Efeu - Die Kulturrundschau
Erfolglosigkeit gibt dir Freiheit
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Film
Ansonsten wurden die Preise eher mit der Gießkanne verteilt, stellt Hanns-Georg Rodek in der Welt fest: "Wenn man die übliche Rechnung aufmacht, ist 'Nomadland' mit drei Statuen ein recht schwacher Sieger; vorbei die Zeiten, als 'Titanic' oder 'Herr der Ringe' elf Oscas mitnahmen. ... Unter den Doppelsiegern ist 'The Father' (Schauspieler und adaptiertes Drehbuch) der stärkste, während der zehnmal nominierte 'Mank' mit zwei Statuen für Ausstattung und Kamera abgespeist wurde. 'Mank' war die größte Hoffnung für Netflix, dem ein weiteres Jahr die größte Trophäe entging."
Wer ist eigentlich Chloé Zhao, auf deren Filme derzeit das ganze Feuilleton fliegt? Anke Leweke (ZeitOnline) und Andrey Arnold (Presse) porträtierten die Filmemacherin, für die Zeit bespricht Georg Seeßlen ihr auf Mubi gezeigtes Regiedebüt "Songs My Brothers Taught Me" und auch das Perlentaucher-Archiv gibt Aufschluss. Ihren zweiten Film "The Rider" besprach Lukas Foerster im Perlentaucher.
Kunst

Ziemlich sympathisch und überraschend witzig findet Tilman Krause in der Welt die Arbeiterfotografie, der das Berliner Bröhan Museum die Ausstellung "Der proletarische Blick" widmet, mit Bildern von Kurt Pfannschmidt, Ernst Thormann und Richard Woike. Besonders fällt ihm auf, dass sie die Armen selten in Leidenspose fotografieren: "Arbeiter, wie sie in den 'proletarischen Blick' genommen werden, erheischen kein Mitleid. 'Wir meistern unser Leben', so lautet meist die Botschaft der Bilder. Dem widerspricht nicht die Dokumentation von Armut, Schlangestehen, Stempelngehen, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise aufkommt. Aber nie wäre einem Arbeiteramateurfotografen eingefallen, jenes 'graue Heer' der Notleidenden zu zeigen und auch keine 'amorphe Masse', die in der bürgerlichen Kunst so oft die Oberhand gewannen. Die Arbeiterschaft, wie die Arbeiterfotografie sie zeigt, besteht vielmehr aus vielen Einzelnen. Und die sind vor allem eines: aktiv. Sie versammeln sich zu Kundgebungen, demonstrieren für ihre Rechte, feiern, treiben Sport, messen sich in Wettkämpfen und tummeln sich in der Natur."

Der Kunstmarkt dürstet im Moment nach ausgefallenen Persönlichkeiten, weiß Christian Saehrendt, freut sich in der NZZ aber trotzdem über den unwahrscheinlichen Erfolg der britischen Malerin Rose Wylie, die mit über achtzig Jahren und nach langer Pause als Hausfrau und Mutter zu Ruhm und Anerkennung gelangte. Das Museum Langmatt widmet ihr gerade eine Schau: "Was ist Rose Wylies Geheimnis für ihren späten Erfolg? Wylie malt mit einer unverstellten, lockeren Naivität, wie sie sonst eigentlich nur Kinder, junge Künstler mit einer gewissen Punk-Attitüde oder Vertreter der Outsider-Art aufweisen. Die Künstlerin muss sich in den langen Jahren des Unbeachtetseins eine völlig autarke Haltung angeeignet haben. 'Erfolglosigkeit gibt dir Freiheit', erzählte sie einmal einem Kunstmagazin, 'du kannst tun, was du willst'."
Besprochen wird die Retrospektive der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im Berliner Gropius Bau (Standard).
Literatur
Auch Gerrit Bartels findet die Kritik im Tagesspiegel nicht fair: Er hat "schon auch den Eindruck, dass der Literaturbetrieb sich um den Einschluss schwarzer Autorinnen und Autoren bemüht, solchen of colour, zumal gerade in diesem und dem vergangenen Jahr. So viele deutschsprachige Bücher, die von unterschiedlichsten Herkünftsbereichen und Lebensläufen erzählen und auch prominent in den Programmen platziert und vermarktet wurden, auch im Sachbuchbereich, hat es bei den einschlägigen Verlagen vermutlich noch nie gegeben, etwa auch von Cihan Acar, Ronya Othmann, Olivia Wenzel oder Emilia Roig."
Außerdem: Ekkehard Knörer schwärmt in der taz von seiner überhaupt erst jetzt entdeckten Leidenschaft für Hörbücher - wobei er insbesondere Peter Matićs Einlesung von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" empfiehlt (derzeit häppchenweise beim RBB - und die ersten Lieferungen sind auch schon wieder offline - oder auf einen Satz bei Eichendorff21 erhältlich). Ulrich van Loyen erinnert im Freitag an den italienischen Krimiautor Leonardo Sciascia, der vor 100 Jahren geboren wurde.
