9punkt - Die Debattenrundschau

Im Umgang mit Putin

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2022. Anne Applebaum malt sich im Gespräch mit Yascha Mounk aus, wie ein Frieden für eine siegreiche Ukraine aussehen könnte. "Man kann tatsächlich nirgendwo alternative Informationen herbekommen", sagt die russische Fernsehjournalistin Marina Owsjannikowa im Gespräch mit der Welt. Zumindest ein Land ist gut auf den Krieg vorbereitet, berichtet die Financial Times: Finnland. Die FAZ beleuchtet Emmanuel Macrons lange Zeit romantisches Putin-Bild. Und die FAS erzählt, was Christian Lindner dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk sagte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2022 finden Sie hier

Europa

Anne Applebaum malt sich im Gespräch mit Yascha Mounk aus, wie ein Frieden für eine siegreiche Ukraine aussehen könnte. Welche Konzessionen soll sie machen? Dass das auch für die Ukraine schwer auszumalen ist, kann sie verstehen: "Für mich als Historiker ist es wirklich erschreckend zu sehen, wie die Russen in den ostukrainischen Städten genau das tun, was sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostpolen, Ungarn, den baltischen Staaten und Ostdeutschland getan haben: die Spitze der Gesellschaft enthaupten, Bürgermeister, Museumskuratoren, Intellektuelle und Journalisten verhaften und dann willkürlichen Terror gegen alle anderen anwenden. Auf diese Weise wurde die sowjetische Besatzung in Mitteleuropa nach dem Krieg durchgeführt, und es scheint, dass sie hier das gleiche Schema anwenden."

Am 14. März hatte die russische Fernsehjournalistin Marina Owsjannikowa ein Schild in die Kamera der Hauptnachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens gehalten, auf dem sie zum Stopp des Krieges in der Ukraine aufrief und den Zuschauern erklärte: "Hier werdet ihr belogen!" Die Russen, erklärt sie im Interview mit der Welt, haben praktisch kaum noch die Möglichkeit, Informationen außerhalb der staatlichen Kreml-Propaganda zu erhalten: "Als der Krieg begann, haben wir von internationalen Agenturen überhaupt nichts mehr übernommen. Weil die ja alle berichtet haben, was in der Ukraine tatsächlich passiert. In unseren Sendungen kam etwas ganz anderes, da lief der Informationskrieg. Die Lügen, die unser Sender verbreitet hat, die waren so empörend. ... Der russische Zuschauer hat jetzt überhaupt keine andere Perspektive mehr zur Verfügung. Die oppositionellen Kanäle sind blockiert und geschlossen worden. Und man kann tatsächlich nirgendwo alternative Informationen herbekommen. Alle Massenmedien, die auch nur ein ganz klein wenig anders berichteten, sind geschlossen worden. Es gibt nur noch die staatlichen Medien. Und diese Propaganda in den staatlichen Kanälen, die ist so stark. Von früh bis spät wird diese Propaganda durchgezogen. Dass die Ukraine und der Westen uns überfallen hätten. Also von morgens bis abends sind die russischen Menschen dieser Information ausgesetzt."

Wie ernst es Putin mit der absoluten Informationskontrolle ist, kann man auch an der Reaktion sehen auf ein Interview mit dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodimir Selenski, das das russische Nachrichtenportal Meduza veröffentlichte. Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor, die sich jetzt RoskomnadZor nennt, hatte zuvor versucht, die Veröffentlichung zu verhindern, berichtet Zeit online. "Alle Medien, die das Interview führten, sollen überprüft werden, um 'das Ausmaß der Verantwortung und Reaktionsmaßnahmen' zu bestimmen. Die russische Generalstaatsanwaltschaft kündigte eine 'rechtliche Bewertung des Inhalts der veröffentlichten Äußerungen' an. An dem Interview waren verschiedene russische Medienvertreter beteiligt, unter ihnen ein Reporter der bekannten Moskauer Tageszeitung Kommersant sowie die Nachrichtenportale Doschd und Meduza, deren Seiten in Russland bereits blockiert wurden. Meduza veröffentlichte das Interview auf seiner Seite, die noch über alternative Internetverbindungen und aus dem Ausland zu erreichen ist. Auch wurde eine Frage im Namen des Chefredakteurs der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, gestellt. Nach den Drohungen der Behörde veröffentlichten weder Kommersant noch Nowaja Gaseta Selenskis Äußerungen."

In der NZZ nennt der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew noch ein paar russische Oligarchen, die auf deutschen und amerikanischen Sanktionslisten fehlen: "Erstens sollten sich die Sanktionen in erster Linie gegen jene richten, die sowohl über ein großes Vermögen als auch über einen direkten Zugang zum Kreml verfügen. Die Herren Gref, Tschemesow, Setschin, Jewtuschenkow, Potanin und andere sollten besonders genau überwacht werden. Zweitens sollte die Sanktionenkampagne genutzt werden, um eine größere Aufräumaktion zu starten, die dem Westen helfen könnte, nicht nur Putins derzeitige Verbündete loszuwerden, sondern auch diejenigen, die in der Vergangenheit seine Verbündeten waren, Russland mit Milliarden von Dollar in der Tasche verließen und die westliche Justiz weit intensiver korrumpierten, als es ihre Nachfolger getan haben. ... Der letzte Punkt ist, dass der Westen zwischen denen, die Putins Regime verteidigen und absichern, und denen, die es selber gerne loswerden würden, unterscheiden sollte. Der Zweck von Sanktionen sollte darin bestehen, die russische Elite zu spalten und Konflikte innerhalb der Elite zu provozieren (das Interview mit Fridman zeigt, dass dies möglich ist)."

