Efeu - Die Kulturrundschau

Zerhackt und ratlos

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28.03.2022. Will Smith lässt mit einer Ohrfeige für den Moderator die Oscar-Nacht entgleisen, bei der vor allem die Streaming-Dienste Trophäen einheimsen. Im Kuntsmuseum Den Haag erlebt die FAZ verstört die aufklärerischen Obsessionen von Boris Lurie und Wolf Vostell. Das Van-Magazin weiß, wie Wladimir Putin Valery Gergievs Treue zu belohnen beabsichtigt. In der Zeit erschrickt Lukas Bärfuss über die Entwertung der Sprache durch den Krieg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2022 finden Sie hier

Film

"Coda" gewinnt den Oscar für den "besten Film" (Apple)

Die Oscars sind vergeben - hier alle Auszeichnungen mit den Dankesreden auf einen Blick. Es war eine Erfolgsnacht für die Streamer (siehe dazu auch Andreas Busches Vorabbericht im Tagesspiegel): Die "Beste Regie" geht an Jane Campion für den auf Netflix gezeigten Anti-Western "Power of the Dog" (unsere Kritik), als bester Film wird die Apple-Produktion "Coda" (mehr dazu hier) ausgezeichnet, ein Remake des französischen Films "Verstehen Sie die Béliers?" von 2014, was in der Oscarnacht rätselhafterweise unerwähnt blieb. Die meisten Auszeichnungen (allerdings vorrangig in technischen Kategorien) gingen an Denis Villeneuves "Dune" (unsere Kritik). "Power of the Dog" ging mit Nominierungen im zweistelligen Favorit als haushoher Favorit in den Abend, es blieb allerdings bei der einen Auszeichnung für Campion, "Coda" hingegen schaffte es, alle drei Nominierungen erfolgreich umzusetzen. "Hollywood's paranoia towards Netflix has led to an Oscar for a movie that was never shown in cinemas all over the world", kommentiert dazu der Filmkritiker Patrick Wellinski entgeistert auf Twitter, dessen Live-Kommentierung der letzten Nacht ohnehin lesenswert ist. "Übrigens haben wir bei Apple wegen einem Screening von CODA bei der Oscarnacht angefragt und eine Absage kassiert, weil sie den Film nicht für Kinoscreenings freigeben", kommentiert ebenfalls auf Twitter das Wiener Gartenbaukino.

Um die Welt ging allerdings eh ein anderer Moment: Nachdem Chris Rock das Publikum in typischer Oscar-Manier aufs Korn genommen hatte, stürmte Will Smith - der später als "bester Hauptdarsteller" ausgezeichnet wurde (siehe dazu Adrian Daubs Vorabporträt auf ZeitOnline) - die Bühne und ohrfeigte den Comedian vor Live-Kameras, weil er meinte, seine Frau, die Schauspielerin Jada Pinkett Smith, vor den (allerdings auch ziemlich giftigen) Frotzeleien in Schutz nehmen zu müssen.



Ein vorab verabredeter Gag? Offenbar nicht, wie der Hollywood Reporter berichtet und auch Variety nahelegt. Auch in der "Highlights 2022"-Sektion taucht der Moment nicht auf, was ebenfalls für eine Entgleisung spricht. Von einem "toxischen Gewaltakt" spricht Patrick Wellinski auf Twitter. In seiner unter Tränen gehaltenen Dankesrede für seinen Oscar spricht Smith davon, dass auch der von ihm im Sportdrama "King Richard" verkörperte Richard Smith "ein furchtloser Verteidiger seiner Familie war" und dass "Liebe einen verrückte Dinge tun" lasse. "Selten zuvor hat sich die Scheinheiligkeit Hollywoods derart frappant offenbart", kommentiert Peter Huber in der Presse. "Smith stellte sich als Kämpfer für die Liebe dar, obwohl er nur Minuten zuvor gewalttätig geworden war."

Im Vorfeld heiß diskutiert war die Tatsache, dass einige Auszeichnungen vorab stattfanden und aus der TV-Gala ausgelagert wurden. "Kompakter, dramaturgisch geglückter erschien der Abend dadurch nicht, die Veranstaltung wirkte vielmehr zerhackt und ratlos, ein seltsames Potpourri aus müden Witzen und bemühten Einlagen", schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard.

