9punkt - Die Debattenrundschau

Angst vor seinem Zorn

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2020. Die Washington Post rekonstruiert, wie Mark Zuckerberg sich in Donald Trumps Arme warf. Im Observer wundert sich Nick Cohen nicht, dass Russlands früherer London-Botschafter aufgezeichnet wurde: Weil er das Land zu Boden geworfen habe. Die SZ fragt, was wir eigentlich für Denkmäler hinterlassen, die später einmal gestürzt werden können. Die Welt hadert allerdings mit dem curatorial turn in der Geschichtspolitik. Und die Berliner Zeitung fragt Rezo, wie er eigentlich recherchiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.06.2020 finden Sie hier

Geschichte

Keine Generation muss dankbar sein für die Denkmäler, die ihr hinterlassen wurden, konstatiert Gustav Seibt in der SZ: Walhalla und die Bismarcktürme tun zwar niemandem mehr weh, aber was ist mit den Hindenburgstraßen? Und welche Denkmäler hinterlassen wir außer den Mahnmale und Lernorte eigentlich? "Diese Mahnmalkultur trägt schwerblütig-didaktische, oft tragische Züge. Leichtfüßige Lösungen wie die Glaswand mit den eingravierten Grundrechten am Reichstagsufer, in der die vorbeispazierenden Bürger sich spiegeln können, sind rar. Wie wird die 'Wippe' geraten, das lange geplante Nationaldenkmal am Berliner Schloss? Auch sie ist nicht figürlich, allerdings soll sie auf ihrer Unterseite historische Bilder zeigen. Sie soll als 'soziale Plastik' das Mittun der Bürger stimulieren, die mit ihrem verteilten Körpergewicht immer von neuem zwischen 'Wir sind das Volk' und 'Wir sind ein Volk' wippen können. Stefan Heym nannte die Politkunst der Nachwendezeit einmal 'pfiffig', und er meinte das nicht nett."

Mit dem "Curatoral turn", der aktuell Rathäuser, Stadtparlamente, soziale Netzwerke und Redaktionen erfasst, ist Boris Pofalla in der Welt nicht einverstanden: Denkmäler müssen ja nicht gleich zerstört werden, man kann sie auch in Museen ausstellen, meint er und fordert neue Formen der Erinnerung: "Man muss ja nicht lebenslang mit den Möbeln wohnen, die man mal geerbt hat. Das vielleicht schönste Denkmal der jüngeren Zeit ragt nicht über das Straßenniveau hinaus - es sind die Stolpersteine des Gunter Demnig. 75.000 gibt es mittlerweile, sie erinnern an Menschen, die im Nationalsozialismus ermordet oder in den Tod getrieben wurden. Die Stolpersteine sind ein antimonumentales zeitgenössisches Denkmal, das aus seiner formalen Bescheidenheit Größe zieht und weiter wirkt."
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Ideen

Spätmoderne Gesellschaften brauchen nicht weniger Staat, sondern mehr Staat oder zumindest einen mehr regulierenden Staat, meint der Soziologe Andreas Reckwitz im SZ-Interview mit Peter Lindner: "Wir haben in den 80er-Jahren einen Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat erlebt. Der Staat ist vor allem als Dynamisierer in Erscheinung getreten, der Märkte und Wettbewerb ermöglicht. Der sich eher zurückzieht auf die Rolle des Schiedsrichters oder Coaches. Diese zurückhaltende Rolle des Staates steht schon seit etwa zehn Jahren zurecht in der Kritik. Bei der Finanzkrise wurde zum ersten Mal auch einer größeren Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt, dass dieser Staat Marktversagen nicht mehr regulieren kann." Reckwitz optiert für einen Infrastrukturstaat, der die Qualität öffentlicher Güter wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Verkehr sicherstelle.

Mit leisem Zweifel an den Corona-Maßnahmen und den damit verbundenen Eingriffen in Grundrechte rät der Philosoph Thomas Sören Hoffmann in der NZZ zur Hegel-Lektüre. Denn Hegel beschrieb, was es bedeutet, wenn der Bürger das Vertrauen in den Staat verliert, raunt Hoffmann: "Der Bürger hört auf, an seinem Staat 'existenziell' zu partizipieren - was im Entscheidenden gar nicht einzelne Bekenntnisse und Handlungen meint, sondern die tatsächliche Lebensform, das Ethos betrifft, in dem Staatlichkeit wurzeln können muss. Die Entfremdung des Bürgers vom Staat ist dabei für das Individuum schmerzhaft, für den Staat aber ist sie in letzter Instanz tödlich.

