Mord und Ratschlag

Packt sie beim Patriarchat

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
08.04.2019. In Christine Lehmanns "Zweiter Welt" könnte es Reporterin Lisa Nerz spielend mit der Partei des Gesunden Menschenverstand aufnehmen, wenn die aktuelle feministischen Debatte nicht so viele Fallstricke bereithielte. Daniel Pennac revitalisiert mit dem "Fall Malaussène" seinen verrückten Familienclan aus Bellville: Diesmal serviert er Gewürzkräuter auf Finanzhack.
Cover: Die zweite WeltDie Stuttgarter Journalistin, Autorin und jetzt auch todesmutige Rad-Aktivistin Christine Lehmann hat mit ihren Lisa-Nerz-Romanen das Genre des Diskurs-Krimis geschaffen, indem sie ihre Heldin immer wieder durch die aktuellen Debatten hindurch zu den Ursprüngen von ideologischer Verblendung und gesellschaftlichen Widersprüchen führte. Mit ihrem neuesten Roman "Die zweite Welt" treibt sie das Ganze auf die Spitze: Komprimiert auf einen einzigen Tag, den Frauentag, jagt sie Lisa Nerz durch die diskursiven Verwerfungen, die einem Tag für Tag aus allen Kanälen entgegenschlagen, mit derselben Rasanz, Vielfalt und Reizüberflutung, aber nicht mit der gleichen erschöpfenden Ergebnislosigkeit. "Die zweite Welt" ist eine mit Sinn und Leben gefüllte, Literatur gewordene Timeline. Ein sensationeller Roman zur Lage der Frauen und dem Stand der feministischen Debatte im Jahr 2019.

"Die zweite Welt" spielt am 8. März in Stuttgart, im absoluten Hier und Heute, in dem Lisa Nerz morgens aufwacht und nicht weiß, ob die Reden von der Umsexung der Welt und der Umvolkung der Nation noch ein Albtraum sind oder schon die Nachrichten aus dem Radio. Aber es kommt noch schlimmer: Beim SWR geht ein Terroranruf ein, ein Mann droht mit einem Attentat auf die bevorstehende Frauentagsdemo. Seine Worte lassen an seiner Brutalität keinen Zweifel: "Hallo ihr Fotzen! Ich hab eine Erklärung abzugeben. Folgendes: Ich will heute keine von euch Schlampen auf der Straße sehen. Sonst passiert was. Es gibt ein Blutbad."

Steckt dahinter vielleicht die Partei des Gesunden Menschenverstands? Oder agieren hier ganz selbständig die Unfrens, die Unfreiwillig Enthaltsamen, von denen man nicht genau sagen kann, woher ihr Frauenhass rührt: Sind sie arme gehemmte Schweine? Oder einfach zu fett und hässlich, um eine Freundin abzubekommen? Unfrens nennen es "die Cyan-Pille nehmen", wenn sich ihnen die Augen öffnen für die Miesheit der Frauen und die Schlechtigkeit der Welt. Wenig später nehmen sie die schwarze Pille: Dann töten sie Frauen und sich selbst.

Einen Haufen Frauenhasser aufzuhalten, wäre für Lisa Nerz zwar nicht unbedingt ein Kinderspiel, aber intellektuell keine große Herausforderung. Deswegen stellt ihr Lehmann die sechzehnjährige Nachbarin Tuana in den Weg und an die Seite, was sie gleichermaßen zu Höchstleistungen anspornt: Tuana ist Tochter eines türkischen Gefäßchirurgen, mathematisch hochbegabte G8-Schülerin und leider verdammt fromm. Hidschab, Abaya und Lippenstift sind farblich eins A aufeinander abgestimmt in Flieder, Rosa und Brombeer, dazu Juwelenaugen. Lisa Nerz ist gleich total verknallt in das junge Mädchen und nur zu hilfsbereit: Tuana sorgt sich um ihre plötzlich völlig verstörte Freundin Sosan, die von ihren Eltern in die Türkei geschickt werden soll, und natürlich ist Lisa zur Stelle, wenn es gilt, eine Zwangsheirat zu verhindern! Ehrenmänner, die auf Frauen schießen, sind schließlich ein globales Phänomen.

