Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2002. In der FAZ wirft Frank Schirrmacher Martin Walser Antisemitismus vor. In der Zeit warnt Bassam Tibi vor dem Absolutheitsanspruch des Islam. Die taz besucht die In-Clubs von Odessa. Die FR misstraut der Allianz zwischen den USA und Russland. In der SZ schreibt Tariq Ali über den Kaschmirkonflikt.Die NZZ erklärt, warum der Papst nicht zurücktreten kann.

FAZ, 29.05.2002

Der Bruch! Über alle Bubis-Debatten und Geschichtsgefühl-Reden hatte die FAZ dem Autor Martin Walser die Treue gehalten. Damit ist es vorbei. Frank Schirrmacher erklärt Martin Walser in einem offenen Brief, warum die FAZ den "wie ein Staatsgeheimnis" behandelten neuen Roman Walsers nicht vorabdrucken will, obwohl es Walser gern so hätte. Der Roman, so Schirrmacher, "ist eine Exekution. Eine Abrechnung ... mit Marcel Reich-Ranicki." Es geht darin um einen Mord (der am Ende keiner ist) am fiktiven Kritiker Andre Ehrl-König. Dann geht's zur Sache. Schirrmacher wirft Walser antisemitische Klischees vor, "aber das alles ist nichts gegen den Clou dieses Buches. Mord, Mordkommission, das alles spielt hier immer mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis. Doch der Kritiker ist nicht tot. Seine Frau, die ... unter ihm leidet, weiß es die ganze Zeit. Warum? Sie sagt es, ein Champagnerglas in der Hand: 'Umgebracht zu werden passt doch nicht zu Andre Ehrl-König.' Es ist dieser Satz, der mich vollends sprachlos macht. Er ist Ihnen so wichtig, dass er zweimal in dem Roman vorkommt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß Marcel Reich-Ranicki der einzige Überlebende seiner Familie ist, halte ich den Satz, der das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft macht, für ungeheuerlich."

Der Kunstsammler Werner Berggruen erinnert sich in einer seiner kleinen Schnurren aus seiner Jugend vor der Nazizeit, die die FAZ manchmal abdruckt, an den beleibten Kulturhistoriker Egon Friedell: "Mir wurde berichtet, dass er einmal bemerkt haben sollte: 'Wie ich gerade aus den Gazetten erfuhr, sollen die Amerikaner in ihrer Hemmungslosigkeit jetzt sogar schon im Auto Liebe machen, und das nennt man drüben necking-parties.' Und nach einer Weile habe er hinzugefügt: 'Einmalig, diese Amerikaner! Wo's doch schon im Bett so unbequem ist!'"

Weiteres: Heinrich Wefing schildert einen Museumsboom in den USA. Michael Jeismann hat einem Treffen ehemaliger Danziger Bürger aller Nationen in Danzig beigwohnt. In einer Meldung wird die Krise des Buchmarkts beschworen - Umsatzrückgang: 3,9 Prozent (leider bringen die Berliner Seiten nichts über die traurige Lage beim großen Berliner Buchhändler Kiepert, wo heute Betriebsversammlung abgehalten wird, weil die Gehälter nicht mehr ausgezahllt werden können, darum hier ein Link auf die entsprechende Meldung in der Berliner Zeitung.). Siegfried Stadler meldet, dass die Lutherkanzel aus dem Wittenberger Luthermuseum in die Stadtkirche zurückkehren soll. Joseph Hanimann erzählt, wie die Franzosen den 200. Geburtstag ihres Nationaldichters Victor Hugo begingen. Thomas Wagner meldet, dass der Hezilo-Leuchter in Hildesheim restauriert wird. Katja Gelinsky berichtet über einen amerikanischen Verfassungsstreit um den rechtlichen Status von Verbrechensopfern. Gudrun Escher stellt ein vom Büro Auer und Weber und Götz Guggenberger entworfenes neues Hochhaus in Frankfurt-Niederrad vor. Shi Ming schildert ein von der kommunistischen Führung in China entfachtes "Geschichtsfieber", mit dem politische Absichten der Regierung legitimiert werden sollen.