Emmanuel Macron hat lange eine Annäherung an Putin betrieben und muss nun seinen Irrtum eingesehen, erzählt die Paris-Korrespondentin der FAZ, Michaela Wiegel. Macron glaubte, Putin zu einer Verhandlungslösung mit der Ukraine bringen zu können. Beraten worden war er von Mitterrand-Mitarbeiter und späteren Außenminister Hubert Védrine, der fest an das Gute in Putin glaubte. Auch der Linkspopulist "Jean-Pierre Chevènement sowie Hélène Carrère d'Encausse von der Académie française bestärkten Macron in dem Glauben, mit etwas gutem Willen und freundschaftlichen Gesten könne man Putin zu einer Verhandlungslösung bringen." Am Ende resümiert Wiegel: "Noch steht eine deutsch-französische Aussprache aus, wie sich beide Regierungen so sehr im Umgang mit Putin irren konnten."

Livia Gerster porträtiert in der FAS den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, der für seine offenen Worte bekannt ist und der Autorin auch einige Details über sein Gespräch mit Finanzminister Christian Lindner direkt nach Kriegsbeginn erzählt, "der mit 'so einem höflichen Lächeln' dasaß und redete, als sei die Niederlage der Ukrainer längst besiegelt. 'Euch bleiben nur wenige Stunden', habe er gesagt. Waffen zu liefern oder Russland von SWIFT auszuschließen sei sinnlos. Stattdessen wollte er nach vorn schauen, auf das, was Lindner für vorn hielt: eine von Russland besetzte Ukraine mit einer Marionettenregierung. Melnyk sagt: 'Das war das schlimmste Gespräch in meinem Leben.'"

Finnland scheint seinem Nachbarn nach seiner langen "Finnlandisierung" ein gesundes Misstrauen entgegenzubringen, berichtet Richard Milne in der Financial Times: "Es hat Vorräte. Alle wichtigen Brennstoffe und Getreide lagern für mindestens sechs Monate in strategischen Speichern, während Pharmaunternehmen verpflichtet sind, alle importierten Medikamente für drei bis zehn Monate auf Lager zu haben. Es hat zivile Verteidigungsanlagen. Alle Gebäude, die eine bestimmte Größe überschreiten, müssen über eigene Bunker verfügen... Und es hat Kämpfer. Fast ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung des nordischen Landes ist Reservist, was bedeutet, dass Finnland im Verhältnis zu seiner Größe auf eines der größten Militärs in Europa zurückgreifen kann."

Außerdem: Das Investigativteam von Bellingcat weist gemeinsam mit der BBC nach, dass Boris Nemzow in den Monaten vor seiner Ermordung von dem selben Killer-Team des FSB verfolgt wurde, das auch auch Giftanschläge auf Alexej Nawalny und den Journalisten Wladimir Kara-Mursa verübt hatte (mehr dazu in der BBC). Und Bundeskanzler Olaf Scholz hat in der Talkshow von Anne Will Vorwürfe zurückgewiesen, Deutschland finanziere mit seinen Energieimporten den Krieg, mehr in der FAZ.
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Geschichte

Die ukrainische Nationalbewegung gehörte zu den stärksten Kräften des Widerstands gegen die Bolschewisten und führten diese dazu, einigen Republiken Teilautonomie zu geben. Unter Lenin blühte die ukrainische Sprache eine Zeitlang, erzählt der Osteuropahistoriker Kai Struve in der FAZ, aber unter Stalin begann die Gleichschaltung gegene einen "ukrianischen Nationalismus", den Wladimir Putin bis heute als eine von außen gesteuerte Bewegung wahrnimmt, die sein schönes russisches Reich kaputtmachen will. Er steht damit in der Linie Stalins und des von ihm verübten Holodomor, so Struve: "Stalin fürchtete eine Verbindung zwischen dem bäuerlichen Protest gegen die Kollektivierung und dem ukrainischen Nationalismus. Suchbrigaden transportieren in vielen Regionen alle Nahrungsmittel ab und verurteilten die Menschen damit zum Hungertod. Zur selben Zeit verstärkten die Sowjets die propagandistischen Angriffe auf die 'Petljurowcy', die Petljura-Anhänger. Mit dem Begriff des 'ukrainischen bürgerlichen Nationalismus' wurden alle Unabhängigkeitsbestrebungen belegt ohne Rücksicht darauf, ob sie von rechts oder von links kamen." Ukrainische Nationalisten kollaborierten nach Stalins Holodomor und dem Hitler-Stalin-Pakt mit den Nazis gegen die Sowjets, die sie nach wie vor als Verhinderer ihres Nationalprojekts ansahen. Mehr zum ukrainisch-russischen Verhältnis im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Petro Rychlo ebenfalls in der FAZ, das wir in Efeu resümieren.
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Überwachung

Die EU will künftig Nachrichten aus Chat-Diensten wie Whatsapp oder Signal automatisch auf Szenen untersuchen, die sexuelle Gewalt gegen Kinder hindeuten. Der Europaabgeordnete Patrick Breyer wehrt sich im Gespräch mit Svenja Bergt von der taz gegen diesen Bruch des digitalen Briefgeheimnisses: "Es gab im vergangenen Jahr eine massive Kampagne, in der jeder, der sich gegen Massenüberwachung gestellt hat, sofort in die Ecke von Kindesmissbrauch gedrängt wurde. Daher hoffe ich aktuell darauf, dass einzelne EU-Kommissar:innen, etwa der Digital- oder der Justizkommissar, erkennen, wie gefährlich dieses Vorhaben für die Vertraulichkeit und die Sicherheit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch staatlichen Kommunikation ist."
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