9punkt - Die Debattenrundschau

Es sind schamlose und törichte Zeiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2023. Moskau droht Deutschland mit dem Hufeisen: Eine Recherche der Washington Post belegt, wie Putin die öffentliche Meinung, ja die politische Landschaft in Deutschland formen will: durch eine Fusion der ganz Linken mit den ganz Rechten. Recht skeptisch blickt die FAZ auf das neue Konzept für die Paulskirche: Ist das geplante "Haus der Demokratie" eine Exklusivveranstaltung des Bundes? In der taz skizziert der israelisch-palästinensische Politologe Bashir Bashir eine mögliche Versöhnung in Israel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.04.2023 finden Sie hier

Europa

Wächst da zusammen, was zusammengehört? Catherine Belton, Souad Mekhennet und Shane Harris lesen für die Washington Post einige offenbar von Geheimdiensten zugespielte Dokumente aus Moskau, die zeigen, wie Putins Regierung die öffentliche Meinung, ja, die politische Landschaft in Deutschland umformen will: Offenbar strebt man in Moskau eine Fusion der Linkspartei oder einer von Sahra Wagenknecht neu zu gründenden Partei und der AfD an. Die Autoren zitieren aus einem prorussischen Manifest, das sie gern der AfD in den Mund gelegt hätten (es klingt genauso wie die AfD sowieso schon redet). Der Artikel ist allerdings reich an Vermutungen. "Die Dokumente enthalten kein Material, das die Kommunikation zwischen den russischen Strategen und irgendwelchen Verbündeten in Deutschland belegt. Aus Interviews geht jedoch hervor, dass mindestens eine Wagenknecht nahestehende Person und mehrere AfD-Mitglieder zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Pläne mit russischen Beamten in Kontakt standen." Als Drahtzieher benennen die Artikel Autoren den stellvertretenden Leiter der Moskauer Präsidialverwaltung, Sergei Kirijenko. Wagenknecht dementiert in dem Artikel, die AfD spielt die Ideen als "theoretischen Schlachtplan" herunter. Als Person aus Wagenknechts Umkreis, die auch nach Kriegsbeginn regelmäßige Konsultationen mit Moskau pflegt, benennen die Autoren ihren Ex Ralph Niemeyer. Die Autoren belegen im übrigen die intensive Moskau-Reisetätigkeit vieler AfD-Politiker.

Außerdem zum Thema: Thomas Holl analysiert im FAZ-Leitartikel die Krise der von Wagenknecht sturmreif geschossenen Linkspartei.

Bernd Rheinberg betrachtet bei den Salonkolumnisten nochmal  Reinhard Bingeners und Markus Wehners "Moskau-Connection" über die tief in die politischen und wirtschaftlichen Strukturen Deutschlands hineinreichende deutsch-russische Symbiose und bechreibt das Gefühl der Derealiserung angesichts des Business as usual: "Besonders verdrießlich kann es einen machen, wenn man sieht, dass die Protagonisten dieses Skandals einfach weitermachen, dass ihnen immer noch Sendezeiten und Zeitungsseiten zur Verfügung gestellt werden. Ja, es machen einfach alle weiter, als wäre nichts gewesen, sie bekommen alle noch volle Aufmerksamkeit, sie können sich weiter selbst beweihräuchern und ihre falschen Geschichten verkaufen, vielleicht ein 'Mea Culpa' flüstern, dann neue Pläne machen, sie sind einfach nicht still, die Mikros immer noch offen, es sind schamlose und törichte Zeiten."

Ja, die Sphären der Macht! Zum Beispiel im Bundeswirtschaftsministerium, wo Robert Habecks Staatssekretäre laut Alexander Neubacher im Spiegel eine Art Familienbetrieb untergebracht haben: "Da sind Habecks Staatssekretäre Michael Kellner und Patrick Graichen, zwei besonders enge Mitarbeiter. Die beiden sind verschwägert: Kellner, Ex-Bundesgeschäftsführer der Grünen, hat Graichens Schwester Verena geheiratet. Verena Graichen arbeitet als Wissenschaftlerin beim Öko-Institut, einer grünen Vorfeldorganisation, die aus der Anti-AKW-Bewegung hervorgegangen ist. Als solche wurde sie von der Bundesregierung in den Nationalen Wasserstoffrat berufen , welcher an einen Staatssekretärsausschuss berichtet."
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Kulturpolitik

Gestern stellte die Expertenkommission, die auf Geheiß Frank-Walter Steinmeiers mit der Neukonzeption der Paulskirche befasst ist, ein Konzeptpapier vor. Zwei Aspekte an dem Ereignis scheinen Andreas Kilb in der FAZ bemerkenswert: Herfried Münkler, der die Kirche radikal umgestalten wollte (unsere Resümees), fehlte in der renovierten Kommission. Zweitens: Der eigentliche Gestaltungswille tobt sich jetzt im "Haus der Demokratie" aus, das der Kirche an die Seite gestellt werden und wo die Demokratie staatlicherseits intensiv gefeiert werden soll: "'Signature Architecture' ist hier gefragt, mit viertausend Quadratmeter Nutzfläche und einer Mannschaft von dreißig Festangestellten in Diensten einer Stiftung, in der der Bund als Hauptgeldgeber natürlich das Sagen hat. In diesem Vorschlag steckt der eigentliche Sprengsatz des Papiers. Davon abgesehen, dass er den Paulskirchenplatz als städtischen Erholungsraum mit einem Federstrich opfert, ist seine Symbolik eine entschieden antiföderalistische."
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Ideen

