Heute in den Feuilletons

Plastilinöse Plumpheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2011. In der taz zeichnet Juri Andruchowytsch ein düsteres Bild von der Lage in der Ukraine. Und Andrea Breth erklärt, warum sie Alban Berg bewundert. Das FAZ.Net bringt Evgeny Morozovs Polemik gegen Jeff Jarvis auf Deutsch, aber interessanter liest sie sich auf Englisch mit Jarvis' Antworten. Die FAZ fragt auch: Warum schasst die Ditib den Architekten der Kölner Moschee, Paul Böhm? In Le Monde fordert Jürgen Habermas mehr Kompetenzen für Europa. Anders als die meisten Kritiker kann Fritz Göttler von der SZ weder mit Spielbergs Tim noch mit Spielbergs Struppi viel anfangen.

TAZ, 26.10.2011

Andrea Breth erklärt im Interview, warum in ihrer Inszenierung des "Wozzeck" an der Berliner Staatsoper die Bühne manchmal schwarz bleibt: "Das steht bei Berg so. ... Auch ich habe das Stück ohne Vorhang zwischen den Szenen gesehen, den Berg vorschreibt, und fand, dass es lang wird und an Aggressivität verliert, weil man irgendetwas stumm dazwischen inszeniert. Aber was soll das sein? Ich habe alles Mögliche versucht, fand es blöd und hab dann noch mal genau nachgeschaut: Der schreibt das Tempo für den Vorhang vor! Und wenn man das macht, dann knallt einem das Ding um die Ohren."

Juri Andruchowytsch zeichnet im Interview ein deprimierendes Bild der Ukraine. Von Demokratie, sagt er, gibt es keine Spur mehr: "Im Grunde ist jeder Ukrainer, der sich im öffentlichen Raum bewegt, in Gefahr. Jeder kann von der Polizei misshandelt werden, das gibt es jeden Tag. Es ist eine Rückkehr zu Kutschma, mit dem Unterschied, dass alles noch brutaler ist als früher."

Weiteres: Rudolf Walther berichtet über eine Frankfurter Diskussion mit Brigitte Zypries zur "Politik an Europas Grenzen". Besprochen wird Steven Spielbergs neuer Film "Die Abenteuer von Tim & Struppi - Das Geheimnis der 'Einhorn'".

Auf den vorderen Seiten berichtet Reiner Wandler hier und hier über den Sieg der Islamisten in Tunesien. Die tunesische Frauenaktivistin Bouchra Belhaj Hamida zeigt sich im Interview enttäuscht über den Wahlverlauf, aber sie meint auch selbstkritisch: "Wir müssen unseren Diskurs überdenken. Wir müssen unsere Kommunikationsstrategien überprüfen. Ennahda war auf allen Ebenen hervorragend aufgestellt, selbst auf Facebook."

Und Tom.

Aus den Blogs, 26.10.2011

Die Morozov-Jarvis-Kontroverse (Hätte Jarvis' neues Buch "Public Parts" wirklich ein Tweet bleiben sollen?) gibt Megan Garber im NiemanLab Anlass, über Bücher und Debatten im allgemeinen nachzudenken: "The precise thing that makes idea-driven books so valuable to readers - their immersive qualities, the intimate, one-on-one relationship they facilitate between authors and readers - also make them pretty lousy as actual sharers of ideas. Books don?t go viral. And that's largely because the thing that makes books lucrative to authors and publishers - their ability to restrain ideas, to wall them off from the non-book-buying world - is antithetical to virality." Garbers Artikel setzt alle Links zur Debatte.

Welt, 26.10.2011

Das Feuilleton veröffentlicht den offenen Brief Rainer W. Schneiders und Rainer Winkels von der Comenius-Stiftung an Hartmut von Hentig, in dem sie dem Reformpädagogen die Aberkennung des Comeniuspreises mitteilen - ihr Vorwurf ist, das sich Hentig nicht von den Vorgängen an der Odenwaldschule distanziert habe. Hannes Stein hat Walter Isaacsons autorisierte Steve-Jobs-Biografie gelesen, die morgen auch in Deutschland erscheint. In der Leitglosse kommentiert Paul Jandl die Besetzung Budapester Theaterintendantenposten mit Figuren aus der rechtsextremen Szene. Alan Posener schreibt in seiner Kolumne "J'accuse" über Shakepeares Lust am Geld, die sich mit großer Kunst durchaus vertrug.