Auf der Medienseite porträtiert Alexander Bartl die für Arte arbeitende Jorunalistin Annette Gerlach. Und Amelie von Heydenbrink resümiert eine Rede des Springer-Chefs Mathias Döpfner, aus der unter anderem hervorgeht, dass den Zeitungen Welt und Berliner Morgenpost allenfalls noch drei Jahre bleiben, falls die "größte Krise der Printmedien seit dem Zweiten Weltkrieg" noch anhält. Auf der Stilseite stellt Oliver Jungen das "Märchenbordell" des Schriftstellers Peter Verhelst in Brügge vor. Außerdem denkt Andreas Rosenfelder über den Berufsstand des Schiedsrichters nach. Auf der letzten Seite schreibt Dietmar Dath zum 50. Jubilkäum der Fischer-Taschenbücher. Andreas Obst erinnert uns an die Existenz des Glamrockers Gary Glitter. Und Dietmar Polaczek erzählt, wie es die italienischen Behörden schafften, den von Mussonini geraubten Obelisken von Axum nicht nach Äthiopien zurückzubringen, obwohl diese Rückführung seit 1947 zugesagt ist.

Besprochen werden ein Auftritt Gidon Kremers mit Bachs Partiten beim Kronberger Kammermusikfest und der Film "The Majestic" mit Jim Carrey.

Zeit, 29.05.2002

Sowohl der politische Teil als auch das Feuilleton befassen sich mit der Antisemitismus-Debatte. Das American Jewish Committee (AJC) hat in Berlin eine Studie über die deutsche Nahost-Berichterstattung vorgelegt, die dem deutschen Diskurs antisemitische Diskurselemente bescheinigt. Klaus Hartung bemängelt, dass die Studie trotz dieses harten Vorwurfes zu unverbindlich und vage bleibe. Der Verdacht werde suggeriert und inflationär gemacht, was leider auch das Richtige der Studie entwerte. Was das AJC als Relativierung der eigenen Vergangenheit wertet, sei oft nur die übermächtige Schablone der Täter-Opfer-Perspektive. Selbstkritik im Journalismus sei wichtig, "aber soll man am Ende die Realität ignorieren, bloß um sich nicht eines Vorurteils verdächtig zu machen?" Die Studie haben wir im Netz leider nicht gefunden, aber immerhin eine Projektbeschreibung des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung.

Im Feuilleton-Aufmacher denkt Jan Ross über "politische Korrektheit" nach und warnt davor, befreiende Tabubrüche mit enthemmenden Entfesselungen zu verwechseln: "Der Erfolg populistischer Bewegungen und ihrer Führergestalten, wie jüngst in den Niederlanden, hat regelmäßig mit dem Aussprechen des scheinbar Unaussprechlichen zu tun, mit der Rebellion gegen echte oder angebliche Meinungskartelle."

Der Syrer Bassam Tibi, Professor für Internationale Politik, sieht ein Problem im vorpluralistischen Absolutheitsanspruch des Islam und warnt vor falsch verstandener westlich-liberaler Toleranz auf christlicher Seite (dazu auch ein Interview im Deutschlandfunk). Damit es zu dem so notwendigen Dialog zwischen Kulturen und Religionen kommen kann, müssen dafür die Voraussetzungen geschaffen werden: kein verklärter Eskapismus, sondern Begriffsklärungen und zensurfreie Konfliktbereitschaft. "Die Geschäftsgrundlage muss die Akzeptanz des religiösen Pluralismus sein, also die Anerkennung der Gleichberechtigung der Religionen."

Und sonst im Feuilleton: Jörg Lau berichtet begeistert von dem neuen Synagogen-Bau in Chemnitz (mehr dazu hier), der Ernst Blochs Definition der Architektur als "Produktionsversuch menschlicher Heimat" aufgreift. Katja Nicodemus liefert einen Rückblick auf die Filmfestspiele von Cannes und deren Semiotik. Volker Hagedorn schreibt über Albrecht Puhlmann, den umstrittenen Chef der Hannoveraner Oper, und sein aufgebrachtes Publikum. Claudia Herstatt erzählt die Erfolgsgeschichte des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach. Der CDU-Abgeordnete Norbert Lammert erörtert, wie die Gründung der Kulturstiftung des Bundes (hier zur Homepage) den deutschen Kulturföderalismus in Schwierigkeiten bringt.

Über den Grand Prix der Eurovision, schlagerfertige Balten und Dimensionsverwirrungen im Baltikum sinniert der estnische Schriftsteller Kaur Kender. Und Thomas E. Schmidt überlegt, ob die norwegische Literatur die Monarchie abschaffen kann.