In der taz unterhalten sich Jan Feddersen und Raoul Spada mit dem Staatsrechtler Christoph Möllers über die Frage, ob die FDP eine Idee von Liberalität hat. Und der Soziologe Stefan Selke verteidigt im Interview mit Dunja Batarilo die Idee der Utopie. Michael Hesse in der FR (hier) Andreas Bernard in der SZ erinnern an den großen Kritiker der Aufklärung Reinhart Koselleck, der in diesen Tagen seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte.
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Politik

Israel feiert den 75. Jahrestag seiner nie einfachen Existenz. Der heutige Konflikt in Israel hat eine 75-jährige Vorgeschichte und war in dem frühen Konflikt zwischen den Kibbuz-Sozialisten und den "Revisionisten" schon angelegt, schreibt Klaus Hillenbrand in der taz: "Nur gut einen Monat nach der Staatsgründung, am 22. Juni 1948, ging vor der Küste Tel Avivs ein Schiff in Flammen auf. Die 'Altalena' sollte dringend benötigte Kämpfer und Waffen in das junge Land bringen. Beschossen wurde der Dampfer nicht von arabischer Seite, sondern auf Befehl von David Ben-Gurion. Denn die Waffen sollten nicht in die Hände der Zahal - so der Name der gerade gegründeten israelischen Armee - gehen, sondern waren für die Irgun bestimmt. Die Gruppe unter Menachem Begin plante offenbar, als rechte Privatarmee ihren eigenen Kampf zu führen. Das wollte Ben-Gurion nicht zulassen. Die Spaltung zwischen Revisionisten und Linken vertiefte sich und wurde unüberbrückbar."

Judith Poppe spricht für die taz mit Bashir Bashir, einem in Israel lehrenden Politologen und palästinensischen Israeli, der auf der Basis der Gegebenheiten agieren will: "Um die Komplexität zu verstehen, muss man zum Beispiel anerkennen, dass sich in diesem Land erfolgreich eine jüdisch-israelische nationale Identität entwickelt hat. Dann fängt man bereits an, sich auf eine andere Spielwiese zu begeben, sowohl historisch gesehen als auch in Bezug auf die Frage, wie man sich den Weg nach vorne vorstellt." Für Bashir Bashir wäre das: "Egalitärer Binationalismus, also ein Binationalismus, der auf Gleichheit, Parität und auf gegenseitiger Anerkennung beruht - unter den Bedingungen der Dekolonisierung und der historischen Versöhnung." Für die FAZ berichtet Quynh Tran zum Thema.

Im Sudan bekämpfen sich die Generäle Abdelfattah al-Burhan und Hamdan Daglo Hametti, die vor kurzem noch in einer Regierung, die Demokratie versprochen hatte, zusammenarbeiteten. Dominic Johnson erklärt in der taz die Hintergründe des deprimierenden Konflikts, in dem die Bevölkerung den Kollateralschaden darstellt: "Armee- und Staatschef Burhan, geboren in einem Dorf nördlich von Khartum, gehört zur traditionellen arabischen Offizierselite, die in Sudan seit der Unabhängigkeit das Sagen hat - ein elitärer Kreis mit engen Verbindungen zur Militärelite Ägyptens, die Sudan als ihren Hinterhof betrachtet. RSF-Führer Hametti kommt aus einer Händlerfamilie in Darfur, er gehört also zu den von Khartum verachteten Peripherien Sudans, die man notfalls mit Gewalt kleinhält. Es passt dazu, dass Burhan nun als Garant von Recht und Ordnung auftritt - "ein Volk, eine Armee" forderte er in einer Fernsehansprache in der Nacht zum Freitag - während Hametti, die Pose des Revolutionärs einnimmt, der das Volk zu verteidigen vorgibt, der die Generäle herausfordert, für die er immer die schmutzige Arbeit gemacht hat und die ihn jetzt nicht respektieren." Die todesmutige Demokratiebewegung des Sudan, so Johnson in einem Kommentar, wird auch von den westlichen Regierungen im Stich gelassen.

Die Weltordnung wird durch den Ukraine-Krieg umgestülpt, es bahnt sich eine antiwestliche Partnerschaft zwischen Russland und China an, die allerdings asymmetrisch ist, sagt der in Berlin arbeitende Forscher und Spezialist für die russisch-chinesischen Beziehungen Alexander Gabuev im Interview mit Kai Strittmatter von der SZ: "China ist eine viel größere und vielfältigere Volkswirtschaft und das mächtigere Land. Mit dem unrechtmäßigen Einmarsch in die Ukraine hat Russland die Bande mit seinem Hauptmarkt zerschnitten, der EU, dann kamen die Sanktionen. Russland hat nicht mehr viel Wahl. China auf der anderen Seite hat viele Optionen, das hat eine neue Machtdynamik geschaffen."
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