In der NZZ wirft Joachim Krause, Direktor des Kieler Instituts für Sicherheitspolitik und geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Sirius, jenen Politikern, die den Begriff der "Rasse" aus dem Grundgesetz streichen wollen, einen "Rausch des Antirassismus" vor: "In jedem Fall würde eines der zentralen Abwehrrechte gegen jegliche Politik des Rassismus schwer beschädigt werden. Zudem wird den 'Vätern und Müttern' des Grundgesetzes implizit Rassismus unterstellt - das ist zutiefst anmaßend."
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Gesellschaft

Eiken Bruhn erhebt in der taz noch einmal Einwände gegen den Kompromiss im Abtreibungsrecht, vor allem auch weil es immer weniger Ärztinnen und Ärzte gibt, die einen Abbruch vornehmen. Und seinen eigentlichen Zweck erfülle der Kompromiss auch nicht: "Auch Katrin Göring-Eckardt begründet das Nichthandeln ihrer Fraktion mit der Sorge vor einem Pakt reaktionärer Kräfte. Doch glaubt sie wirklich, dass das Bundesverfassungsgericht eine Verschärfung von Paragraf 218 dulden würde? Zudem erfüllt dieser nur einen Zweck: diejenigen ruhigzustellen, die Abtreibungen am liebsten ganz verbieten möchten. Wie erfolgreich das war, lässt sich immer häufiger vor Beratungsstellen und Arztpraxen beobachten, vor denen selbsternannte 'Lebensschützer*innen' Mahnwachen halten."
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Internet

Erst gerierte sich Facebook als verfolgte Unschuld, dann ging der Konzern nur widerwillig Hass und Hetze in seinen sozialen Medien vor. Dass sich die großen Marken Honda, Coca-Cola, Unilever, Verizo von Facebook abwenden, kommentiert Joachim Käppner in der SZ erfreut: "Ja, das Netz braucht Freiheit, aber es ist kein rechtsfreier Raum. Die Boykottbewegung spricht die einzige Sprache, die Facebook zu verstehen scheint: Der Konzern hat mit dem Hass viel Geld verdient, und jetzt kostet ihn dieser Hass viel Geld. Facebook muss lernen, the hard way, wie man in den USA sagt."

In der Washington Post rekonstruieren Elizabeth Dwoskin, Craig Timberg und Tony Romm, wie sich Mark Zuckerberg Donald Trump annäherte: "Facebook hat nur wenig Anstrengungen gegen Falschbehauptungen und irreführende Meldung unternommen, das Netzwerk erlaubt Politikern explizit zu lügen und änderte seinen Algorithmus, um Behauptungen entgegenzutreten, es benachteilige konservative Medien, wie Dokumente von mehr als einem Dutzend Mitarbeiter belegen, die der Washington Post vorliegen... Das Zugeständnis gegenüber Donald Trump hat zu einer Wandlung des weltweiten Informationsschlachtfeldes geführt. Es ebnete den Weg für eine wachsende Zahl von digital versierten Politikern, die immer wieder Falschinformationen und Aufwiegelungen an Milliarden von Menschen senden können. Es hat nicht nur zu einer Polarisierung der Öffentlichkeit geführt, sondern auch dazu, dass große Ereignisse wie die Pandemie oder die Protestbewegung immer weniger verstanden werden. Und während Trumps Macht zunahm, trieb die Angst vor seinem Zorn Facebook dazu, mit seinen rechten Nutzern ehrerbietiger umzugehen und die Balance der Nachrichten aufzuheben, wie gegenwärtige und früühere Mitarbeiter bestätigen."
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Europa

