Efeu - Die Kulturrundschau

Fast ganz ohne Bosheit

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06.12.2018. Der Guardian meldet, dass kubanische Künstler aus Protest gegen ein neues Zensurgesetz in den Hungerstreik getreten sind. Die taz empfiehlt Ultra-Hetero-Regisseur Gaspar Noé eine Tanztherapie. Neue musikzeitung und FAZ amüsieren sich prächtig in Axel Ranischs überdrehter Inszenierung der Prokofjew-Oper "Die Liebe zu den drei Orangen". Die SZ möchte selbst entscheiden, ob sie den des sexuellen Missbrauchs beschuldigten Dirigenten Daniele Gatti noch hören will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2018 finden Sie hier

Film

Spielen im Dreck: Gaspar Noés "Climax"

Ein Tanzensemble geht in Klausur, feiert, trinkt Unmengen von Sangria, wird dabei unwissentlich auf Droge gesetzt, was den totalen Exzess zur Folge hat - et voilà: "Climax", der neue Skandalfilm von Gaspar Noé. In der taz fällt die Kritik von Dennis Vetter eher verhalten aus. "Nach seinen Ausflügen in die Tiefe und Verbindlichkeit des Qualitätskinos bei 'Love' und 'Irreversible', wendet sich Noé in 'Climax' begeistert einem ästhetischen Geschmiere zu, das jedoch nur während der Tanzszenen Kraft entwickelt und sonst frustrierend lieblos mit Figuren hantiert. Wenn getanzt wird, überträgt sich Noés schamlose Begeisterung für Gewalt, Exzess und Widerstreit in eine unerwartet entzückende Leichtigkeit. Tanz spielt hier mit Territorialdenken, mit dem Geben, Nehmen, Einnehmen, Aushebeln und Ablehnen von Körper und Raum. In den Gruppenchoreografien wirkt es, als könne sich Noé in diesem Film von seiner Grobschlächtigkeit als Ultra-Hetero-Regisseur endlich einmal befreien - bis die nächste Dialogsituation alle Hoffnung auf Befreiung wieder mit einer schablonenartigen Provokation verspielt."

Für Standard-Kritiker Bert Rebhandl entwickelt der Film in der ersten halben Stunde beträchtlich Power, ist "schlicht sensationell." Doch dann wird es blöde transgressiv: "Alles das, was vorher Verführung und vielleicht auch nur jugendlicher Leichtsinn war, jungenhafte Präpotenz oder androgyne Vieldeutigkeit, geht in dem labyrinthischen, finsteren Set verloren: 'Climax' wird letztlich zu einem Theater der Grausamkeit, und man wünscht sich vergeblich zurück zu der Energie der ersten halben Stunde." Für Dlf Kultur hat Patrick Wellinski mit Noé gesprochen.

Weitere Artikel: Carolin Weidner empfiehlt in der taz die Leo-McCarey-Retrospektive im Berliner Kino Arsenal. Knut Henkel stellt in der taz die Arbeit des Kino-Kollektivs "Erinnerung Wahrheit Gerechtigkeit" vor, das mit einer politischen Dokumentarfilmschau durch die Städte Mittelamerikas tourt. Für die Berliner Zeitung spricht Frank Junghänel mit Regisseur Christian Alvart, der für Netflix gerade die Serie "Dogs of Berlin" gedreht hat. Auch in den USA, wo Till Schweiger gerade sein US-Remake von "Honig im Kopf" lanciert, ist der Schauspieler und Regisseur wenig überraschend alles andere als ein Kritikerliebling, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt. David Steinitz erklärt uns in der SZ, warum Tom Cruise uns in einem Twitter-Video erklärt, warum viele Kinofilme auf modernen Fernsehgeräten zunächst einmal so scheußlich aussehen wie Seifenopfern - sofern man eine bestimmte Werkseinstellung nicht ändert:




