Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2002. "Leider gar nicht gut" fällt für den französischen Autor Patrick Demerin in der FAZ die Bilanz des Senders Arte aus. Die FR analysiert Jürgen Möllemanns Antisemitismus. Die SZ interviewt Nikolaus Harnoncourt. Die taz findet die Manifesta "gediegen, umsichtig, vernünftig".

FAZ, 28.05.2002

Arte wird zehn. "Leider gar nicht gut" fällt die Bilanz des von Kohl und Mitterrand gegründeten Senders nach den Worten des Schriftstellers Patrick Demerin aus, der jahrelang bei Arte mitarbeitete. Die Partikularinteressen in Paris und der deutschen Leitstelle in Baden-Baden seien stark, die Zentrale in Straßburg schwach. Und beide Seiten kriegen ihr Fett ab: "Die Franzosen, anders als die Deutschen, weigern sich nach wie vor, Arte überhaupt als 'deutsch-französischen Sender' zu bezeichnen. Sie sprechen lieber von einem 'europäischen' Programm. Würden sie sich auf das 'Deutsch-Französische' und damit auf die tägliche erlebte Arbeitswirklichkeit einlassen, müßten sie ein Mindestmaß an Überlegungen auf die Osmose zwischen deutschen und französischen Elementen wenden, die sie jedoch aus tiefster Überzeugung ablehnen." Und "die Deutschen - also ARD und ZDF - schauen auf die Kasse und sonst nichts: Für sie kam die Gründung von Arte Anfang der Neunziger gerade recht, um mit den dafür zusätzlich eingetriebenen Gebühren Verluste an Werbeeinnahmen zu mildern, die durch den Erfolg der Privatsender entstanden. Unter den Augen der machtlosen Franzosen machen sie nette Gewinne." Und so freuen sich beide Seiten!

Heinrich Wefing berichtet, dass George W. Bush jene Direktive zurückgenommen hat, nach der Akten des Weißen Hauses nach zwölf Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. "Der 'Presidential Records Act' hatte festgeschrieben, daß Regierungsdokumente nicht Privatbesitz des Amtsinhabers sind, sondern Staatseigentum. Bush versucht nun eine Reprivatisierung. Seine 'executive order 13 233' stellt das Gesetz von 1978 auf den Kopf: Aus dem allgemeinen Zugang zu den Dokumenten wird ein streng limitierter; der Forscher, der Anspruch auf Einsicht in die Papiere hatte, wird zum Bittsteller erniedrigt, der nach Gutdünken des Präsidenten abgewiesen werden kann."

Weiteres in einem heute trotz Anzeigenkrise recht umfänglichen FAZ-Feuilleton: Julia Spinola ist hingerissen vom Stuttgarter "Don Giovanni" unter Lothar Zagrosek und Hans Neuenfels und lobt unter anderem Rudolf Rosen in der Titelrolle: "Obwohl ganz augenscheinlich ein Monster, steckt in diesem Don Giovanni doch auch noch etwas von einem verletzten Jüngling." Johan Schloemann beschreibt die Stimmungslage in Dänemark, wo sich eine Möllefrau namens Pia Kjaersgaard (und hier) und ihre Volkspartei mit Hilfe der lutherischen Kirche zur rechtspopulistischen Kraft emporstemmten. Jordan Mejias sieht die mächtige Smithsonian Institution mit ihren Museen in Washington und New York in der Führungskrise. Wolfgang Schneider war dabei als Robert Menasse von Aleksander Tisma einen Preis im Namen Lion Feuchtwangers erhielt. Eva Menasse (verwandt?) meldet das 250-jährige Bestehen des Wiener Tiergartens Schönbrunn. Susanne Klingenstein war dabei, wie man in Cambridge, Massachusetts, am MIT, über Michael Frayns Stück "Kopenhagen" diskutierte.

