9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht einfach Faschismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2024. In der NZZ versucht der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow, das Wesen des von Putin verkörperten Bösen zu definieren. Appeasement bringt auch gegenüber Serbien nichts, warnt der Politologe  Alexander Rhotert in der Welt. Der 7. Oktober war kein Terroranschlag. Er war der Beginn eines neuen globalen antisemitischen Krieges, schreibt Esther Shapira in der Jüdischen Allgemeinen. In auffälliger Parallelität zum Drohnenangriff auf Israel verschärft das iranische Regime seinen Rollback gegen Frauen ohne Kopftuch, berichtet die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2024 finden Sie hier

Europa

Den Nationalsozialismus abgerechnet, könnte Putin einen neuen "Gipfel des politisch Bösen" erreichen, konstatiert in der NZZ der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow: "Wenn Staatsbedienstete einem Verdächtigen ein Ohr abschneiden und ihn zwingen, dieses zu essen, die ganze Szene auf Video aufnehmen und medial verbreiten, müssen wir uns erst noch überlegen, welchen Namen wir diesem Vorgang geben wollen. In der bestehenden Sprache gibt es dafür noch keine angemessene Bezeichnung. Es ist bestimmt nicht einfach 'Faschismus'. Ich glaube nicht, dass Faschisten solche Dinge getan hätten, selbst wenn sie damals über Handys verfügt hätten. Sie hätten es eher heimlich, im Stillen getan, aber nicht offen, im Namen des Staates. Der IS zum Beispiel könnte so vorgegangen sein, aber der IS ist kein Staat, sondern eine terroristische Organisation. Ein Staat, der sich so etwas gestattet, sollte eine spezielle Benennung haben, aber sicher nicht faschistisch."

Appeasement bringt auch gegenüber Serbien nichts, warnt in der Welt der Politikwissenschaftler Alexander Rhotert, der unter anderem darauf hinweist, dass Serbien über mehr moderne Waffensysteme als alle anderen Westbalkan-Staaten zusammen verfügt. Er erinnert auch daran, dass Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und sein Außenminister Ivica Dacic die "Hauptpropagandisten Milosevics" waren: "Vucic drohte während einer Parlamentssitzung der serbischen Skupstina am 20. Juli 1995, also während des serbischen Srebrenica-Genozids an über 8300 Bosniaken, an dem auch Belgrader Spezialeinheiten, die Skorpione des serbischen Innenministeriums, partizipierten, dass man für jeden von der Nato getöteten Serben 100 Muslime umbringen werden. Dies war die von den Nazis festgelegte Quote während der deutschen Besatzung Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg, nämlich 100 jugoslawische Zivilisten für jeden getöteten Wehrmachtssoldaten zu ermorden. Vucic und seine Gefolgsleute verfolgen den Plan einer 'Serbischen Welt' (Srpski svet), einer adaptierten Neuauflage von Milosevics Großserbien, sprich des Anschlusses der hauptsächlich serbisch-besiedelten Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens an Serbien. Diese umfassen insbesondere die Hälfte Bosniens und den Norden Kosovos. Diese Blut-und-Boden-Ideologie deckt sich mit der 'Russischen Welt' (Ruski mir) Moskaus."
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Geschichte

Trotz der Vielfalt des jüdischen Widerstands ist dieser in der deutschen Erinnerungskultur kaum präsent, schreibt die Politikwissenschaftlerin Sarah Stemmler, die in der FR mehr Sichtbarkeit fordert und erklärt: "Laut Achim Doerfer hängt das damit zusammen, dass die Erinnerung an Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit von einer Opfer-Ikonografie geprägt ist. Der Jurist und Philosoph beschreibt, dass vor allem die Bilder von Kranken, Verhungernden und Sterbenden im kollektiven Gedächtnis verankert sind, nicht aber die Bilder von Partisan:innen oder jüdischen Soldat:innen in den Armeen der Alliierten. Stattdessen erinnern wir uns vor allem an nichtjüdische Widerständler:innen, wie die Studierendengruppe 'Die Weiße Rose'. Das ist zwar wichtig, vermittelt aber ein schiefes Bild: von einzelnen widerständigen Deutschen und passiven Opfern. Proportional betrachtet war der jüdische Widerstand viel zahlreicher. Es gibt Stimmen, die sich für einen Feiertag am 19. April aussprechen, der dem Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet ist."

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"Hasst Iran auch seine eigenen Juden?", fragt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, jüngstes Buch "Iran ohne Islam", in der SZ. Etwa 9.000 Juden leben noch im Iran, vom Regime gezwungen, sich gegen Israel zu positioneren, fährt Amirpur fort, die die Geschichte des Antisemitismus seit der Eroberung Irans durch die Muslime im Jahre 642 erzählt. Unter Chomeini setzte schließlich eine Unterscheidung zwischen iranischen Juden und "gottlosen Zionisten" ein: "Dies verhinderte nicht, dass Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse wurden, aber sie anerkannten die Legitimität jüdischer Existenz in Iran und erlaubten der Gemeinde fortzubestehen."
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Politik

"Der 7. Oktober war kein Terroranschlag. Er war der Beginn eines neuen globalen antisemitischen Krieges, in dem alle Jüdinnen und Juden sich angegriffen fühlen, weil sie alle angegriffen werden", schreibt Esther Shapira in der Jüdischen Allgemeinen. Zwar wurde Israel im Moment des Schocks nach dem 7. Oktober das "Recht eines jeden Staates, sich gegen die Ermordung seiner Bürger zu wehren", aber dann hagelte es nur noch "Warnungen, Verurteilungen und Belehrungen" zuerkannt. "Das theoretische Recht beinhaltete offenbar nicht das Recht zur praktischen Umsetzung desselben. Niemand nämlich weiß bis heute eine Antwort auf die Frage, wie Israel die militärische Fähigkeit der Hamas grundlegend so reduzieren kann, dass eine Wiederholung des 7. Oktober ausgeschlossen ist, ohne zugleich den Tod vieler Unschuldiger in Kauf zu nehmen."