Besprochen werden Alfonso Cuaróns "Roma" (taz, Welt, SZ, mehr dazu bereits im gestrigen Efeu), Steve McQueens "Widows" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Standard, SZ, mehr dazu hier),  Pernille Fischer Christensens Biopic "Astrid" über die ersten Lebensjahre Astrif Lindgrens (NZZ), David Mitchells Thriller "Under The Silver Lake" (NZZ, FAZ), Vishal Bhardwajs auf DVD erschienene Bollywoodfilm "Auge um Auge" (taz) und die zweite Staffel der Serie "The Marvelous Mrs. Maisel" (ZeitOnline).
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Kunst

Drei kubanische Künstler, darunter Tania Bruguera, die gerade in der Turbinenhalle in der Londoner Tate Modern ausstellt, sind in den Hungerstreik getreten, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, das alle Künstler und Musiker verpflichten wird, staatliche Lizenzen zu beantragen, berichtet Oliver Basciano im Guardian. Alle drei sitzen derzeit wegen ihrer Proteste gegen das Gesetz in Haft. "'Das Dekret kriminalisiert unabhängige Kunstaktivitäten', sagt der kubanisch-amerikanische Künstler Coco Fusco. 'Es erlaubt einem Kader von umherziehenden Zensoren, Geldstrafen zu verhängen, um Ihre Ausrüstung wegzunehmen. Das sind keine liberalen Individuen - wenn du ein Rap-Musiker bist und sie deine Texte einfach nicht mögen, werden sie dich abschalten. Diese drakonischen Aktionen finden bereits statt, aber dieses Gesetz systemisiert sie.'" Einen ausführlichen Bericht gibt es auch auf Hyperallergic.

Weiteres: Andrian Kreye begleitet für die SZ gerührt das Künstlerehepaar Katz beim Rundgang durch die Ausstellung von Alex Katz im Münchner Museum Brandhorst. Besprochen werden die Ausstellung "Freiheit. Die Kunst der Novembergruppe 1918-1935" in der Berlinischen Galerie (taz) und eine Ausstellung mit Naturfotografie von Yamamoto Masao und Alfred Erhardt in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin (Tagesspiegel)
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Bühne

Szene aus "Die Liebe zu den drei Orangen" in Stuttgart. Foto: Matthias Baus


Mit seiner Entscheidung, das Absurde in Prokofjews Oper "Die Liebe zu den drei Orangen" noch weiter zu treiben, hat Regisseur Axel Ranisch alles richtig gemacht, freut sich ein hochamüsierter Georg Rudiger in der neuen musikzeitung. Prokofjew wollte mit dieser Oper "einen bewussten Gegenentwurf zur schwülstigen Romantik und den bedeutungsüberladenen Musikdramen Richard Wagners schaffen", erklärt er. Ranisch setzt dem jetzt noch eins drauf und inszeniert die Oper in Stuttgart als Computerspiel "Orange Desert III" aus den frühen Neunzigern. Lob auch für die Musiker:  "In den aberwitzigen Repetitionspassagen, die Prokofjew zu atemlosen Steigerungen nützt, ist die Interpretation nah an der Perfektion. Die Solisten und den Chor haben Bettina Werner und Claudia Irro in quietschbunte Kostüme gesteckt, die dem trashigen Setting das Sprühsahnehäubchen aufsetzen. In diesem ästhetischen Super-GAU agiert das Ensemble so selbstverständlich, dass die bewusst gewählte Künstlichkeit schon bald mit prallem Leben gefüllt wird." Axel Ranisch "ist ein Regisseur, wie ihn Deutschlands Musiktheater dringend braucht, vor allem einer, der Komödie kann, ein Virtuose des Lachens, fast ganz ohne Bosheit", lobt auch Jan Brachmann in der FAZ.

Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Helmut Ploebst den österreichischen Choreografen Simon Mayer. Im Interview mit der Berliner Zeitung beschwört der von Stuttgart nach Berlin zurückgekehrte Regisseur Jossi Wieler die Kraft des Kollektivs am Theater.

