Efeu - Die Kulturrundschau
Das Alltägliche zum Schweben bringen
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Film

Endspurt in Cannes. Eindeutige Favoriten lassen sich den Berichten bislang allerdings noch nicht entnehmen. Immerhin Park Chan-Wooks "Decision to Leave" ist "unter Kritiker:innen besonders beliebt", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz, bleibt selber aber distanziert. Der Thriller spielt im koreanischen Busan, ein Ermittler verliebt sich ausgerechnet in eine Mordverdächtige. Doch "dass man nicht recht herausbekommt, was die beiden aneinander finden, ist eines der Hindernisse, wenn man der Sache folgen will. Man hat zwischendurch den Eindruck, man sieht einer Romanze zu, die sich nicht ganz entscheiden kann, weil sie sich eigentlich dem Thrillergenre verpflichtet fühlt. So gleitet man beim Zuschauen stets ein wenig an der Sache ab, verliert den Faden." In der Welt reagiert Jan Küveler sehr viel enthusiastischer: Der koreanische Autorenfilmer verbessere hier mal eben so den amerikanischen Film Noir.

Aber vielleicht geht die Palme ja auch an Hirokazu Kore-Edas in Südkorea gedrehte Tragikomödie "Broker"? Der ohnehin sehr geschätzte japanische Regisseur übertrifft sich jedenfalls selbst, schwärmt Daniel Kothenschulte in der FR: Ein junge Frau, die ihr Kind in einer Babyklappe abgibt, sieht sich hier mit einem Mal mit korrupten Machenschaften konfrontiert, was in ein Road Movie mündet. "Unterwegs enthüllt jeder und jede von ihnen, was ihn und sie antreibt, wonach sie sich sehnen, wovor sie sich fürchten", schreibt dazu FAZ-Kritiker Andreas Kilb. "Das ist das Gesetz des Kinos. Oder besser: des guten Kinos." Kore-Eda "hält das Geschehen in der Schwebe, bis eine Lösung unvermeidlich wird. Auf dem Weg dorthin sammelt der Film Augenblicke und Orte ein, die ebenso zu seiner Erzählung gehören wie zur Welt da draußen. ... Einmal, als die Reisenden in Hotelbetten liegen, sagt jeder von ihnen zu den anderen: 'Danke, dass du geboren bist.' Technisch betrachtet ist das nur eine Drehbuchidee. Aber es gehört zu den Dingen, die man im Kino noch nicht gehört hat."
Das französische Kino präsentiert sich in Cannes mal wieder als "auffallend homogen", berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel: "Ob die neuen Filme von Arnaud Desplechin, Emmanuel Mouret und Michel Hazanavicius oder aber auch von geschätzten Regisseurinnen wie Claire Denis, Mia Hansen-Løve und Alice Winocour - man bewegt sich im Kino dieses Jahr in vertrauten sozialen und sehr weißen Milieus." Gerade die französischen Filme sind es allerdings, die FAZ-Kritiker Andreas Kilb, der auf diesem Festival schon viel seufzen, gähnen und auf die Uhr schauen musste, mit diesem Jahrgang etwas versöhnen. Es gibt in Cannes also auch Filme, "die einfach nur schön sind", schreibt er und meint damit "Un beau main" von Mia Hansen-Løve, "ein Film, der die Aufschwünge und Miseren seiner Figuren mit liebevollem, zutiefst mitfühlendem Blick betrachtet. ... Oder 'Chronique d'une liaison passagère' von Emmanuel Mouret, der "eine Art hat, das Alltägliche zum Schweben zu bringen, dass man dem Film alle seine Längen und Lücken verzeiht".