Ferner hat Andreas Kilb angesichts der "filmischen Demut und schlichten Menschlichkeit" des Films nichts dagegen, dass Roman Polanskis "The Pianist" die Goldene Palme in Cannes erhielt. Dietmar Polaczek berichtet über die schwere Arbeit des italienischen Datenschutzbeauftragten. Oliver Jungen resümiert eine hoch besetzte Tagung über die Medien im Zeitalter des Internets am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung. Der Soziologe Walter Siebel erblickt in der FAZ-Serie über das Ruhrgebiet Chancen für "Deutschlands größte Stadt". Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert der Philosophiehistoriker Ulrich Johannes Schneider an das erste deutsche Universallexikon, den "Zedler". Auf der letzten Seite porträtiert Eva Menasse den österreichischen Autor und Meister des Dramoletts Antonio Fian. Eleonore Büning porträtiert einen weiteren Österreicher, nämlich Nikolaus Harnoncourt, den "Unverzagten". Und Dietmar Polaczek erzählt, wie eine riesige Beton- und Bauruine am Golf von Salerno aus ökologisch-ästhetischen Gründen demoliert wurde und wie die selbe Unternehmerfamilie, die sie einst hochziehen wollte, nun ein neues Beton-Ungetüm an gleicher Stelle plant.

Besprochen werden das große, von drei Basler Museen veranstaltete Kunstspektakel "Painting on the Move" (mehr hier), Max Frischs Stück "Graf Öderland" in Köln, Stefan Puchers Inszenierung von Shakepeares "Heinrich IV.", die 2. Triennale der Fotografie in Hamburg (mehr hier), Lothar Baumgartens Installation "Carbon" im Industriebau der DuPont-Stiftung im holländischen Tilburg.

NZZ, 28.05.2002

Reines Rezensionsfeuilleton heute in der NZZ. Besprochen werden Shakespeares "Heinrich IV." in der Zürcher Schiffbauhalle, von Stefan Pucher "effektvoll-spektakulär" in Szene gesetzt, die Ausstellung "Räume des XX. Jahrhunderts" in der Nationalgalerie Berlin, ein "Don Giovanni" in der Staatsoper Stuttgart, ein Kammermusikabend mit Emmanuel Pahud in Zürich, "Architecture de l'urgence" - eine Ausstellung im Centre d'Art Contemporain in Freiburg, die "Unterkünfte für Minderbemittelte und Obdachlose" präsentiert, Aufführungen des Royal Ballet und der Rampert Dance Company in London und Bücher, darunter ein Reisebericht von Hermann Kummler, der von 1888-1891 "Als Kaufmann in Pernambuco" war (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 28.05.2002

Brigitte Werneburg berichtet von der 4. Manifesta für zeitgenössische Kunst, die derzeit in Frankfurt stattfindet. Sie stellt eine Auswahl von Künstlern mit ihren Werken vor, lobt auch die sorgfältige Präsentation, aber ein wenig langweilig war's dann wohl doch: "Gediegen, umsichtig, vernünftig sind Begriffe, mit denen die Vielzahl der Sprechweisen, Untersuchungen, Dokumentationen und Aktionen charakterisiert werden können... Was fehlt, ist das Schrille, vielleicht Bösartige, schließlich das Misslungene, Ärgerliche, irgendetwas, das deutlich quer schießt."

Weitere Artikel: Cristina Nord kommentiert die Palmen-Verleihung in Cannes, Jenny Zylka arbeitet sich etwas bemüht an der These vom Aufstieg "alberner Jeans-Ideen" zum "Individualisierungsträger" ab, und die taz meldet den Tod von Hans Posegga, der (nicht nur) die Titelmelodie der "Sendung mit der Maus" komponierte.

Besprochen werden Bücher, so das neueste von Oskar Lafontaine, eine Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward Said über "Das Ende des Friedensprozesses", Erzählungen von George Saunders und ein Krimi von Bill James (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 28.05.2002

Christian Schlüter kommentiert Möllemanns Antisemitismus-Äußerungen und dessen Neuentdeckung für die FDP: dass der "politische Körper aus Fleisch und Blut" bestehe. Bislang habe es die FDP als "Partei der Besserverdienenden" verstanden, "allenfalls das Ressentiment des Sozialneids zu wecken. Doch Möllemann hat ihr ein neues Terrain erschlossen und den Affekt zur allgemeinen Grundlage politischer Entscheidungen gemacht." Im Zuge seiner "Erneuerung des politischen Körpers an Haupt und Gliedern" wolle Möllemann diesem "ein paar neue Prothesen verpassen, eine davon ist der Antisemitismus".