Besprochen werden Sara Ostertags Inszenierung von Gesine Schmidts Stück "Begehren" am Wiener Kosmostheater (nachtkritik), die Strauss-Oper "Ariadne auf Naxos" an der Semperoper in Dresden (nmz), Edwar Clugs Choreografie zu Ibsens "Peer Gynt" in Wien (Presse) und Jan Neumanns Inszenierung von Molières "Menschenfeind" am Theater Bonn (FAZ, General-Anzeiger).
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Literatur

Dlf Kultur hat den ersten Teil der Hörspieladaption der Tagebücher von Viktor Klemperer online gestellt.

Besprochen werden die Ausstellung "Thomas Mann in Amerika" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (NZZ), Helen Oyeyemis Erzählband "Was du nicht hast, das brauchst du nicht" (SZ), Michael Krügers "Vorübergehende" (Zeit), Heinz Helles "Überwindung der Schwerkraft" (Welt), Juan Gabriel Vásquez' "Die Gestalt der Ruinen" (Standard), Bernhard Aichners Thriller "Bösland" (Standard) und Volker Hages "Des Lebens fünfter Akt" (FAZ).
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Musik

Dirigent Daniele Gatti wurde vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam nach MeToo-Anschuldigungen zwar geschasst - die Details klären derzeit die Gerichte -, wird dafür aber künftig das Orchester der römischen Oper leiten. Typisch für den Klassikbetrieb, meint Reinhard J. Brembeck in der SZ: In der Szene habe das Verdrängen solcher Missstände schließlich Tradition. "Weil Klassik noch immer gern dem Reich des Erhabenen und Hehren zugeordnet wird, weil sie unmittelbar und unter Umgehung der rationalen Kontrollmechanismen direkt auf die irrationale Gefühlswelt der Menschen durchschlägt, scheinen ihre Vertreter keine Menschen von dieser Welt zu sein und, so ein weit verbreiteter Irrtum, dürfen folglich auch nicht an den Gesetzen dieser Welt gemessen werden. Deshalb ist es in der Klassik immer einfacher, die Störfeuer aus der realen Welt auszublenden. Das ist ein unreifes, kindisches Verhalten. Man muss es hinbekommen, beim Anhören von Furtwänglers faszinierenden Kriegsaufnahmen seine Nähe zum Hitlerregime mitzudenken. So muss man sich auch entscheiden, ob man sich trotz der gegen Gatti erhobenen Vorwürfe seinen 'Rigoletto' anhört. Das erfordert eine bewusste Entscheidung und kein Verdrängen."

Weitere Artikel: Die CD tut als Medium ihre letzten Schnaufer, da wirft der Klassikbetrieb jetzt die richtig dicken Editionsbrocken mit sichtlich dreistelliger Scheiben-Anzahl auf den Markt, beobachtet Christine Lemke-Matwey in der Zeit. Jürn Kruse gratuliert in der taz Marius Müller-Westernhagen zum 70. Geburtstag und fragt sich, warum der Musiker - anders als seine Kollegen Udo Lindenberg und Herbert Grönemeyer - von der Presse eigentlich so wenig abgekultet wird. Im Tagesspiegel schließt sich Nadine Lange den Glückwünschen an. Jonas Zerweck freut sich im Tagesspiegel, dass das Berliner Festival Heroines of Sound die auf "visuelle Musik" spezialisierte Animations- und Experimentalfilmkünstlerin Mary Ellen Bute  wiederentdeckt. Hier ein Beispiel ihrer Arbeiten aus den Dreißigern:



Besprochen werden das neue Album von Anderson .Paak (SZ, mehr dazu hier), Wajeeds Album "From the Dirt" (Pitchfork), das neue Album des Jazzsaxofonisten Christoph Grab (NZZ), "Merrie Land" von The Good, The Bad and the Queen (Pitchfork), David Bowies Live-Aufnahme "Glastonbury 2000" (Pitchfork), Lily Allens Berliner Auftritt (Tagesspiegel)und die Autobiografie des Iron-Maiden-Sängers Bruce Dickinson (taz).

Außerdem kürt Pitchfork die 25 besten Musikvideos des Jahres. Auf dem ersten Platz: "Malamente" von Rosalía.

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