Efeu - Die Kulturrundschau

Alleine zum Apfel

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06.12.2019. Kurz vor der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke kocht die Diskussion noch einmal hoch: Im Tagesspiegel erinnert der Historiker Ludwig Steindorff Handke daran, dass gerade Milošević der Totengräber des Vielvölkerstaats war. In der SZ sekundiert die Historiker Marie-Janine Calic. Die NZZ wundert sich über die eigenartige links-rechte Konstellation, die Handke bis heute verteidigt. Die NZZ stellt die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao vor. Die SZ erliegt der Schönheit und Wollust von Baldung Griens Hexen. Der Tagesspiegel empfiehlt wärmstens eine Berliner Retrospektive mit Werken von Kenji Mizoguchi.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2019 finden Sie hier

Literatur

In Stockholm findet heute um 13 Uhr die internationale Pressekonferenz zum Literaturnobelpreis statt, womit die Veranstaltungen rund um die offizielle Verleihung am kommenden Dienstag ihren Anfang nehmen. Im Tagesspiegel korrigiert der Historiker Ludwig Steindorff aus diesem Anlass einige Darstellungen Peter Handkes zur Geschichte Jugoslawiens, etwa diejenige, dass die Staatsgründung "gegen das Hitler-Reich" erfolgt sei, wie Handke sagt. Und er hält Handke entgegen, dass gerade Milošević der Totengräber des Vielvölkerstaats war: "Er hat, gestützt von den national mobilisierten Teilen der serbischen Gesellschaft, bereits im März 1989 den Konsens über die Verfassung Jugoslawiens mit der faktischen Aufhebung der Autonomie des Kosovo schwer beschädigt. ... Es waren Milošević und seine politischen Verbündeten, die eine Umwandlung Jugoslawiens in eine Konföderation, in einen 'Bund souveräner Staaten', Ende 1990 verhindert haben."

Dem stimmt auch die Historikerin Marie-Janine Calic in der SZ zu: Handke habe sich in seinen Projektionen verrannt, denn "Milošević wollte Jugoslawien zwar erhalten, aber nur unter seinen Bedingungen. Er wollte einen Staat, in dem Serbien allen anderen die Bedingungen diktiert. ... Er fürchtete, sie würden in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zu Minderheiten, wenn Jugoslawien zerfiel. Als es dann doch dazu kam, wollte er die Grenzen so ändern, dass alle Serben in einem Staat blieben. Aber es war rechtlich und praktisch unmöglich, die Grenzen nach ethnischen Kriterien neu zu ziehen, so vermischt wie die Völker lebten. Richtigerweise müsste man sagen: Jugoslawien wurde nicht mit Milošević begraben, sondern bereits, als er an die Macht trat."

Der von Handke verbreitete Dichterschmock um ein der schnöden Warenwelt enthobenes Jugoslawien entsprach linken Mythen um das Land und so kam es zu der ganz eigenartigen links-rechten Konstellation, die Handke bis heute schützt, schreibt Andreas Breitenstein in einem NZZ-Essay über Handkes Verrat an der eigenen Poetik: "In dem Streit, der Mitte der neunziger Jahre um Handkes provozierende Parteinahme für Milošević und dessen großserbischen Feldzug losbrach, waren es denn auch Linke wie Elfriede Jelinek, Michael Scharang, Lothar Baier, Adolf Muschg und Peter Turrini, die ihm, prinzipiell vom Geist der jugoslawischen Utopie erfüllt, aber von genaueren Kenntnissen oft unbelastet, die Stange hielten."

Die FAZ widmet Handke eine matte erste Feuilletonseite und versammelt Notizen ihrer Kritiker zu einzelnen Werksaspekten. Andreas Platthaus kommt auf Handkes Facette als "Zeuge" und damit auf seine Schriften zu Jugoslawien zu sprechen: Handke habe am Ende nur noch sich selbst als Pubikum gesehen: "Ein Spiegelbild widerspricht nicht. Aber so bequem wird er es nie haben, darf er es sich auch nie machen." Die Presse kennt das Programm für Peter Handke in den kommenden Tagen. Im Kulturpodcast rollt Dlf Kultur die Nobelpreisdebatten der letzten Wochen nochmal auf. In der Wiener Zeitung resümiert Andreas Tesarik nochmal die ganze Debatte um Handke.

Weiteres: In noch unerschlossenen, im Bundesarchiv einlagernden Dokumenten, die in den 30ern von der Gestapo beschlagnahmt wurden, könnten sich Kafka-Handschriften befinden, schreibt der Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch in der SZ. Der Tagesspiegel bringt ein episches Gespräch mit dem Comiczeichner Robert Crumb. Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von der Aufzeichnung der letzten Sendung des "Literarischen Quartetts" mit Volker Weidermann und Christiane Westermann (die besprochenen und vorgestellten Bücher finden Sie hier). In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wieland Freund daran, wie Lord Byron 1810 buchstäblich ins eiskalte Wasser sprang.