Besprochen werden zwei Londoner TheaterstückeDouglas Maxwells "Helmet" am Londoner Soho Theatre und "The Power Book" am National Theatre, Etienne Chatiliez' Film "Tanguy" und die Austellung "Manifesta" in Frankfurt.

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Evelyn Finger einen Roman über einen irischen Helden im australischen Outback: Peter Careys "Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Schließlich soll noch auf das Dossier hingewiesen werden, in dem Georg Blume berichtet, wie sich in der chinesischen Justiz zum ersten Mal Widerstand gegen die Todesstrafe regt.

TAZ, 29.05.2002

In der Clubkolumne der taz führt uns DJ Hans Nieswandt nach Odessa. Zu sehen gibt es dort Eisensteins berühmte Treppe, alte Wolgas und jede Menge schöne Menschen: "Sie tragen enge Jeans mit kunstvollen Bleichungsverläufen, in die oft auch noch Gesäßpartien von Röcken und Perlen eingearbeitet sind oder die mit Lederriemchen seitlich zugebunden werden. In ihrer Begleitung sind starke, kleine Männer in geringelten Polohemden, die über den Muskeln spannen." Enttäuschend dagegen der Tanzstil der Ukrainer: "Kaum einer kann hier schmoov schmooven, stelle ich fest: Entweder sie wiegen sich nur so bedächtig hin und her oder sie pogoen direkt wild auf und ab." Kann man nichts machen.

Außerdem freut sich Thomas Girst über Maurizio Cattelans hemmungslosen Bildband "Charley", der 400 hoffnungsvolle Künstler auf ebenso vielen Seiten präsentiert. Michael Nungesser besucht eine Ausstellung in Hannovers Sprengel Museum, die Horst Antes Werk mit dem seiner Zeitgenossen kommunizieren lässt, und Jürgen Berger staunt, dass Stefan Pucher "Heinrich IV." in Zürich als großräumiges Cinemascope-Theater bringt, während das Volk um Kredite fürs Schauspiel gebeten wird.

Schließlich TOM.

FR, 29.05.2002

In der FR nimmt Karl Grobe Bushs Moskau-Besuch den Nimbus des Historischen und den Geschmack von Friede, Freude, Eierkuchen: "Den Kalten Krieg haben nicht erst Putin und Bush beendet", erklärt er. "Sie wollen vielmehr den anderen Krieg, den gegen den Terrorismus, gemeinsam gewinnen; aber was in Bushs Ohren als clash of civilisations widerhallt, das klingt in denen Putins tschetschenisch." Außerdem sei Russlands Weg nach Westen weiter als es den Anschein hat. "Da hat Bush ein Danaergeschenk hinterlassen, indem er eine Illusion stärkte. Die Illusion nämlich, Westbindung (Stichwort: Nato) bedeute Wohlstand pronto. Kommt dieser nicht, so folgt machtvertikaler Populismus zur Abwehr gerade der einfordernden zivilen Gesellschaft. Putin und seine Mannschaft mag's erfreuen. Bush wird's nicht sehr kümmern. Doch zwischen Russland und dem übrigen Europa bleibt die Kluft."

Reinhart Wustlich stellt uns den australischen Architekten und diesjährigen Pritzker-Preisträger Glenn Murcutt als bescheidenen Exoten vor. "Times mager" hat ein werbetechnisches Pendant zum endlosen Absturz der T-Aktie gefunden, und Jörg Heiser nimmt uns mit auf einen spannenden Streifzug durch den Kosmos der Filmmusiken und ihrer Funktionen.

Besprechungen widmen sich einer Werkschau des Fotografen Gustave Le Gray (hier einige Bilder) in der Pariser Bibliotheque Nationale und Hans Neuenfels' "Don Giovanni"-Inszenierung in Stuttgart.

NZZ, 29.05.2002

Jan-Heiner Tück erklärt, "warum der Papst nicht zurücktreten" kann: "In der Hinfälligkeit des Papstes bezeugt gerade das Fleisch eine Liebe zur Transzendenz, die bis zum Äußersten geht. In diesem Zeugnis aber liegt die Kraft des Gebrechens, von der schon Paulus gesprochen hat."