Mit dem Telegraph-Kolumnisten Boris Johnson an der Macht, dem Times-Journalisten Michael Gove im Kabinett und dem Brexit-Betreiber Dominic Cummings in der Propaganda-Abteilung braucht es keinen Wladimir Putin, um Unfrieden zu säen, glaubt Nick Cohen im Observer. Aber beim Lesen von Luke Hardings "Shadow State" beschleichen ihn doch ungute Ahnungen: "Alexander Jakowenko, von 2011 an Russlands Botschafter in Britannien, kehrte 2019 nach Hause zurück. Putin machte ihnen zum Mitglied des Ordens Alexander Newski und Präsidenten der Diplomatische Akademie. Jakowenko erklärte seinen bewundernden Kollegen, dass der Staat ehre, weil er Britannien zu Boden geworfen habe: 'Es wird lange dauern, bis sich das Land davon erholt.' Mission erfüllt, er kann die Ehrung genießen, die ihm von einem dankbaren Diktator erwiesen wird."

Den Menschenrechtlern Peter Steudtner und Taner Kilic sowie neun weiteren Aktivisten droht am kommenden Freitag eine Verurteilung in der Türkei von bis zu 15 Jahren - obwohl alle angeblichen Beweise gegen sie entkräftet wurden, schreibt Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, in der Welt: "Dieser Prozess steht beispielhaft für die Willkür der türkischen Justiz und den systematischen Angriff der Regierung auf kritische Stimmen. 'Terrorismus'-Vorwürfe werden in der Türkei routinemäßig erhoben, um Kritik an der Regierung zu bestrafen. In der Corona-Krise lässt sich das Ausmaß der Willkür der türkischen Behörden erneut beobachten: Journalistinnen, Ärzte und Social-Media-Nutzer werden wegen ihrer Äußerungen zur Corona-Pandemie festgenommen und angeklagt. Zwar wurden rund 90.000 Inhaftierte aufgrund unzureichender Hygienestandards in den überfüllten türkischen Gefängnissen kurzfristig aus der Haft entlassen, doch sind Menschenrechtlerinnen, Oppositionelle und Journalisten davon explizit ausgeschlossen."
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Medien

In Rezos Video "Die Zerstörung der Presse" rangiert die Berliner Zeitung hinter FAZ und Bild, angeblich weil sie "gehäuft Unwahrheiten" über ihn verbreitet hätte. Im Interview befragt Kai-Hinrich Renner in der Berliner Zeitung Rezo dazu, der gar nicht einsieht, warum er hinter einer Bezahlschranke oder im Archiv hätte recherchieren oder gar bei einer Zeitung um die inkriminierten Artikel hätte bitten sollen: "Ach, come on. Die Erwartungshaltung, dass ich mir zusätzlich zu den Hunderten Stunden, die ich über Monate unbezahlt in meiner Freizeit in dieses Projekt gesteckt habe, ja noch immer mehr Aufwand hätte machen können, wäre ja noch irgendwie okay. Aber das rein auf der Basis von spekulativen Szenarien zu machen, bei denen die Möglichkeit bestünde, ein Problem von euch gelöst zu haben, aber eben auch, völlig neue weitere Probleme zu erzeugen, ist nicht konstruktiv. "
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Stichwörter: Rezo

Wissenschaft

Überfällig findet der Literaturwissenschaftler Matthias Buschmeier die Diskussion um Präsenzlehre an den deutschen Universitäten und führt in der FAZ unter anderem an, dass in Bielefeld auch vor Corona die erforderliche Anwesenheitsquote bei Null Prozent lag: "Die Diskussion um digitale Lehre versus Präsenzlehre ist also deswegen so begrüßenswert, weil sie nach allen Exzellenzdebatten der Forschung eine Diskussion um den Stellenwert des Studiums zurück in das Zentrum der Wissenschaft holt. Sichtbar wird nicht das Engagement oder die Faulheit von Studenten und ebenso wenig die technische Avanciertheit oder Antiquiertheit von Dozenten, sondern es zeigt sich, dass Studenten schlicht zu viele Veranstaltungen belegen müssen, um die Regelstudienzeit einzuhalten und ihren Bafög-Anspruch nicht einzubüßen. Es zeigt sich zudem: Die verlangten Lehrdeputate in Deutschland verhindern systematisch, dass Dozenten Seminare und Vorlesungen angemessen vorbereiten und durchführen können."
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Stichwörter: Präsenzlehre, Corona