Efeu - Die Kulturrundschau

Garten, Stille, Wohnzimmer - der komplette Albtraum

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07.12.2018. Pilzgespräche und John Cage: Die Theaterkritiker hören mit Vergnügen (und Engelsgeduld), wie Christoph Marthaler in Zürich mit "44 Harmonies from Apartment House 1776" der Vernunft Kontra gibt. In München hat Kaspar König die Arbeit der Künstlerin Cana Bilir-Meier kritisiert, die ihm und dem ganzen Kunstbetrieb jetzt Rassismus vorwirft. In der NZZ würdigt Sibylle Lewitscharoff das glanzvolle Schreiben der Gertrud Leutenegger. Im Standard reagiert Benjamin Stuckrad-Barre höchst allergisch auf jede Form von Idylle.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2018 finden Sie hier

Bühne

Fotos © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie


"Das stets an Mehrwert interessierte Zürich schuldet Christoph Marthalers Sturheit ewigen Dank", erklärt Daniele Muscionico kategorisch in der NZZ. Weil er ihnen den Zürcher Schiffbau abgerungen hat und weil er sie immer wieder vor den Kopf stößt: Jetzt gerade mit seiner Inszenierung "44 Harmonies from Apartment House 1776". Es geht um Pilze, Pilzgespräche. Der Titel bezieht sich auf ein Stück von John Cage, der selbst Pilzesammler war. Dann treten Personen auf und ab, führen Dada-Unterhaltungen, lesen, tanzen, spielen Cello. Muscionico ist hingerissen von dem Assoziationsreichtum auf der Bühne: "Marthaler nämlich lässt listig zitieren, dass sich die Bodenbretter biegen - Surrealisten und Dadaisten zu diesem Zweck. Seine Inszenierung gibt der Vernunft Kontra und legt sich mit Kants Begriff der 'reinen' Vernunft an. Und der Regisseur meint durchaus nicht den geistigen Reinlichkeitsfimmel oder einen metaphysischen Waschzwang. Die Idee der reinen Vernunft, wie sie das Team versteht, setzt 'Reinheit' mit Rhetorik gleich, sie ist das Gegenteil von Sinnlichkeit. Marthalers Theater erklärt das Ende der Vernunft, weil es an die Macht der Sinneswahrnehmungen glaubt: Musik, zum Beispiel!"

In der FAZ ist Simon Strauß nicht ganz so begeistert: Wie fast alle Arbeiten Marthalers "will auch diese uns zurückgebliebenen Emotionsschülern Nachhilfe anbieten. Allerdings gestaltet sie sich ein wenig redundant und eintönig: Die Idee der Entleerung von jeglichem Inhalt wirkt leicht abgenutzt, und die schöne, vor allem durch die Celli getragene Stimmung kann das nur bedingt kompensieren, wohl auch, weil es ihr an der letzten Verlorenheit fehlt." Nachtkritikerin Vera Urweider hat mit der Länge dieser "wunderbaren Hommage" an John Cage kein Problem, "selbstverständlich ist auch diese bewusst gesetzt. Als würde Marthaler hier sein Publikum testen wollen. Wer es aushält, den vier Cellistinnen beim Versuch zu spielen zuzuschauen, über geschätzt mindestens zwanzig Minuten, wer jetzt nicht aufsteht und geht, der bleibt. Unbehagen, Unruhe, verzweifeltes Lachen auf der Tribüne. Doch gehen tut niemand."

Außerdem: Peter Theiler, Intendant der Semperoper, erklärt im Gespräch mit Julia Spinola (NZZ), dass er die Diskussion "mit der Bevölkerung" sucht und gibt gleich ein paar Anregungen: "Die Semperoper sei durch ihre große Geschichte wie kaum ein anderes Haus prädestiniert für die Reflexion über Richard Strauss und Richard Wagner. 'Aber wer Strauss spielt, muss auch Komponisten einen Platz im Spielplan geben, die seine Zeitgenossen waren und die von den Nationalsozialisten verdrängt wurden. Und wo Wagner gespielt wird, sollen auch die Künstler zu Wort kommen, die, wie Meyerbeer, von Wagner verunglimpft wurden.' Das sind starke Worte in Dresden."
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Literatur

Sibylle Lewitscharoff würdigt in der NZZ die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger, die heute ihren 70. Geburtstag feiert: "Glanzvoll ist ihr Schreiben, passagenweise sogar spektakulär. Glanzvoll ist insofern das richtige Wort, als ihre Texte regelrecht leuchten, innerlich erglühen. Eine großartige epiphanische Energie steckt in ihnen. Mich beeindruckt daran zutiefst, dass die Figuren, die sie beschreibt, selbst wenn sie beschädigt, gar im Grunde hässlich sind, doch von ihr beschützt werden, gerade so, als nähme Gertrud sie im Sinne der Nächstenliebe in ihre zarte Hut. Mit Gefühlsduselei, gar mit Kitsch, hat das nicht das Geringste zu tun, im Gegenteil, Gertruds Blick, dem sich die Worte freiherzig und schwungvoll anschmiegen, bleibt immer präzis."