In der Zeit ärgert sich Katja Nicodemus, dass Cannes seinen Wettbewerb notorisch unparitätisch kuratiert: Frauen sind in diesem - dann auch noch durchwachsenen - Jahrgang mal wieder dramatisch in der Unterzahl. "Es gehe nicht um Quote, sondern um Qualität - so lautet die Standardantwort von Cannes auf die mangelnde Präsenz von Regisseurinnen im Wettbewerb. Ebendiesen strengen Qualitätsmaßstab legt man aber nicht bei der routinierten Einladung früherer Palmengewinner an. ... Das wichtigste Filmfestival der Welt wirkt wie der französische Hof kurz vor der Revolution von 1789: erstarrt im Zeremoniell, gefangen in Hierarchien und geistiger Günstlingswirtschaft. Viel Puder, wenig Bewegung."
Weiteres: Sergei Loznitsa spricht in der NZZ über seinen neuen Essayfilm "Natural History of Destruction" (mehr dazu bereits hier) und über die Frage, ob man russische Künstler boykottieren soll. Aus dem Festivalprogramm besprochen wird außerdem Baz Luhrmanns Biopic "Elvis" (Welt, Tsp, TA).
Abseits von Cannes: Andreas Scheiner schreibt in der NZZ einen ersten Nachruf auf den völlig überraschend verstorbenen Schauspieler Ray Liotta. Esther Buss empfiehlt im Standard dem Wiener Publikum eine Retrospektive Ulrike Ottinger im Filmmuseum. In der FR blickt Thomas Stillbauer auf 50 Jahre "Raumschiff Enterprise" zurück. Vor 90 Jahren trat Goofy zum ersten Mal in einem Micky-Maus-Cartoon auf, erinnert Andreas Platthaus in der FAZ.
Besprochen werden Icíar Bollaíns "Maixabel" über den ETA-Terror (Perlentaucher, Freitag), der neue "Top Gun"-Film mit Tom Cruise (Perlentaucher), Julian Radlmaiers "Blutsauger" (54books, unsere Kritik hier), Paul Schraders "The Card Counter" (Intellectures), Natja Brunckhorsts Regiedebüt "Alles in bester Ordnung" mit Corinna Harfouch (ZeitOnline), die Arte-Serie "Wild Republic" (taz), Jonas Rothlaenders Dokumentarfilm "Das starke Geschlecht" über männliche Sexualität (Freitag), die ARD-Doku "Volksvertreter" über die AfD (FAZ), neue Serien mit Hip-Hop-Bezug (ZeitOnline) und die auf MagentaTV gezeigte Serie "Crime" nach Irvine Welsh (FAZ).
Kunst

Nur zwei Tage war Eva Hesse im Jahr 1968 Gastkünstlerin am Allen Memorial Art Museum des Oberlin College, aber die Begegnung war so bedeutend, dass das Haus neben zahlreichen Arbeiten aus Hesses Nachlass auch 300 Arbeiten auf Papier erhielt, weiß Sarah Rosa Sharp bei Hyperallergic. Jenen ist derzeit die Ausstellung "Forms Larger and Bolder: Eva Hesse Drawings" gewidmet. "Hesse und ihr damaliger Ehemann, der Bildhauer Tom Doyle, wurden vom deutschen Industriellen Arnhard Scheidt zu einem längeren Aufenthalt auf dem Gelände seiner stillgelegten Textilfabrik in der Kleinstadt Kettwig eingeladen. Das postindustrielle Umfeld hinterließ einen tiefen Eindruck bei Hesse, die begann, expressionistische Collagen zu schaffen, die sie 'Wild Space' nannte, sowie ihre sogenannten 'mechanischen Zeichnungen'. Am aufschlussreichsten ist vielleicht eine Auswahl von Arbeitsskizzen und Diagrammen von 1967 bis 1970, von denen einige direkt mit realisierten Skulpturen in Verbindung stehen; andere haben sich nie über das schematische Stadium hinaus entwickelt, entweder absichtlich aufgegeben oder vom Schicksal vereitelt."