Weitere Artikel: Im Standard sprechen der Regisseur Ulrich Seidl und der Schauspieler Michael Thomas über ihren neuen Film "Rimini". Für ZeitOnline berichtet Dirk Peitz von seiner Zoom-Begegnung mit dem Filmemacher Mike Mills, dessen "Come On, Come On" eben in den hiesigen Kinos angelaufen ist (mehr dazu hier). Die FAZ hat Marc Zitzmanns Empfehlung für den cinephilen Streamingdienst La Cinetek online nachgereicht. Andreas Scheiner berichtet in der NZZ von der Vergabe des Schweizer Filmpreises, bei der Elie Grappes "Olga" als Vorab-Favorit den Abend abräumte.

Besprochen werden Alina Gorlovas ukrainischer Dokumentarfilm "This Rain Will Never Stop" (taz, mehr dazu bereits hier und dort) und die auf AppleTV gezeigte, koreanische Serie "Pachinko" (taz).
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Literatur

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss kann es in der Zeit nicht fassen: Soll das wirklich er selbst gewesen sein, der noch vor einem halben Jahr in Odessa zu Besuch war und rege am Kulturleben und Debatten teilnahm? "Ein 'Ich' zu behaupten, in der ersten Person Singular einige Erfahrungen mitzuteilen, die dieses 'Ich' gemacht haben will, das ist heute obszön. Zu viel wurde in der Zwischenzeit zerstört. Es gibt keine Haltung, mit der sich die Differenz fassen ließe, außer natürlich jene des Leidens, des Verlustes, des Schmerzes, aber mit welchem Recht könnte sie in diesen Tagen eingenommen werden, da Tausende einen sinnlosen Tod sterben? Es ist nicht die Zeit für sprachphilosophische Feinsinnigkeiten. Allein die Grammatik ist eine Anmaßung: Wie kann man in der Vergangenheit reden, im Präteritum, wenn über Millionen die Gegenwart hereinbricht in Form von Bomben, von Feuer, Vertreibung und Tod? Die Sprache selbst ist durch den Krieg entwertet."

In der FAZ spricht der ukrainische Literaturwissenschaftler Petro Rychlo über die Geschichte der russischen Anmaßungen und Überheblichkeiten gegenüber der Ukraine - und über die Absurdität dessen, dass Putin mit seinen Bombardements unter dem Vorwand der "Entnazifizierung" gerade den russischsprachigen Teil der Bevölkerung schwer trifft und "entrussifiziert". Dass das Russische aus der Ukraine verschwindet, glaubt er nicht. "Gerade in der Literatur wird es für manche nicht möglich sein, zum Ukrainischen zu wechseln. Dichten kann man nur in der Muttersprache. ... Andrej Kurkow in Kiew schreibt auf Russisch, aber er versteht sich als ukrainischer Schriftsteller. Niemand in der Ukraine hat etwas dagegen. Wenn die russischsprachigen Ukrainer sich als Patrioten dieses Landes verstehen und zu seiner Entwicklung beitragen, dann können sie das selbstverständlich auch in russischer Sprache tun. Aber die russische Sprache darf in der Ukraine nicht mehr Trägerin eines imperialen Modells sein."

Weitere Artikel: In der Zeit erinnert die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk an die Zeit vor etwa hundert Jahren, als Russland schon einmal die Ukraine überfiel und etwa in Wien hunderte ukrainischer Flüchtlinge ankamen, die dort auch das intellektuelle Leben prägten - ein Szenario, über das sie auch in ihrem Roman "Blauwal der Erinnerung" geschrieben hat. Die NZZ bringt die 19. Folge von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw, in der er über den ukrainischen Patriotismus nachdenkt. Auch die 20. Folge steht schon online. Wer Putins Gedankenwelt wirklich durchdringen will, sollte Turgenjews "Aufzeichnungen eines Jägers" lesen, rät Hans Christoph Buch in der NZZ. Für den Standard spricht Bert Rebhandl mit Phil Klay über dessen neuen, von der Gewaltgeschichte Kolumbiens handelnden Roman "Den Sturm ernten". Bei der Lit.Cologne "war die Stimmung, um Karl Lauterbach zu zitieren, besser als die Lage", resümiert Oliver Jungen in der FAZ, "und das tat gut, setzte der wachsenden Depression etwas Hoffnung entgegen." In seiner Pasolini-Reihe für den Standard wirft Ronald Pohl einen Blick auf die Grundsatzartikel des italienischen Schriftstellers und Filmemachers.