Weiteres: Georges Waser resümiert ein Kolloquium der Balzan-Stiftung in London, welches sich dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften widmete. Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten Jacopo Barozzi da Vignola (1507-73) in Vignola, die Ausstellung "Hexenwahn - Ängste der Neuzeit" im Deutschen Historischen Museum, die Berner Tanztage mit dem Hans Hof Ensemble, CDs mit Werken des Komponisten Valentin Silvestrov, die Sinfonien von Giya Kancheli in Gesamtaufnahme und einige Bücher, darunter Hörbücher mit "Faust" und "Peter Pan"-Rezensionen durch Peter Stein und Leander Haussmann und Christian Meiers Buch "Von Athen bis Auschwitz" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 29.05.2002

In der SZ wartet der Schriftsteller Tariq Ali ("The Clash of Fundamentalism") mit einer Lösung für den immer bedrohlicher werdenden Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan auf: "Gefragt ist eine umfassende wirtschaftliche und politische Regelung, zu deren Früchten auch eine gemeinsame Souveränität über Kaschmir gehörte. Eine Südasiatische Union, teilweise nach dem Vorbild der EU und unter Einschluss Indiens, Pakistans, Bangladeschs, Nepals und Sri Lankas, könnte für die Region insgesamt hilfreich sein. Die Gründerstaaten würden ihre Souveränität behalten, aber eine 'weiche Grenze' zwischen ihnen würde Kaschmir eine echte Autonomie gewähren, die auch auf die tamilischen Regionen Sri Lankas ausgedehnt werden könnte. Die Kaschmiri würden ihre Bereitschaft erklären, auf eine eigene Armee und eine eigene Außenpolitik zu verzichten, sofern eine gemeinsame Souveränität innerhalb eines größeren Rahmens möglich wäre."

Anlässlich der heutigen Verleihung des Pritzker-Preises an Glenn Murcutt, gibt es ein Gespräch mit dem australischen Ausnahme-Architekten, der ausschließlich auf seinem Kontinent baut und auch nur ganz, ganz kleine Häuser. Warum gerade er den Preis bekommt, den sonst nur die Global-Player der Branche einheimsen? "Der Preis soll wohl Anerkennung für einen Architekten sein, der sich mit einfachen Dingen befasst, nämlich damit, wie wir unseren Planeten behandeln. Es geht darum, mit der Natur zu arbeiten, statt gegen sie." Preisverdächtig auch Murcutts Idee, Häuser zu bauen, "die nur an zehn Punkten mit dem Boden verbunden sind. Die kann man auseinander schrauben, und dann weiß man nicht mehr, dass dort ein Haus stand".

Ferner erzählt Gottfried Knapp, wie arrivierte britische Künstler sich für den Erhalt regionaler Museen einsetzen. Ulrich Raulff besucht die Londoner Queen's Gallery im Neubau von John Simpson ("eine Orgonkammer zur Aufladung mit dem sex appeal des Klassizismus"). Pia Frankenberg liefert Impressionen von der Filmreihe "After the War, Before the Wall, German Cinema 1945-60", die das Goethe-Institut und Kirch Media in New York veranstalteten. Fritz Göttler annonciert neue Militainment-Projekte des Produzenten Jerry Bruckheimer ("Pearl Harbor"). Nils Röller war auf einer Weimarer Tagung mit dem kryptischen Titel "Passagen des Experiments", wo Wissenschaftsgeschichte und Medienwissenschaft nicht zueinander fanden. Wir lesen von einer Grass-Ausstellung, mit der die Casa di Goethe in Rom ihren fünften Geburtstag begeht, und Volker Breidecker freut sich über die literarische Belebung der Provinz: Das Literatur- und Musikfestival "Wege durch das Land" zieht durch Westfalen.

Besprochen werden Laurent Chetouanes Inszenierung von Heiner Müllers "Philoktet" am Nationaltheater Mannheim, Robert Wilsons Zürcher "Ring", Costa-Gavras' "Stellvertreter"-Verfilmung "Amen", Jeanine Meerapfels Film "Annas Sommer" und "Down", in dem der Regisseur Dick Maas Hochhaustraumata von New York verarbeitet. Bücher werden natürlich auch vorgestellt: Andreas Maiers Roman "Klausen", Manfred Fuhrmanns etwas anderer Kanon "Bildung" sowie ein Buch, das sich für die Finanzen der Kirchen in Deutschland interessiert (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).