Während die Terrordrohungen gegen die Frauendemo viral gehen, die PGM in den sozialen Medien gegen Frauenbeauftragte und lesbische Akademikerinnen zetert, pesen Lisa und Tuana durchs aufgebrachte Stuttgart: Um Sosans Familie aufzumischen, die Unfrens aus Tuanas Schule aufzustöbern, der PGM ans Zeug zu flicken, Verstärkung für die Frauendemo zu organisieren und Genderhasser mit einer neuen Grammatik in den Wahnsinn zu treiben: der Paranoikerich, die Polizeiapparata. Und das natürlich alles auf dem Leihfahrrad. In der schwarzen Limousine fährt nur Richard, Stuttgarts Staatsanwalt und Lisas Mann und wie immer all ihren Erkundungen und Eskapaden gegenüber aufgeschlossen.

Christine Lehmanns Romane bersten vor Aktualität und Dringlichkeit und sind natürlich auch bestens informiert über die moderne Techniken des Polit-Engineerings: Astroturfing, Nipster-Mode, illegale Parteienfinanzierung oder verdeckte PR-Kampagnen. Der Roman wirkt wie ein Antidot zur "Vergiftung der Vernunft". Und er ist ein Aufbegehren gegen den Raub der Worte, den Lehmann ihre Heldin an einer Stelle beklagen lässt: "Öffnung der Gesellschaft, Bereicherung und Vielfalt sind gestrichen aus den politischen Reden. Mit den Wörtern verschwinden die Gedanken. Unsere Gefühle von Großmut und Freundschaft verlieren ihr Fundament."

So geschlossen Lisa und Tuana, Richard und die Frauen vom Kulturzentrum Sarah gegen die Demokratiegegner und Frauenhasser stehen, so wunderbar streiten sie untereinander über die Punkte, zu denen heute kein Mensch mehr eine Haltung haben kann, ohne auf Widersprüchlichkeiten zu stoßen: Differenz und Selbstbestimmung, das Patriarchale in der Religion, die eigene Provokationsrhetorik. Von welchem Feminismus reden wir? Wie über das Kopftuch streiten? Warum dazugehören wollen?

Bei aller Klarsichtigkeit leistet sich der Roman auch seine Utopie. Gegen Hass, Gruppenbildung und Opportunismus setzt Lehmann Witz und Gelassenheit, Solidarität und das Aushalten von Widersprüchen. Ohne sich von den Drohungen und Hetzparolen einschüchtern zu lassen, marschieren hunderttausend Frauen am Abend gegen Lohnungleichheit, Beschneidung und sexuelle Gewalt, die Frauenrechtlerinnen der ersten Stunde neben Queerfeministinnen und der Free-Bleeding-Initiative. Und sie schwenken ziemlich lustige Plakate: "Packt sie beim Patriarchat!" und "Brecht dem Patriarchat das Herz." oder einfach nur "Gegen sexistische Kackscheiße." Der Marsch ist wie überhaupt der Roman ein Aufbegehren gegen Spießigkeit, Selbstgerechtigkeit und selbsterklärte Ehrenmänner jeder Provenienz.

Christine Lehmann: Die zweite Welt. Ein Lisa-Nerz-Roman. Ariadne im Argument Verlag, Hambur 2019, 256 Seiten, 13 Euro (Bestellen)