Weitere Artikel: Max Nyffeler porträtiert und würdigt den diesjährigen Siemens-Preisträger Nikolaus Harnoncourt, und Christiane Meixner stellt uns die vier Konkurrenten um den diesjährigen Berliner Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst vor. Daniel Kothenschulte resümiert die Filmfestspiele Cannes als "wunderbare Endlosschleife". V. Hummel und L. Bulnheim erklären und kommentieren den Bootleg-Trend und die Copyright-Diskussion in der Musikbranche. Natascha Freundel berichtet von einer Berliner Tagung, bei der es um "Schauplätze des Wissens" ging. Eckhard Henscheid geißelt in seiner Kolumne "Wahrworte" noch einmal J.B. Kerners Erfurt-Berichterstattungsdebakel. Peko. meditiert über die deutsche Grand-Prix-Schlappe. Und Rap. schließlich informiert in aller Kürze über den aktuellen Stand im Kasseler Intendantenstreit.

Besprochen werden das "Meistersinger"-Remake von Christof Nel an der Frankfurter Oper, ein Gastspiel von ZT Hollandia mit Euripides' "Die Bakchen" (mehr hier) und Stefan Puchers Inszenierung von Shakespeares "Heinrich IV" in Zürich.

SZ, 28.05.2002

Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt wird heute mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis ausgezeichnet. Im SZ-Interview äußert sich der 1929 geborene Pionier der Alten Musik zu Pisa und über die Notwendigkeit der musischen Kindererziehung. Denn erst "durch die Kunst wird der Mensch zum Menschen. Nimmt man ihm die Kunst weg und alles, was mit der Kunst zu tun hat - dieses hypothetische Denken: über fünf Denkvorgänge hinweg schon ein Ziel im Auge haben -, dann ist er sehr effektiv, aber im Grunde ist er nicht sehr viel besser als ein Schimpanse, der einen Stein benutzt, um eine Nuss aufzuknacken. Das ist auch sehr gescheit. Und den Stein zu einem Hammer, dann zu einer Kreissäge und dann zu einem Computer auszubauen, das ist alles noch Affenintelligenz. Die menschliche Intelligenz kommt durch den Musenkuss."

Weitere Themen: Jörg Häntzschel berichtet über den Stadionbauboom in Japan und Korea. Tobias Kniebe bilanziert die Filmfestspiele von Cannes. Alex Rühle stöhnt über die Lebenslüge Bio, genauer seine neueste Errungenschaft: das federlose Huhn. Sonja Zekri informiert über einen Hackerangriff auf Möllemanns Forum im Internet. G.K denkt aus gegebenem Anlass über die rüden Motive und Methoden von Kunstklauern nach, und in der Kolumne "Zwischenzeit" geht es um Lektüreerfahrungen mit einer Christa-Wolf-Biografie. Tost kommentiert schließlich noch in Kurzform die angekündigte Kurzarbeit bei Hugendubel.

Im Musikschwerpunkt lesen wir heute ein Porträt des englischen Saxofonisten und "musikalischen Exzentrikers" Lol Coxhill, außerdem CD-Empfehlungen: des US-Sängers Little Jimmy Scott (mehr hier und hier), westafrikanische Reiseerinnerungen von Damon Albarn (mehr hier), der englischen Gruppe Doves (mehr hier), Adam Green, Bobby Previte (mehr hier), Moby (mehr hier), Altmeister Van Morrison (mehr hier) und Reclose. Die zugehörigen diskografischen Angaben finden Sie hier.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Painting on the Move" in Basel an drei Orten, eine Theaterversion von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" in Bonn, Shakespeares "Heinrich IV" in der Zürcher Schiffbauhalle, Hans Neuenfels' Inszenierung von "Don Giovanni" in Stuttgart, ein Münchner Konzertabend mit Musik von Mahler und Rihm, sowie Bücher, darunter das letzte Werk des vergangene Woche verstorbenen Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould, ein neuer Roman von Julian Barnes und die Autobiografie der seit Februar entführten kolumbianischen Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).