My Beauty" von 1999. Max Fellmann schreibt in der SZ-Retrokolumne darüber, wie tote Stars für Merchandise gefleddert werden.

Besprochen werden die Compilation "Big Gold Dreams: A Story of Scottish Independent Music 1977-1989" (taz), ein Konzert von Ivan Repušik mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (Tagesspiegel), die erstmalige Veröffentlichung von Marvin Gayes "You're the Man" aus dem Jahr 1972 (FAZ) und Prins Thomas' "Ambitions" (Pitchfork). Daraus eine Hörprobe:

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