Besprochen werden unter anderem Szczepan Twardochs "Demut" (Standard, NZZ), neue Bücher von Peter Handke und Martin Walser (Standard), Jan Bazuins "Tagebuch eines Zwangsarbeiters" (NZZ), Bastien Vivès' und Martin Quenehens Comic-Hommage "Corto Maltese - Schwarzer Ozean" (Tsp), Nino Haratischwilis "Das mangelnde Licht" (FR), der von Gaetano Biccari herausgegebene Band "Pier Paolo Pasolini in persona" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Beatrice Alemagnas "Der kleine große Augenblick" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Marina Zwetajewas "Weiße Sonne":

"Weiße Sonne und niedrige, niedrige Wolken wie Zeichen,
Die Gärten, der Friedhof - vom Weiß einer Mauer umgrenzt,
Und auf dem Sand..."
Archiv: Literatur

Kunst

Wolf Vostell: Ihr Kandidat, 1961. Bild: Kunstmuseum Den Haag


Ziemlich gefordert wurde FAZ-Kritiker Georg Imdahl in der Doppelausstellung "Kunst nach Auschwitz", die das Kunstmuseum Den Haag den beiden befreundeten Künstlern Boris Lurie und Wolf Vostell widmet. Ihre Werke zielten frontal auf ein zur Verdrängung neigendes Publikum, wie Imdahl schreibt: "Es sind Bilder, Collagen und Objekte, die dem Publikum einiges zumuten, sie stellen Gewalt und Pornographie dar, verführen zu einem Voyeurismus, den sie zugleich brüsk zurückweisen und als pervers demaskieren, sind Ausdruck einer aufklärerischen Obsession, die einer versöhnlichen Läuterung den Weg abschneidet. Man möchte weder hinschauen noch wegschauen. So lassen die verstörenden Werke ihre Betrachter, darunter viele Jugendliche, in einer Verhaltenheit zurück, die mit Händen zu greifen ist."

Hanno Hauenstein trifft für die Berliner Zeitung den Künstler Kang Sunkoo, dessen zweite "Statue auf Limitation" nun am Berliner Nachtigalplatz errichtet wurde. Die erste steht im Humboldforum und prangert den nachlässigen Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte an.
Archiv: Kunst

Bühne

Auch Valery Gergiev ist wieder aufgetaucht. Gesichtet wurde er von VAN-Redakteur Hartmut Welscher in einem Videogespräch von Putin mit Kulturschaffenden. "Putin regte darin die Zusammenlegung des St. Petersburger Mariinsky-Theaters mit dem Bolschoi-Theater in Moskau unter ein gemeinsames Direktorat an. Die Idee passt sich nahtlos ein in Putins Geschichtsrevisionismus und sein aus dem Erbe des Zarentums abgeleitetes Selbstverständnis: Bereits vor der Oktoberrevolution 1917 unterstanden die beiden größten und prestigeträchtigsten Bühnen Russlands einer Art Generalintendanz. Und Putin ließ im Gespräch mit Gergiev keinen Zweifel, wen er sich für diesen neu geschaffenen Posten wünscht." Ein nicht unwesentliches Detail erwähnt Welscher auch: "Der 'Noch'-Intendant des Bolschoi, Wladimir Urin, hatte sich hingegen schon zwei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in einem Offenen Brief gegen den Krieg gestellt."