Besprochen werden unter anderem eine Neuausgabe von Ronald M. Schernikaus "Legende" (FR), Hannelore Cayres Krimi "Die Alte" (Dlf Kultur), Maja Lundes "Über die Grenze" (Tagesspiegel), Lauren Groffs Erzählungsband "Florida" (Zeit), Carl Nixons Erzählungsband "Fish 'n' Chip Shop Song" (SZ) und Nicola Attadios Biografie über die Journalistin Nellie Bly (NZZ).

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Archiv: Literatur

Film

Szene aus Mizoguchis "Street of Shame", 1956

Das Berliner Kino Arsenal ehrt den japanischen Meisterregisseur Kenji Mizoguchi mit einer großen Retrospektive. Seine bekanntesten Filme - meist in der japanischen Vergangenheit angesiedelt - sind die für sein Gesamtwerk eher untypischen, schreibt Lukas Foerster im Tagesspiegel: Üblicherweise spielen Mizoguchis Filme "in Städten und in oder nicht allzu weit entfernt von der Gegenwart; und sie erzählen Geschichten von Frauen. Von Prostituierten, Geishas und Schauspielerinnen, von den Härten weiblicher Biografien am unteren Ende der sozialen Stufenleiter, wo Sexarbeit und Bühnenentertainment, als zwei Formen der Monetarisierung von Körpern, kaum voneinander zu trennen sind. ... Gerade heute, wo weibliche Rollenbilder mit Handlungsmacht eingefordert werden, als würden imaginäre Lösungen auf der Leinwand die realen Probleme beseitigen, lohnt es sich, ein Werk zu entdecken, das die Bedingungen weiblicher Hilflosigkeit ins Bild setzt. Das Leid, von dem die Filme erzählen, ist systemisch."

Auch Robert Wagner schreibt auf critic.de über die Melodramen Mizoguchis, in denen "das Individuum gegen die Gesellschaft steht, die Moderne gegen die Tradition, die Freiheit gegen die Pflicht, die Aussicht auf Glück gegen eine Welt, in der ein solches nicht möglich ist. ... Bei dieser Konzentration auf Stil und Leid sollte jedoch nicht der Witz unter den Tisch fallen, der ebenfalls in Mizoguchis Filmen steckt. Anders als bei Ozu ist dieser nicht versöhnlich und verspielt. Garstig ist Mizoguchis Witz, bitter, fatalistisch und … implizit. Dem Erhabenen und Eleganten seiner Filme haftet dadurch etwas Giftiges an. Das teilweise esoterische Leiden erhält so einen Bruch, der verhindert, dass die Schönheit ins Triste umschlägt." Arte hat einen Videoessay über Mizoguchi online:


"Ich habe die Tendenz, Städte romantisch zu filmen", räumt Woody Allen im Standard-Interview über seinen neuen, in der SZ auch von Fritz Göttler hymnisch besprochenen Film "A Rainy Day in New York" (hier bereits mehr dazu) ein. "Das New York von Spike Lee ist natürlich anders. Ich sehe es idealisiert. Mit den Farben und dem Licht, das ich auswähle, kann der Stadt selbst ein Regentag nichts anhaben. Das würden viele anders sehen. Sie würden darüber fluchen, dass sie keine Taxis bekommen."

Weiteres: In Mannheim diskutierten Betreiber kommunaler Kinos über die Zukunft ihrer Branche, berichtet Daniel Kothenschulte in der FR. In der FAZ gratuliert Andreas Kilb dem Filmemacher Alain Tanner zum 90. Geburtstag. Vinzenz Hediger schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser.

Besprochen werden Marco Tullio Giordanas Drama "Nome di donna" über einen Fall sexueller Belästigung in den 90ern (Tagesspiegel, FAZ), Markus Schleinzers "Angelo" über einen afrikanischen Jungen, der im 18. Jahrhundert nach Wien verschleppt wird (Zeit) und die Serie "Dolly Parton's Heartstrings" (NZZ).
Archiv: Film

Architektur

Tatiana Bilbao, "Ways of life", 2017, detail. Foto: Tatiana Bilbao Estudio


In der NZZ stellt Ulf Meyer die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao vor, die für Arme genauso gut baut wie für Reiche. Das Louisiana-Museum widmet ihr gerade eine Ausstellung. "Das untere Ende von Budgets im Wohnbau hat Bilbao in ihrer früheren Tätigkeit als Mitarbeiterin des Bauministeriums kennengelernt. Sieben Millionen Kleinsthäuser hat es aus dem Boden der Vororte mexikanischer Metropolen gestampft, ohne Straßenlaternen, Parks, Spielplätze oder ÖV-Anschluss. ... Sie bieten typischerweise knappe 43 Quadratmeter Fläche. Mit kleinen Tricks beim Entwurf hat Tatiana Bilbao die Wohnfläche auf 60 Quadratmeter vergrößert. Die Maisonnette-Räume der 'Vivienda Popular', gebaut mit einfachen Gasbeton- und Adobe-Steinen, dienen als Schlafräume über Küche und Bad. Ein überdachbarer Außenraum erweitert den Wohnraum visuell und wertet das Haus als Ganzes auf. Dieses Prinzip der Raumerweiterungen hatte sie bei ihren Villen erstmalig erprobt..."