Besprochen werden unter anderem Simon Stålenhags illustrierter Science-Fiction-Roman "Things from the Flood" (Freitag), Laila Lalamis "Die Anderen" (Tagesspiegel), Ulrike Edschmids "Levys Testament" (Tagesspiegel) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Zoran Drvenkars "Pandekraska Pampernella" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Martin Lüdke über Sergej Jessenins "In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern":
"In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern,
Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen.
Ich laß die Kate Kate sein, bin fern
..."
Bühne
Sie konnte auch Bach:
Und als Liedsängerin, mit dem großartigen Gerald Moore:
"Du schön und zart Gebild!" https://t.co/Lg86qagvcl
- Patrick Bahners (@PBahners) April 25, 2021
Weiteres: In der Nachtkritik diskutiert Esther Slevogt ausführlich die Rassismusvorwürfe am Düsseldorfer Schauspielhaus und die Frage, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Tom Mustroph berichtet in der taz, wie Puppen- und Objekttheater die Auszeit sinnvoll fü Recherchen und Studien nutzen. Besprochen werden Antú Romero Nunes' "auf den Kern verdichtete" Adaption von Herman Melvilles Roman "Moby Dick" am Theater Basel (Nachtkritik), Dušan David Pařízeks Inszenierung von Ibsens "Peer gynt" im Stream am Bochumer Schauspielhaus (Nachtkritik) und Richard Strauss' "Intermezzo" für fünfzig Zuschauer im Basler Opernhaus (FAZ).
Design
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Der Designer Alber Elbaz ist mit 59 Jahren an Covid19 gestorben. Claire Beerman schreibt einen Nachruf im ZeitMagazin: Elbaz, der unter anderem für Yves Saint Laurent und Lanvin gearbeitet hatte, war "nicht bloß einer der erfolgreichsten Modeschöpfer seiner Generation", sondern er "war auch ein Mann, der Menschen, vor allem Frauen, durchschauen konnte. Er war Therapeut und Designer zugleich; er verstand es, ihnen mit seinen Kleidern Sicherheit und Selbstbewusstsein zu geben. Meryl Streep, die ihm 2015 in New York einen Modepreis überreichte, sagte damals: 'Wenn Sie mit dem Gefühl, das Sie mir mit Ihren Kleidern geben, auch das Leben so vieler anderer Frauen verbessert haben, dann sollten Sie diesen Preis jedes Jahr bekommen.'"
Erst im Januar war Elbaz nach einer mehrjährigen Auszeit - Lanvin hatte ihn 2015 entlassen - mit einer neuen Kollektion und einem neuen Label zurückgekehrt. Ende März hatte Claire Beermann noch ein großes Gespräch mit ihm im ZeitMagazin. Über sein langes Sabbatical sagt er: "Ich vertraute der Modewelt nicht mehr. ... Der Rhythmus der Modeindustrie, der Druck, der Zeitmangel, die Tatsache, dass man immer mehr und mehr produzieren und immer billigere Arbeitskräfte finden und immer größer denken muss - all das fand ich furchtbar. Ich fragte meine Kollegen, ob sie eigentlich glücklich seien. Das sollten Sie Designer mal in Interviews fragen! Die Antwort ist, sie sind unglücklich. Das Problem ist, dass man in der Modewelt von heute als Kreativer auch Manager sein muss. Creative Director ist ein komplexer Titel. In dieser Position soll man kreativ sein, muss sich aber gleichzeitig mit jedem Problem des Unternehmens befassen. Dabei geht viel Energie verloren."
Musik
"Die roten Haare. Flammengleich. Dazu der grell geschminkte Mund - wie eine offene Wunde", schwärmt Manuel Brug in der Welt: "Die italienische Sirene mit der gellenden, schnarrenden Stimme, die aber auch so wunderbar flehen wie flüstern konnte. Von herausfordernder Erotik, selbstbestimmt, mit ihrer offensiv ausgestellten Sexualität spielend. ... 'Ganz Frau und trotzdem frei zu sein', das war schnell irgendwie auch ihr Motto - und mehr noch das ihrer zahlreichen Anhängerinnen. Die selbstständige Frau, die ihre weiblichen Attribute nicht versteckt. Ein Idealbild im beginnenden Geschlechterkampf der BRD: Schlager als Abbild gesellschaftlicher Veränderungen. Und Milva mittendrin!" Hier ihr Stück "Zusammenleben", das sie 1978 gemeinsam mit Mikis Theodorakis sang und dem die von Brug genannte Zeile entspringt:
Weitere Nachrufe in der NZZ, FAZ und im Tagesspiegel.
Außerdem: Für die FAS spricht Helena Raspe mit Danger Dan über seinen "Kunstfreiheit"-Song. Besprochen werden Nils Frahms bereits 2009 aufgenommenes, aber erst jetzt erschienenes Album "Graz" (taz), Girl in Reds Debütalbum "If I could make it quiet" (taz) und Stephanie Nilles' Album "I Pledge Allegiance To The Flag - The White Flag", auf dem die Sängerin und Pianistin Musik von Charles Mingus bearbeitet (NZZ). Hier ihre Version von "Goodbye Pork Pie Hat":