Besprochen werden das Doku-Drama "Poliezei" von Maiwenn Le Besco, eine neue CD von Coldplay und eine Ausstellung früher italienischer Renaissancemaler im Bucerius Kunst Forum Hamburg.

FR/Berliner, 26.10.2011

Dieter Thomas Heck hält im Interview ein Plädoyer für den deutschen Schlager: "Wissen Sie, Banalitäten versteht man nur in seiner Muttersprache." Ralf Schenk resümiert deutsche Filme beim 54. Leipziger Dokumentarfilmfestival.

Besprochen werden die neue Dauerausstellung zur Kunst "der arabischen Länder, der Türkei, des Iran, Zentralasiens und des späteren Südindien" im Metropolitan Museum in New York, Leander Haußmanns Film "Hotel Lux", eine CD des französischen Elektronik-Duos Justice und der Comic "Buck Danny" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 26.10.2011

Le Monde veröffentlichte bereits gestern eine Rede Jürgen Habermas' zur aktuellen Lage in Europa: "Machen wir Europa demokratischer!": "Kurzfristig erfordert die Krise die größte Aufmerksamkeit. Aber darüber dürfen die politischen Akteure die Konstruktionsfehler nicht vergessen, die der Währungsunion zugrunde liegen und die nicht anders gelöst werden können als durch eine entsprechende politische Union: In Europa fehlt die nötige Kompetenz, um die nationalen Ökonomien zu harmonisieren."

Der Satiriker Vince Ebert schreibt über Homöopathie im Wiener Standard: "Das ist, als ob man in Frankfurt einen Autoschlüssel in den Main wirft und dann in Würzburg versucht, mit dem Mainwasser das Fahrzeug zu starten." Auf achgut erzählt Ebert über Reaktionen auf seinen Artikel, zum Beispiel hier und hier.

NZZ, 26.10.2011

Im Interview mit Urs Hafner spricht der Historiker Carlo Ginzburg über die Bedeutung des Romanlesens und seine immer schwerer werdende Arbeit: "Seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine große Beschleunigung stattgefunden. Kaum ist etwas nicht mehr Gegenwart, wird es prähistorisch, die Vergangenheit als Prähistorie, die obendrein direkt zugänglich sei. Dagegen kann der Historiker kaum etwas machen."

Weiteres: Auf der Experimenta Design in Lissabon hat Sandra Hofmeister schweren Katzenjammer bei der sonst so selbstbewussten Branche erlebt. Der 79-jährige Enzo Mari knurrte: "Ich kenne mehr Stühle als Menschen!" Besprochen werden die Ausstellung italienischer Meister "Die Erfindung des Bildes im Bucerius-Forum in Hamburg, Peter Heathers Geschichte "Invasion der Barbaren" und Sayed Kashuas Roman "Zweite Person Singular" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

SZ, 26.10.2011

Gleich zwei Texte befassen sich mit Steven Spielbergs "Tim & Struppi". Kein noch so gut im "Perfomance Capturing" eingefasstes Haar will Fritz Göttler an diesem Blockbuster lassen: "Tim & Struppi" lande "in einem toten Niemandsland", "mit monströsen Figuren, die bei aller Rasanz, zu der die Dramaturgie sie verdonnert, ihre plastilinöse Plumpheit nicht kaschieren können. Sie sind nicht Mensch und nicht Phantasiewesen, kennen keinen Ort und keine Zeit, die ihnen gehören, haben keine kinetische Intelligenz, keine Leichtigkeit und Eleganz, keine Transparenz." Daneben erklärt Tobias Kniebe, wie man aus dem digitalisierten Schauspieler doch noch einen Rest "Seele" herauszuquetschen versucht.