Wehmütig blickt Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel auf die stillen, mitunter "intimen" Fotografien des in Leipzig lebenden ukrainischen Fotografen Ruslan Hrushchak, dessen Aufnahmen aus den Jahren 2010 bis 2020 derzeit in der Berliner Galerie Buchkunst zu sehen sind: "Zwei Frauen schlafen im Zug, das Fenster gibt den Blick auf eine malerisch weite Landschaft frei. Kinder spielen auf einer Straße, die nach Transkarpatien führt, eine friedlich Szene. Allerdings kommen einem die Mietskasernen in Hrushchaks Heimatdorf Drohobytsch seltsam vertraut vor. Ähnliche Häuser sind jetzt tagtäglich in den Nachrichten zu sehen, sie haben leere schwarze Fensterhöhlen und zerbombte Fassaden. Hrushchaks unspektakuläre Alltagsszenen gleichen einer Zeitkapsel. Sie konservieren eine Ukraine, die es so nicht mehr gibt, und zeigen Menschen, die Hoffnungen auf ein besseres Leben hatten."
Außerdem: 23 Objekte aus dem Ethnologischen Museum gehen endgültig nach Namibia zurück, darunter Puppen, ein Schildkrötengehäuse und ein Trinkgefäß aus verziertem Straußenei, meldet Nicola Kuhn im Tagesspiegel.
Besprochen werden die Ausstellung "Annette Kelm - Die Bücher" in der Kieler Kunsthalle (taz) und die Ausstellung "Typisch Franken?" in der Orangerie in Ansbach (FAZ).
Literatur
Außerdem: Der neue Tellkamp-Roman "Der Schlaf in den Uhren" ist trotz, vielleicht aber auch gerade wegen der Verrisse in den Feuilletons direkt auf Platz Eins der Bestsellerlisten gestiegen, "womit nun auch ein Tellkamp-Titel das Paradebeispiel für die Verkaufsförderung durch Verrisse liefert", meldet der Buchreport. In der SZ verrät der Schriftsteller Senthuran Varatharajah, was er derzeit liest - nämlich derzeit zum wiederholten Mal "Schwerkraft und Gnade" von Simone Weil. Es ist nicht das erste Mal, dass der Untergang Sylts ausgerufen wird, erinnert sich der Schriftsteller Eckhart Nickel in der SZ - nämlich als die Deutsche Bahn in den 90ern das damals noch sagenhaft günstige Wochenendticket ins Leben rief.
Besprochen werden unter anderem Don Winslows "City on Fire" (TA), Phil Klays "Den Sturm ernten" (NZZ), Julia Webers "Die Vermengung" (NZZ), Katja Petrowskajas Kolumnensammlung "Das Foto schaute mich an" (ZeitOnline), Ré Soupaults "Überall Verwüstung. Abends Kino. Reisetagebuch 1951" (Tsp) und Amanda Cross' Thriller "Thebanischer Tod" (Tsp).
Bühne
Besprochen werden Peter Konwitschnys "Walküre"-Inszenierung an der Oper Dortmund (FR), Ina Christel Johannessens Choreografie von Shakespeares "Der Sturm" am Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz (SZ), Richard Jones' "Parsifal"-Inszenierung an der Pariser Oper unter dem Dirigat von Simone Young (SZ), Marie Bues' und Jonas Knechts Inszenierung von Maria Ursprungs "Die nicht geregnet werden" am Theater St. Gallen (nachtkritik), die Opern "Bluthaus" und "Thomas" von Georg Friedrich Haas und Händl Klaus an der Bayerischen Staatsoper (NZZ, Van Magazin), Christian Stückls Oberammergauer Passionsfestspiele (NZZ), Edward Clugs "Peer-Gynt"-Inszenierung am Opernhaus Zürich (NZZ) und Ethel Smyths Oper "The Wreckers" bei den Opernfestspielen in Glyndebourne (FAZ).
Musik
Besprochen werden die Soli-Compilation "Rusishe krigshif, shif zikh in dr'erd. Jewish Voices condemn Russia's war against Ukraine" (taz), das neue Album von Harry Styles (FR), ein Auftritt von Pussy Riot (FR, FAZ), ein Konzert der New Yorker Philharmoniker auf Usedom (Welt), ein Chopin-Abend des Pianisten Ivo Pogorelich (Standard) und das neue Musikvideo von Oliver Sim (ZeitOnline).