Im Standard reagiert der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre auf Stichwörter im Allgemeinen und allergisch auf Idylle im Besonderen: "Garten, Stille, Wohnzimmer - der komplette Albtraum. Gewohnt wird nicht, ich habe nicht mal eine Küche. In Romantikhotels, wo Kerzen und Schnittblumen auf dem Frühstückstisch stehen, möchte ich direkt eine terroristische Vereinigung gründen. Ich will Stadt, elektrisches Leben, keine Tiere. Idylle macht mir Angst. Jeder 'Tatort' fängt an mit Idylle."

Cornelius Wüllenkemper (Dlf Kultur) und Edith Kresta (taz) porträtieren die Schriftstellerin Maryse Condé, die mit dem Alternativen Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. "Condé mag in der Tradition afrokaribischer Intellektueller wie Édouard Glissant und Aimé Césaire stehen", schreibt Kresta. Doch habe sie sich davon emanzipiert, wie sie die Schriftstellerin zitiert: "Für mich war das Schreiben zunächst die Anwendung der Formel von Césaire: Mein Mund wird der Mund des Unglücks sein, das keine Stimme hat. Das ist ein ehrgeiziges Projekt und ein bisschen arrogant. Doch dann begann ich für mich selbst zu sprechen. Ich fühlte mich befreit, als ich mich über Dinge lustig machte, die als heilig galten."

Weitere Artikel:  Sascha Chaimowicz und Tereza Mundilova sprechen im ZeitMagazin mit Schriftstellerin Leslie Jamison über deren langjährigen Alkoholmissbrauch, den sie in ihrem neuen Buch verarbeitet hat. Der Bayerische Rundfunk spricht mit Schriftsteller Liu Cixin über chinesische Science-Fiction. In der taz berichtet Marc Feuser von einer Lesung von Anke Stelling und Helene Hegemann. Constanze Letsch berichtet in der NZZ aus Istanbul von der Eröffnung des Kiraathane, des ersten Literaturhauses der Türkei.  In der FR schreibt Sebastian Borger über Kriminalautorin Jessica Fellowes. Der Umblätterer blättert sich durch Marguerite Duras' Büchlein "Sommer 1980", in dem sich mitunter manch "unbeschreibliche Euphorie" findet. Außerdem liegen der taz heute die LiteraturNachrichten bei, für die sich LitProm auf Streifzug durch die Kriminalliteraturen der Welt begibt.

Besprochen werden Natascha Wodins "Irgendwo in diesem Dunkel" (online nachgereicht von der Zeit), Ulinka Rublacks "Der Astronom und die Hexe: Johannes Kepler und seine Zeit" (NZZ), Grischka Voss' "Wer nicht kämpft, hat schon verloren: Erinnerungen eines Gauklerkindes" (Tagesspiegel), Pascal Rabatés Comic "Der Schwindler" (Intellectures) sowie Arno Schmidts Briefwechsel mit Hans Wollschläger (SZ).
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Film

Spiel mit Popkultur-Zitaten: David Robert Mitchells "Under the Silver Lake"


David Robert Mitchells Thriller "Under the Lake" legt zig Fährten, von denen er vielen nicht folgt - insbesondere ins Geflecht der Populärkultur vergangener Zeiten, erklärt Elena Meilicke im Tagesspiegel: Sie sah "einen nostalgischen Film", der "mit seinen im Nichts versandenden Schnitzeljagden lustvoll die Frustration von Zuschauererwartungen forciert". Wie eine Mischung aus David Lynchs "Mulholland Drive" und "The Big Lebowski" der Coens kommt der Film daher, zumal beide Vorbilder "Los Angeles als kino-mythologischen Schauplatz in Szene setzten und dem Noir-Genre Tribut zollten. 'Under the Silver Lake' oszilliert zwischen dem Versprechen tiefer Wahrhaftigkeit und dem Eingeständnis, bedeutungsloser Quark zu sein - aber vielleicht war Hollywood ja immer schon beides."

Mitchell greift eine Spur zu beherzt in die Vollen, meint Patrick Holzapfel im Perlentaucher: "Die Echos von Thomas Pynchon sind hörbar, aber schmelzen bald dahin in dieser oberflächlichen Sonne Kaliforniens. ... Der Blick über den Tellerrand des Nerddaseins hätte 'Under the Silver Lake' hier und da gut getan. Schließlich liegen im Hunger nach Geheimnissen und der Weltverschwörungsparanoia gesellschaftlich weit verbreitete Themen, aus denen heraus sich von zeitgenössischer Politik über Popkultur bis hin zu philosophischen Tendenzen so manches hätte ableiten lassen."