Weiteres: "Nichts Klügeres, nichts Besseres, nichts Riskanteres" wird es in absehbarer Zeit im Tanztheater zu sehen geben, behauptet Eva-Elisabeth Fischer und empfiehlt ausdrücklich Lloyd Newsons Performance "Can we talk about this", die sich mit der Frage nach religiöser Toleranz innerhalb multikultureller Gesellschaften befasst. Hier ein wirklich Lust machender Vorgeschmack (die deutsche Premiere findet in Berlin statt):



Jens Bisky informiert über Berliner Absichten, nahe dem Tempelhofer Flughafen ein mondänes, neues Bibliotheksgebäude zu errichten. Henning Klüver findet die Villa Romana in Italien richtig gut. Ihrer "Gewissheit des Ungewissen" wegen sehr zeitgemäß findet Stephanie Drees die auch ansonsten anscheinend mitreißend gelungene Interpretation von Kleists "Hermannschlacht" durch das "Rimini Protokoll". Tanjev Schultz berichtet von einer universitären Tagung über den Umgang mit Plagiaten. Christoph Neidhart blickt anlässlich des Deutschlandfests in Tokio auf 150 Jahre deutsch-japanische Freundschaft zurück.

Besprochen werden neue CDs und Bücher, zum einen eine Kulturgeschichte der Chemie, zum anderen Eric-Emanuel Schmitts Erzählungsband "Die Träumerin von Ostende" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 26.10.2011

Das FAZ.Net bringt Evgeny Morozovs Polemik gegen Jeff Jarvis unter dem Titel "Das Elend der Internetintellektuellen" jetzt auf Deutsch. "Dieses Buch wäre besser ein Tweet geblieben," schreibt er bekanntlich über Jarvis' neues Buch "Public Parts". Interessanter liest sich der gleiche Text auf Englisch mit Jarvis' Absatz für Absatz eingefügten Antworten auf Morozovs Sottisen.

Die Kölner Moschee des offiziell-türkischen Religionsvereins Ditib war wegen der schicken Architektur Paul Böhms ein Vorzeigeprojekt - jetzt hat die Moschee (deren Personal von der Ditib übrigens komplett ausgetauscht wurde) den Architekten geschasst, berichtet Andreas Rossmann und fragt: "Hat Böhm, den (die Ditib) gleichsam als Bautrojaner einsetzen konnte, um als weltoffene, liberale Organisation zu erscheinen, seine Schuldigkeit getan?"

Der Datenschutzrechtler Max Schrems hat von Facebook Einsicht in seine persönlichen Daten verlangt (auf seiner Facebook-kritischen Seite europe-v-facebook.org gibt er Auskunft, wie das geht) und ein 22.000seitiges pdf-Dokument bekommen - und ist zugleich empört darüber, dass Facebook diese Daten nicht gelöscht hat "Meine Akte bei Facebook ist umfangreich wie eine dicke Stasi-Akte. Facebook weiß in etwa so viel über mich wie mein engster Freundeskreis - nur dass Facebook alles andere als ein Teil meines Freundeskreises ist." Auf der Medienseite findet sich überdies ein Artikel über die Kapitulation der Politik vor der "Datenmacht" von Facebook.

Auf der Forschungsseite wendet sich der CDU-Politiker Günter Krings gegen ein Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Autoren, das es ihnen gestatten würde, ihre Studien nicht nur in kommerziellen Verlagen sondern auch in offenen Netzwerken zu veröffentlichen: "Darauf wird sich die Politik nicht einlassen!"

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet, dass sich die Londoner Paulskirche von den in Nähe campierenden Occupy-Bewegung gestört fühlt.

Besprochen werden Steven Spielbergs "Tim und Struppi"-Verfilmung, George Enescus "Ödipus"-Oper in Brüssel, neue Filme auf DVD (darunter eine Kassette mit frühen Filmen Angelopoulos') und Bücher, darunter Christoph Lohferts Abrechnung mit deutschen Gesundheitssystem "Weil du arm bist, musst du früher sterben - Der ohnmächtige Patient".