9punkt - Die Debattenrundschau

Vernunft in Bewegung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2021. Heute hält Angela Merkel ihre wohl letzte Regierungserklärung. Sie wird sich dafür rechtfertigen müssen, dass die Regierung erst so spät mit der Evakuierung von Ortskräften aus Afghanistan angefangen hat, meint die taz. Für die Afghanen wird es vermutlich gar nicht so schlimm mit den Taliban, meint der Politikwissenschaftler Olivier Roy in der FR, die haben inzwischen am Golf Zivilisation gelernt. In Zeit online schildert die Politikwissenschaftlerin Maheen Atif die Lage der meist schiitischen Hazara, die bei den Taliban besonders verhasst sind. In der FAZ nimmt Patrick Bahners die Deko-Ideen Herfried Münklers für die Paulskirche auseinander. Die Feuilletons trauern um den Philosophen Jean-Luc Nancy.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.08.2021 finden Sie hier

Politik

Heute hält Angela Merkel ihre womöglich letzte Regierungserklärung - der Bundestag muss dem Einsatz der Bundeswehr zur Evakuierung der Ortskräfte zustimmen. Und dieser Einsatz besiegelt ein letztes Versagen der Regierung Merkel, kommentiert Tobias Schulze in der taz: "Monatelang wurde die Bundesregierung von verschiedensten Seiten gedrängt, den sogenannten Ortskräften die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Ein Unterstützungsnetzwerk, das von Pro-Asyl-Aktivisten bis zu Bundeswehr-Generälen reicht, schrieb flehende Briefe. Diverse Medien griffen die Forderungen auf. Die Opposition formulierte Lösungswege. Die Bundesregierung? Reagierte mit Ignoranz und brachte damit nicht nur die betroffenen Afghan*innen weiter in Gefahr, sondern nebenbei auch die deutschen Soldat*innen, die jetzt in Kabul in einem belastenden Einsatz stehen." Der Bundeswehroffizier Marcus Grotian, der sich für die Rückkehr afghanischer Ortskräfte einsetzt, wirft den deutschen Behörden vor, die Zahl Einreiseberechtigter viel zu klein zu halten.

Maria Stöhr von Spiegel online interviewt Zarifa Ghafari, Bürgermeisterin der Provinzhauptstadt Maidanschahr vor den Toren Kabuls, die von ihrer Flucht nach Deutschland erzählt: "Wir konnten nichts mitnehmen. Gepäck schürt Verdacht. Ich habe die Militärmütze meines Vaters mitgenommen. Die trug er immer, als er noch lebte. Er war General, vor neun Monaten wurde er von den Taliban ermordet. Ich habe meine eigene Militäruniform mitgenommen, die aus meiner Zeit als Mitarbeiterin am Verteidigungsministerium stammt. Sie erinnert mich an die Zeit, die gut war in Afghanistan. Und ich habe eine kleine Dose voll mit afghanischem Sand mitgenommen." Mehr über Ghafari in der taz.

Für die Afghanen wird es vermutlich gar nicht so schlimm mit den Taliban, meint der Politikwissenschaftler Olivier Roy, der deshalb auch nicht an eine Flüchtlingswelle glaubt, im Interview mit der FR - ausgenommen emanzipierte Frauen und Helfer der Allierten. Denn die Taliban seien zwar noch die selben Personen wie vor zwanig Jahren, aber sie haben sich geändert, glaubt Roy: "Sie haben viel mehr Erfahrung gesammelt. Als sie Kabul 1996 eingenommen hatten, wussten sie absolut nichts über die wirkliche Welt. Sie kamen aus den Madrassen, kämpften jahrelang in den Bergen und Wüsten. Nun sind sie in Pakistan gewesen, einige haben Englisch gelernt. Sie gingen an den Golf. Sie haben diplomatische Kontakte geknüpft. Geschäftliche und diplomatische. Und sie wissen mehr über die Welt, sie haben Internet. Sie sind deutlich ausgebuffter. Sie sind fit. Sie wissen, dass es rote Linien gibt. Daher werden sie alle Garantien für außerhalb Afghanistans geben. Aber sie werden niemals im Inneren die Macht teilen."

Vielleicht hätte Roy noch die Hazara erwähnen sollen, eine vorwiegend schiitische Minderheit in Afghanistan, "die in einer jahrhundertelangen Geschichte religiös begründeter Gewalt nun ein weiteres Kapitel mit Hinrichtungen, Zwangsehen und Zwangskonvertierungen befürchten müssen", schreibt die Politikwissenschaftlerin Maheen Atif auf Zeit online. "Im Mai 2021 wurden bei einem Anschlag in der Nähe einer Mädchenschule in einem mehrheitlich von Hazara bewohnten Viertel in Kabul fast siebzig Menschen, darunter viele noch ganz junge Schülerinnen, getötet. Gerade dieses Viertel wurde häufig von den islamistischen Fundamentalisten angegriffen, und die verheerende Natur dieses besonders brutalen Angriffs verweist auf die Haltung der Fundamentalisten gegenüber Frauen, insbesondere schiitischen Hazara-Frauen, die sich um ihre Bildung bemühen." Dass sie dabei nicht stehen geblieben sind, zeigt dieser Bericht von Amnesty International.

Joe Biden hat seine Entscheidung, Afghanistan aufzugeben, aufgrund einer rationalen Abwägung und im Sinne einer Theorie getroffen, ist sich der Politologe James W. Davis in der FAZ sicher: "Für ihn wäre ein endloses Engagement für eine verlorene Sache namens Afghanistan eine ständige Belastung amerikanischer Ressourcen und damit ein Geschenk an die Despoten in Moskau und Peking. Frieden sei durch die Konzentration amerikanischer Fähigkeiten und die Aufmerksamkeit auf das Abschrecken von Russland und das Ausbalancieren von China zu fördern." Schon mit seiner Zustimmung zu Nordstream 2 hatte Biden den Russen ja einen gehörigen Schrecken eingejagt!