Armin Petras' "Auferstehung". Foto: Arno Declair / Deutsches Theater


Armin Petras hat am Deutschen Theater Leo Tolstois letzten Roman "Die Auferstehung" coronabedingt mit einigen Monaten Verspätung auf die Bühne gebracht. Der Roman erzählt vom langen Weg des Fürsten und Lebemanns Nechljudow erzählt, der seine frühere Geliebte unschuldig ins Straflager bringt und nun Vergebung sucht. Die pittoreske comicartige Szenerie lässt Nachtkritikerin Simone Kaempf so ratlos zurück wie die "harmlos russisch-folkloristischen" Bilder. In der Berliner Zeitung bemerkt Doris Meierhenrich zwar, dass Petras' "schwer-leichte Verspieltheit" nicht recht zündet, will das aber nicht der Inszenierung ankreiden: "Geschickt, wie Petras dem durchaus auch sentimentalen Wandlungsdrama des Romans jede einfühlende Psychologie entzieht, stattdessen in verschiedensten Schattierungen eine Art lebendiges Pappfiguren-Theater stattfinden lässt." Im Tagesspiegel kann Rüdiger Schaper dagegen gar nicht glauben, wie ein Regisseur Tolstoi dermaßen entschärfen kann: "Nur peinliche Klischees", ätzt Schaper: "Die Musik dröhnt, Technoparty im Straflager. Eine junge Schauspielerin zieht sich aus, muss sich ausziehen - Regieeinfall! - und beschmiert sich mit roter Farbe. Man glaubt zu träumen. In welcher Welt lebt dieser Regisseur? Ist das nur schief und misslungen oder vielleicht ein zynischer Kommentar zur russischen Invasion und Barbarei in der Ukraine, vor deren Botschaft um die Ecke, nahe dem Deutschen Theater, Blumen abgelegt werden und Kerzen brennen? Sah keiner im Haus das Desaster kommen?"

In der Welt bedauert Manuel Brug, dass Münchens Gärtnerplatztheater vor der halböffentlichen Aufregung eingeknickt ist und auf das angedeutete Blackfacing in Ernst Kreneks Oper "Jonny spielt auf" künftig verzichtet.

Besprochen werden René Polleschs Stück "Geht es dir gut?" an der Berliner Volksbühne (das erste sehenswerte am Haus in dieser Saison, meint Barbara Schweizerhof in der taz, SZ, FAZ), Michael Thalheimers Inszeneirung von Wolfgang Borcherts Kriegsstück "Draußen vor der Tür" am Berliner Ensemble (das Simon Strauß in der FAZ für gescheitert hält, SZ).die Münchner Ballettfestwoche (SZ), Ersan Mondtags Inszenierung von Heinrich Marschners Oper "Vampyr" in Hannover (SZ), Jetse Batelaans Stück "Tanz ist tolle rhythmische Bewegung zu Musik" im Frankfurter Mousonturm (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Will Markus Söder mit seiner vorgeschlagenen "Denkpause" für das geplante neue Münchner Konzerthaus die Idee im Stillen abwickeln? Das wäre fatal, meint Kurt Kister im SZ-Kommentar: "München ist nun einmal in einer Hinsicht wirklich Weltstadt: Es gibt drei Spitzenorchester in München, die Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) und das Orchester der Bayerischen Staatsoper. ... Ein neues Konzerthaus, ein bleibendes Kulturzentrum stünde München außerordentlich gut zu Gesicht." Schließlich ist "München in Deutschland wegen seiner nicht nach Bauten benannten Orchester und der Vielfalt der hier gastierenden Ensembles und Solisten die bedeutendste 'Klassikstadt' für Menschen, die diese Musik hören und sehen wollen. Die bedeutendsten Orte für diese Musik aber gibt es nicht in München."

Weitere Artikel: Traurig beobachtet Klaus Walter in der FR, dass "Grenzüberschreitung, Befreiung, Ekstase" als einstige hedonistische Inbegriffe linker Popkultur seit geraumer Zeit von der Rechten gekapert werden. Clemens Haustein freut sich in der FAZ darüber, dass bei der Berliner Maerzmusik in diesem Jahr wieder mehr die Musik statt Diskussionsformate im Mittelpunkt standen. Nachrufe auf den überraschend verstorbenen Foo-Fighters-Schlagzeuger Taylor Hawkins schreiben Jakob Biazza (SZ), Torsten Groß (ZeitOnline) und Harry Nutt (FR). In der FR plaudert Arne Löffel mit DJ Richie Hawtin über dessen Zusammenarbeit mit Chilly Gonzales. Wir hören rein:



Besprochen werden Cypress Hills Comeback-Album "Back in Black" (Standard), ein Frankfurter Abend mit Diana Damrau, Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch (FR) sowie neue Popveröffentlichungen, die sich mit dem alten Westberlin auseinandersetzen oder aus dessen Geist hervorgegangen sind (taz).
Archiv: Musik