Besprochen werden außerdem Carlos Reygadas beim Berliner Festival "Around the World in 14 Days" gezeigter Film "Nuestro Tiempo" (Perlentaucher), Gaspar Noés "Climax" (FR, mehr dazu hier), Alfonso Cuaróns "Roma" (Standard, mehr dazu hier), Steve McQueens "Widows" (critic.de, FR, Zeit, mehr dazu hier). Pernille Fischer Christensens Biopic "Astrid" über Astrid Lindgren (ZeitOnline, Tagesspiegel, Welt), die Komödie "100 Dinge" mit Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer (SZ) und die Netflix-Serie "Dogs of Berlin" (Berliner Zeitung).
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Musik

Jens Uthoff freut sich in der taz über die Werkschau "Joe Strummer 001", die dem 2002 gestorbenen Clash-Sänger nicht allein auf seine Punkrock-Jahre reduziert, sondern "der gesamten stilistischen Palette die er als Songwriter draufhatte", sehr gerecht wird. In der Welt porträtiert Felix Zwinzscher den Rapper 6ix9ine. Die FAS hat Tobias Rüthers Gespräch mit dem verbliebenen Teil der Beastie Boys online nachgereicht. ZeitOnline meldet, dass Pete Shelley, Sänger der britischen Punkband Buzzcocks, gestorben ist.

Besprochen werden das Debütalbum von Agar Agar (taz) und das neue Album von Udo Lindenberg (Welt), sowie Konzerte von Tellavision (taz), Carolin Widmann (NZZ), Paul McCartney (Standard) und Mariah Carey (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, SZ).

Außerdem kürt Pitchfork die besten Musikbücher des Jahres, darunter Allen Beaulieus Bildband über Prince, Vikki Tobaks visuelle Hiphop-Geschichte und eine Sammlung bislang unveröffentlichter Texte des 2017 verstorbenen Poptheoretikers Mark Fisher.
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Kunst

Kaspar König hat es gewagt, in einem Gespräch mit drei Künstlern, die Arbeit der Künstlerin Cana Bilir-Meier zu kritisieren. Daraufhin brach ein Shitstorm los, weil König angeblich rassistisch gewesen sei, so Bilir-Meier auf Twitter. Catrin Lorch zuckt in der SZ die Schultern. König habe zwar große Verdienste um die zeitgenössische Kunst und der Vorfall war vielleicht nicht mal rassistisch, aber er zeige doch, dass die Kunstszene Mandarine wie König nicht mehr akzeptiere, "wenn sich Gäste wie Bilir-Meier unwohl fühlen. ... Der Fall König zeigt, wie schnell jemand, der sich immer an der Spitze sah, plötzlich allein dasteht." Die Kammerspiele haben sich eilig entschuldigt, König hat sich auch entschuldigt, die Empörten sind immer noch beleidigt. Wer wissen will, warum, kann sich hier ein Video das ganzen Gesprächs ansehen.

Deutschlandfunk Kultur annonciert ein Gespräch mit Bilir-Meier mit der Unterzeile: "Bei einer Diskussionsrunde der Münchner Kammerspiele irritierte der Kurator Kasper König jüngst mit rassistischer Wortwahl". Was König rassistisches gesagt hat, wird nicht erklärt. Bilir-Meier macht aber gleich das ganz große Fass auf: "'Der Rassismus ist Teil unser Gesellschaft und kein Ausrutscher oder ein falsches Bewusstsein. Das ist eine konstitutive Funktion in unserer Gesellschaft. Das heißt, er bestimmt Denken und Fühlen.' ... Es müsse jetzt über eine Empörung hinausgehen, hin zu strukturellen Veränderungen. 'Und da geht es darum, wer die gut bezahlten Jobs bekommt und wer hat prekäre Jobs.'"

Weiteres: Karim El-Gawhary besucht für die taz die Baustelle für das neue Große Ägpytische Museum neben den Pyramiden von Gizeh.

Besprochen werden eine Ausstellung zu 100 Jahren Frauenwahlrecht mit dem fragwürdigen Titel "Damenwahl!" im Historischen Museum Frankfurt (FR) und die große Bruegel-Schau im Kunsthistorischen Museum in Wien (FAZ).
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Architektur

Rem Koolhaas' Entwurf für den neuen Springer-Campus in Berlin. Bild: OMA


Der Presse geht's schlecht? Kaum zu glauben, betrachtet man die neuen Superhäuser, die sich die Medien - Springer, taz, Gruner und Jahr - bauen lassen. Antje Stahl hat sie sich für die NZZ angesehen, auch das neue Springer-Haus von Rem Koolhaas: "Das rund 45 Meter hohe Atrium wird von den Etagen eingerahmt, die wie Terrassen im Gebäude liegen und sogar hängen (mithilfe eines stählernen Schwerlasttragwerks). Querlaufende Brücken und Balkone verbinden großflächige Büros, Fernsehstudios und Newsrooms für Welt, N24 und Co. Hier entsteht auch die über 52 000 Quadratmeter große Kommandozentrale einer Raumstation, deren Betriebssystem die rund 3500 zukünftigen Bewohner im besten Fall erst noch erfinden dürfen."
Archiv: Architektur