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Cover: Der Fall Malaussène - sie haben mich belogenIn den neunziger Jahren gehörten Daniel Pennacs Romane um die Familie Malaussène zum Verrücktesten, was die Kriminalliteratur zu bieten hatte: Im multikulturellen Belleville herrschte Benjamin Malaussène in patriarchaler Milde nicht nur über seinen überspannten Clan, sondern über ein ganzes literarisches Universum, in dem er als Verlagslektor, Hauptprotagonist und ewiger Sündenbock zugleich fungierte. Nach achtzehnjähriger Pause, in der Pennac "Schulkummer" und den "Körper seines Lebens" erkundete, revitalisiert der Schriftsteller und Lehrer seine Saga und die schräge Sippe mit dem "Fall Malaussène". Die Familie hat Belleville verlassen, die tatendurstigen Kinder sind erwachsen und wer weiß wo in der Welt: C'est Un Ange wollte nach Mali, Mosma in den Nordosten Brasiliens und Maracuja den Orang-Utans auf Sumatra helfen, auch wenn Malaussène über NGOs gern lästert, sie seien "die Gewürzkräuter auf dem großen Finanzhack".

Benjamin Malaussène hat sich in den Vercors zurückgezogen, um dem Wind zu lauschen und den eigenen Träumen wieder auf die Sprünge zu helfen. Dort hält er aber auch auf Geheiß der Königin Zabo, der Chefin der Edition Talion, den misanthropischen Schriftsteller Alceste versteckt, der mit seinen Büchern der "wahren Wahrheit" dem Verlag zu einem einträglichen Geschäft verholfen, aber seine eigene Familie in eine schreckliche Fehde gestürzt hat. Nachdem er seine Geschwister um ihre Kindheitsfantasien und Ammenmärchen gebracht hat, drohen sie, ihn lebendig zu begraben.

In Paris wird derweil der verhasste Manager Georges Lapietà gekidnappt, die Entführer fordern ein Lösegeld von zweiundzwanzig Millionen und ein paar Zerquetschten. Die Summe entspricht genau dem goldenen Handschlag, den Lapietà von der Lava-Gruppe erhalten hat. Weil im Universum Malaussène alles in der Familie bleibt, ist mit dem Fall die ehrfurchtgebietende Richterin Talvern befasst, in die sich Benjamins zarte Schwester Verdun Tag für Tag verwandelt. Angesichts der symbolträchtigen Summe ahnt sie, dass hinter der Entführung keine Profis stecken, sondern politische Kindsköpfe oder einige der achttausend Menschen, die wegen Lapietà ihren Job verloren haben. Vielleicht handelt es sich auch um eine Kunstaktion, eine soziale Plastik oder reine Ästhetik.

Mehr noch als inden früheren Romane spielt Pennac im "Fall Malaussène" mit der Dekonstruktion, dem Selbstreferentiellen und den Ironien der Literatur: Sein ausuferndes Tableau erfordert inzwischen ein längeres Personenregister als jeder Dostojewski-Roman. Die Erzähler wechseln seitenweise, Szenen werden satzweise parallel geschnitten und am Ende eines Kapitels die übrig gebliebenen Schnipsel aufgesammelt. Schließlich erkennt der ehemalige Polizist Coudrier in seinem Großwerk über den Justizirrtum, dass er vor allem der Suche nach Kohärenz geschuldet ist.

Der inzwischen 75-jährige Pennac gehörte zu den Pionieren des versponnen französischen Kriminalromans, den Fred Vargas mit ihren "Rompols" zur ganzen Blüte brachte. Seine Geschichten um den verrückten Familienclan sind übermütig und poetisch, vielleicht ein wenig kindisch, aber voller Lebenserfahrung. Man lernt zum Beispiel von Täuberichen, dass es immer die Aufgeplusterten sind, die aufsteigen, oder dass in Zeiten großer Feigheit als erstes die Unerschrockenen fertig gemacht werden. Wenn Daniel Pennacs heitere Malaussènerien dennoch nicht mehr ganz in die politisch und literarisch härter gewordene Wirklichkeit zu passen scheinen, lässt sich schwer sagen, wer sich da ändern sollte.

Daniel Pennac: Der Fall Malaussène - Sie haben mich belogen. Roman. Aus dem Französischen von Eveline Passet. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019, 304 Seiten, 15 Euro (Bestellen).