Seit Israels großen Sieg im Sechs-Tage-Krieg von 1967 sind wir Israelis "hochnäsig" geworden, meint hingegen Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, in der SZ. Das rächte sich am 7. Oktober, der Israel völlig unvorbereitet traf, fährt er fort und fragt: "Wie kommen wir aus der Klemme heraus? Ich bin der Meinung, dass unsere Regierung nicht alles tut, was nötig ist, um den Krieg in Gaza zu beenden. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat seine eigenen Probleme: Probleme mit der Justiz und Probleme mit der Politik in Israel. Meinungsumfragen zufolge würde er Neuwahlen heute haushoch verlieren. Aber er wurde für vier Jahre gewählt und hat keinen Anlass zurücktreten, es sei denn, seine Koalition zerfiele. Sie zerfällt aber nicht, weil sie heute aus allen extremistischen Parteien des Landes besteht, auch aus extrem rechten Parteien, die keine Alternative zu dieser Regierung haben."

Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass sich die Attacken auf Israel seit einiger Zeit mit Attacken auf Deutschland verbinden, als wäre das Problem erst aus dem Weg zu räumen, wenn dieser lästige Holocaust-Bezug weg wäre. Angefangen hatte das mit dem postkolonialen Historiker Dirk Moses (erinnern wir uns an die Debatte). Heute sekundiert Charlotte Wiedemann in der taz: "Deutschland ist auf die abschüssige Bahn eines falsch verstandenen Exzeptionalismus geraten: Indem die Verantwortung für den Holocaust und die daraus folgenden außergewöhnlichen Verpflichtungen verengt wurden auf ein Bekenntnis zur israelischen Staatsverfasstheit und Politik. Und indem wir anderen vorschreiben, wie sie zu Israel zu denken haben, wenn sie deutschen Boden betreten."

Wiedemann rät den Israelis friedlich mit den Hamas-Mördern in einer Einstaatenlösung à la Omri Boehm zu leben, der von gegenseitiger Anerkennung geprägt sein werde. Genau das leuchtet Ambros Waibel in einem weiteren taz-Essay nicht ein. Wäre es nicht an der Zeit, fragt er, "die Internationale der Hamas-Nichterwähner:innen erklärte uns 'konkret und kohärent', wie sie sich eine Zukunft in der Region mit diesen Leuten in verantwortlicher Position denken? Soll der 7. Oktober der Nationalfeiertag eines Staats 'from the river to the sea' werden? Was wird man den Kindern zum Anlass der Party sagen? Heute feiern wir, dass Zivilisten abgeschlachtet, gedemütigt, missbraucht und entführt wurden?"

Er mache sich Sorgen, wie in Deutschland mit den Palästinensern umgegangen und die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde, sagt wiederum Haaretz-Herausgeber Gideon Levy im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Deutschland hat sich dafür entschieden, dass Freundschaft mit Israel bedeutet, keine Kritik an Israel zuzulassen. Aber das ist keine gute Freundschaft."

Die Historikerin Anne-Christin Klotz präsentiert auf Twitter ein rechtsextremes Flugblatt aus dem Jahr 1988, das klingt, als sei es von heutigen Postkolonialen verfasst: "Den Zionismus stoppen!"

In auffälliger Parallelität zum Raketen- und Drohnenangriff auf Israel verschärft das iranische Regime seinen Rollback gegen Frauen ohne Kopftuch, schreibt  Mina Khani in der taz: "Der Staat propagiert seit Jahren und verstärkt seit der 'Frau-Leben-Freiheit'-Bewegung, die vor eineinhalb Jahren ihren Anfang nahm, eine angebliche Verbindung zwischen 'Zionismus' und dem Ungehorsam iranischer Frauen, die ihr Kopftuch ablegen. Im April letzten Jahres hatte etwa der bekannte Kleriker Masud Ali gesagt: 'Die Zionisten sind diejenigen, die gegen den Hidschab und das Familiensystem in Iran agieren'. Auch die Chefin der kulturellen Kommission des Stadtrats von Teheran warf der Protestbewegung vor, auf der Seite der 'Zionisten' zu stehen."
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Gesellschaft

Mit Entsetzen blickt Torsten Harmsen in der Berliner Zeitung auf eine im Rahmen des TU-Forschungsprojektes "Decoding Antisemitism" von Matthias J. Becker geleitete Studie, die den drastisch gewachsenen Antisemitismus in Nutzerkommentaren in Medien aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland untersuchte: "Eine international völlig neue Form antisemitischer Kommunikation habe der Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 hervorgerufen, sagt Matthias J. Becker. Die bisherigen antisemitischen Stereotype seien am Tag selbst und in der Woche danach in eine offene Glorifizierung von Gewalt und Mord gegen Juden umgeschlagen, mit Kommentaren wie: 'Ist richtig so', 'Das sollte jetzt jeden Tag passieren', 'Die weiblichen Opfer verdienen das.' 'Auf der britischen Seite waren das teils mehr als 50 Prozent der Kommentare, auf französischer Seite manchmal sogar 60 Prozent und in Deutschland bis zu 25 Prozent.' Als schockierend empfinden die Forscher die Verbindung von 'dehumanisierenden Äußerungen' mit Sexismus und pornografischen Inhalten. In den Folgewochen sei der Online-Diskurs wieder zurückgekehrt 'zu den üblichen Mustern der Dämonisierung Israels'."
Archiv: Gesellschaft