Weiteres: Inna Hartwich berichtet für die NZZ aus Moskau, wo das Basler Architekturbüro Herzog und de Meuron ein altes Brauereigelände in eine Siedlung auf Stelzen verwandeln - gegen den Widerstand der Einheimischen, die allen Beteuerungen zum Trotz nicht glauben, dass dies am Ende nicht doch nur ein weiteres Ghetto für Reiche wird.
Archiv: Architektur

Bühne

Besprochen werden Nicolas Stemanns Märchenshow "Schneewittchen Beauty Queen" in einer "Version für Erwachsene" am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik), Faustin Linyekulas Choreografie "Congo" im HAU in Berlin (Berliner Zeitung), Stephan Kimmigs den den weiblichen Opfern des trojanischen Krieges gewidmetes Sprechkonzert "Hekabe" am Deutschen Theater Berlin (das SZ-Kritiker Peter Laudenbach unterkomplex findet), Mateja Kolezniks Inszenierung von Maria Lazars Einakter "Der Henker" im Wiener Akademietheater (das Ronald Pohl im Standard als "tolle Probe dramatischer Minimalart" feiert, nachtkritik, SZ) und Gabriel Faurés "Pénélope" an der Oper Frankfurt (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Hans Baldung, Frauenbad mit Spiegel


Kia Vahland streift für die SZ durch die Kunsthalle in Karlsruhe, voller Bewunderung für die schönen wollüstigen unkontrollierbaren Hexen, die Baldung Grien gemalt hat. Überhaupt war Grien "der Actionkünstler der deutschen Renaissance", stellt sie fest, was man in der Ausstellung gut nachvollziehen könne: "Eva treibt es nun alleine zum Apfel, Adam ist nicht dabei. Ein Stallknecht kann ein Pferd kaum zähmen, Blut pocht in den Adern des Hengstes, er möchte losgaloppieren. Und zu sterben für eine gute Sache, das ist für Baldung Griens Heiligen Sebastian wirklich eine Qual. Baldungs Drastik findet sich in profanen und sakralen Sujets gleichermaßen. Für die Freiburger Kartause bemalt er Glas, und sein 'Ecce Homo' erhält Krampfadern. Porträts sind nicht schmeichelhafter: Es gibt einen Kleriker mit zu eng stehenden Augen, einen Altgläubigen mit riesiger Nase und grummelnder Miene."

Weiteres: Philipp Meier fragt sich in der NZZ, warum so viele Menschen inzwischen zur Art Basel nach Miami pilgern. In der Berliner Zeitung meldet Ingeborg Ruthe den Tod des Ausstellungsmachers Manfred Schneckenburger, unter dessen Leitung die Documenta einst zum "Weltkunst-Ereignis" wurde.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Splicing Block" des kanadischen Künstlers Stan Douglas in der Julia Stoschek Collection Berlin (taz), eine Technicolor-Ausstellung des Fotografen Florian Maier-Aichen in der Salzburger Galerie Nikolaus Ruzicska (Standard) und die Ausstellung "Wolfgang Gurlitt. Zauberprinz" im Lentos Kunstmuseum in Linz ("Sieht man von den ausgestellten Schauwerten ab, fällt sogleich auf, wie nonchalant die weniger glamouröse Rolle dieses wendigen Mephistos abgehandelt wird", kritisiert Alexandra Wach in der FAZ)
Archiv: Kunst

Musik

Im Interview mit dem Standard spricht der Pianist Igor Levit über Beethoven, dem er sich gerade eingehend widmet. Von Nibelungentreue gegenüber dem Werk hält er freilich wenig: "Niemand sollte irgendwem dienen, außer vielleicht der Verfassung! Das Verneigen vor etwas liegt mir nicht." Zwar ist es "toll, zu studieren, wer wie war und was er getan hat. Aber ich rede lieber über das Heute, über Eigenverantwortung statt darüber, auf wen ich mich beziehe, der vielleicht nicht mehr am Leben ist. Muss ich aus Dokumenten oder Briefen eruieren, was emotional in einem Komponisten vorging, als er dieses oder jenes geschrieben hat? ... Ich versuche, viel zu lesen, bin neugierig. Ich muss aber als freier Mensch bereit sein, sagen zu können: Ich höre etwas ganz anderes als das, was mir die Dokumente sagen."

Weiteres: In der NZZ unterhält sich Marcus Stäbler mit dem Geiger Gidon Kremer über den Komponisten Mieczysław Weinberg, der am Sonntag 100 Jahre alt geworden wäre. In der SZ gratuliert Alexander Menden Tom Waits zum 70. Geburtstag, den der Musiker morgen feiert. In der taz würdigt Jens Uthoff das Art Ensemble of Chicago, das auf 50 Jahre gemeinsamen Schaffens zurückblicken kann und sich selbst mit einem neuen Album feiert. Wir hören rein:



Besprochen werden Rins neues Album "Nimmerland" (Zeit), ein Kim-Wilde-Konzert (FR) und das neue Album der Hamburger Rapper Deine Freunde (taz).
Archiv: Musik