Es gibt auch international genug muslimische Gruppierungen, die sich den Taliban nahe fühlen, schreibt die säkulare SPD-Politikerin Lale Akgün bei hpd.de: "All diese Gruppierungen haben auch Dependancen in Europa, und natürlich auch in Deutschland. Der Erfolg der Taliban wird diese Gruppierungen in ihrem Selbstverständnis stärken und ermutigen. Jetzt schon leiden liberale Muslime, Säkulare und Atheisten aus Ländern mit islamischer Regierungsform unter dem Druck der Fundamentalisten. Ich spreche von Deutschland. Und sie haben Angst. Was passiert, wenn diese Fundis durch die Akzeptanz der Taliban Morgenluft wittern?"

Hackern ist es gelungen, in die Überwachungssysteme des Evin-Gefängnisses in Teheran einzudringen. Ihre Videos zeigen Misshandlungen von Gefangenen und das umfrangreiche Videoüberwachungssystem des Gefängnisses, meldet unter anderem heise.de mit AP-Agenturmaterial: "Die Hacker behaupten gegenüber AP, bei dem Einbruch in die Systeme des Gefängnisses 'Hunderte' Gigabyte an Daten erbeutet zu haben. Die Aufnahmen stammen ausweislich ihrer Timestamps größtenteils aus den Jahren 2020 und 2021. Auf undatierten Aufnahmen sind Wärter mit Atemschutzmasken zu sehen, was auf eine Herkunft jüngeren Datums schließen lässt."
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Ideen

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ist gestorben. Man hört die Trauer in dem Nachruf von Emmanuel Alloa, der sich in der NZZ an einen ungewöhnlichen Mann erinnert: "Wer das Glück hatte, Nancys Seminare vor seiner Emeritierung in Straßburg mitverfolgen zu können, erinnert sich an dichte und doch zugleich experimentell verfahrende Sitzungen, in denen Klassiker der Philosophiegeschichte so gelesen wurden, als seien sie noch nie gelesen worden, während umgekehrt aus ein paar Gedichtzeilen eines Baudelaire oder Mallarmé unversehens ein völlig neuer Blick auf die Entzweiungen der modernen Seele gewonnen wurde. Der Pflicht zu normativen Festlegungen, die jenseits des Rheins allgemein üblich ist, hat sich Nancy stets entzogen, um sich stattdessen in ungesicherteren Denkformen zu betätigen. Anstatt nur im Unbegrifflichen den Begriff zu suchen, führen seine Texte auch unmissverständlich vor, worin das Unbegriffliche im Begriff liegt. Dass Existenz immer Mit-Existenz bedeutet und dass das Eigene immer schon der Anwesenheit Anderer ausgesetzt ist, darüber schrieb Nancy nicht nur Bände, sondern er lebte dieses Exponiertsein auch praktisch aus. Nicht zu schade war er sich, noch im hohen Alter mit den Tänzern der Choreografin Mathilde Monnier jeden Abend auf die Bühne zu steigen, um sich zu fragen, was es heißt, die Vernunft in Bewegung zu setzen."

In der Welt würdigt Martina Meister den Denker Nancy: "In einem der letzten Interviews, das Jean-Luc Nancy gegeben hat, wird er gefragt, ob lieber als 'Philosoph' oder als 'Denker' bezeichnet werden wolle. Nancys Antwort beschreibt auf geradezu geniale Weise, was die Herausforderungen desjenigen sind, der die Welt nach dem von Nietzsche ausgerufenen Tod Gottes einfach weiter zu denken versucht. Der Philosoph, so Nancy, versuche in einer Philosophie eine Repräsentation der Welt zu ersinnen, während der Denker sich von diesem unterscheidet, indem er genau diese Repräsentation zu überwinden versucht. Das Denken müsse immer über das System hinausgehen und dahinstreben, wo es sich nicht 'fangen lässt'."
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Stichwörter: Nancy, Jean-Luc

Kulturpolitik

Sehr kritisch setzt sich Patrick Bahners in der FAZ mit den Forderungen des von der Bundesregierung in die "Expertenkommission Paulskirche" berufenen Herfried Münkler auseinander. Da die Paulskirche renoviert werden soll, besteht die Befürchtung, dass der beim Wiederaufbau 1948 ausgesparte Zierrat am Gebäude nun neu appliziert werden soll - auf Anraten Münklers, der doch bisher weniger als Demokratietheoretiker und eher als mit den ganz großen Bauklötzen spielender Geostratege hervorgetreten ist. Bahners bemängelt in Münklers Argumentationen denn auch Münklers demokratiehistorische Äußerungen: "Der von Münkler postulierte 'Unterschied zwischen der deutschen bürgerlichen Revolution von 1848 und der französischen von 1789' ist .. nicht nur empirisch, sondern auch geschichtspolitisch dubios. Die Neubewertung von 1848, die Steinmeier und Münkler anstreben, läuft auf die Identifikation der heutigen Bürger und Politiker mit der linken Seite der Paulskirche hinaus, den Republikanern, die in der Minderheit blieben." Hier unsere Resümees zur Paulskirchen-Debatte. Die Idee der universellen Geltung der Menschenrechte verabschiedete Münkler zuletzt unter anderem hier.

Ebenfalls in der FAZ kommentiert Marc Zitzmann Emmanuel Macrons Entscheidung, Josephine Bakers Überreste ins Pariser Pantheon zu überführen - eines der Argumente: Sie hat sich (anders als etwa die Kommunisten) gleich nach der Invasion Frankreichs durch die Nazis der Résistance angeschlossen.
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